Kapitel 07 - Schuld


EVA-04

Larsen hatte einen Plan. Er hatte eine Taschenlampe. Er hatte eine Waffe. Er hatte
panzerbrechende Hochgeschwindigkeitsexplosivmunition im Magazin. Und er hatte
50cm...

Sein Gegner war ein quallenförmiger Engel, der EVA-04 unter sich begraben hatte,
dessen Auge sich direkt über der Kopf-Sektion befand, und der bisher vergeblich
versucht hatte, mit EVA-04 zu verschmelzen.

Viel Glück. flüsterte die Stimme des EVAs, als Larsen sich durch die Ausstiegs-
luke der Kontrollkapsel zwängte und fallen ließ.

Zwischen dem Schädel der EVA-Einheit und dem gefrorenen Erdboden waren etwa 40cm.
Larsen kroch auf dem Bauch nach rechts, ohne die Taschenlampe wäre es stockfinster
gewesen, wahrscheinlich hätte er früher oder später das Schutzfeld des EVAs pas-
siert und mit dem Engel engeren Kontakt gemacht, als ihm lieb gewesen wäre.
Er hätte in der Kapsel bleiben und auf die Hilfe der anderen drei EVA-Einheiten war-
ten können, doch hatten die anscheinend ihre eigenen Probleme.

Er erreichte die Begrenzung des Feldes, setzte sich auf. Jenseits des Feldes pul-
sierte die Unterseite des dunkelgrünen Engels.

Am Halsbereich war die Panzerung der EVA-Einheit angerauht, für den Kundigen
fand sich hier eine primitive und unsichere Leiter. Larsen griff nach der ersten
´Sprosse´, zog sich hoch.
Mit der rechten Hand tastete er nach der nächsten Sprosse, hing bald kopfüber an
der Nackenpartie des EVA, zog sich Stück für Stück vorwärts, die Füße gegen eine
Sprosse gestemmt, während er mit einer Hand den nächsten Halt suchte, die Ta-
schenlampe in den Gürtel gehakt, dabei gingen leichte Vibrationen durch den Kör-
per des EVAs, da dieser immer noch versuchte, sich mittels seiner Prog-Klingen
freizuschneiden.

Irgendwann, eine Ewigkeit später, kletterte er endlich aufwärts, das ging leichter.
Schließlich kroch er auf der Oberseite seines EVA unter das Kinn in eine sitzende
Stellung. Schweratmend gönnte er sich eine Pause.

EVA-04?

Ja? kam es von unendlich weit her.

Status?

Unverändert.

Gut.

Er zog seine Waffe, entsicherte sie, legte sie auf seinen Unterschenkel. Metall lag
auf Metall, nur von der Stoffschicht seiner Pilotenkombination getrennt.
Warum hat NERV mir eigentlich noch keine Plug-suit verpaßt?

Er hakte die Taschenlampe los, klemmte sie sich zwischen die Knie.

Es geht los.

Bereit.

Larsen schaltete die Taschenlampe ein. Ein blendend heller Lichtstrahl schoß durch
die Dunkelheit und traf ein riesiges Auge, das sich direkt über Larsen befand. Dieser
ergriff den Revolver mit beiden Händen, riß die Arme nach oben und feuerte sein Maga-
zin leer...


***


Unvermittelt bäumte sich der quallenförmige Engel, unter dem EVA-04 verschwunden war,
auf, dann noch einmal, insgesamt sechzehnmal. Dann setzte die EVA-Einheit sich auf
und schleuderte den zuckenden Körper von sich herunter.

Bequemerweise kam er mit der verwundbaren Bauchseite nach oben zu liegen.

Gleichzeitig nahm Larsen, der sich am Kinn des EVA festklammerte, die ungestörten
Signale des Steuercomputers wieder wahr.

Die linke Hand des EVA pflückte Larsen vorsichtig von seinem Aufenthaltsort.

Absetzen, dann handeln nach Plan Berserker.

Verstanden.

Larsen rollte sich von der Handfläche, als diese im nächsten Moment ein Stück über
dem Boden hing.

Dann stürzte sich EVA-04 mit rotglühenden Augen und blitzenden Prog-Klingen auf den
Feind, dabei urzeitliche Kampfschreie ausstoßend.

Der Anblick war nicht schön...

Dann endlich kam er dazu, sich nach den anderen EVAs umzusehen.

Er sah nur EVA-01 und -02...


***


Kurz zuvor...

Der zweite Engel hing an EVA-00, begann sich langsam mit diesem zu verbinden.

"Rei, Notauswurf!"

EVA-00 schwankte.

"Verliere die Kontrolle..." rief Rei.

Auf der Oberfläche von EVA-00, wo der Engel mit ihm in Kontakt gekommen war,
bildeten sich Geschwüre, die sogar die Panzerung ausbeulten.

Über die Synchronisationsverbindung glaubte Rei zu spüren, wie die Geschwüre
wuchsen, langsam auf ihren eigenen Körper übergriffen.

"Rei, ich komme!" schrie Shinji.

"Nein, er... ich... er will mit EVA-01 auch verschmelzen. Bleib weg, Shinji, bleib
weg!"

EVA-00 setzte sich in Bewegung, auf Einheit-01 zu.

Warum?

Weil du es willst, antwortete ihr eine singende Stimme aus der Tiefe des Be-
wußtseins ihres EVA.

Rei erkannte die Konsequenzen ganz klar - sie würde sterben, Shinji würde sterben.
Einer genügt. Ihm darf nichts geschehen.

Und sie aktivierte die Selbstvernichtungsschaltung.

"Rei, raus!" schrie Misato.

"Rei!" rief Shinji.

"Shinji", flüsterte Rei.
Ich will bei dir sein.
Tränen liefen über ihre Wangen.
Sind das Tränen? Ich weine? Warum weine ich?

Ein Blitz nahm ihr die Sicht. Dann war da nichts mehr...


***


Nimm mich wieder auf.

Die Hand von EVA-04 senkte sich vor Larsen nieder, er kletterte in die Handfläche,
ließ sich in die Höhe tragen, bis die Hand direkt vor dem Zugang der Steuerkapsel
zum Stillstand kam.

Mehr oder weniger elegant schwang er sich ins Innere, zog dabei die Luke wieder
hinter sich zu.

Status?

Keine weiteren Beschädigung. Verletzung im Kniebereich abgedichtet.

Larsen ließ EVA-04 sich in die Nähe des abgetrennten Unterschenkels schieben,
griff dann danach und brachte ihn in Verbindung mit der Schnittstelle.

Regeneration beginnt. 03% abgeschlossen.

Kabelstränge schossen dem Kniegelenk, verbanden sich mit dem Unterschenkel, zo-
gen ihn näher heran, justierten seine Position.

Larsen vermeinte zu spüren, wie in seinen eigenen Fuß das Leben zurückkehrte.

Was machen die anderen?

Unbekannt. Beim Ausstieg wurde das Funkgerät abgeschaltet.

Also schaltete er es wieder ein.

"Larsen, leben Sie noch?" schrie Misatos Stimme aus dem Interkom.

"Aye, Leutnant Larsen meldet sich zurück, Engel neutralisiert."

Schweigen.

"Ich hatte Probleme mit dem Interkom. Wie sieht es aus?"

Statt Misato antwortete Shinji mit Tränen in der Stimme.
"Wir haben Rei verloren."

In Larsens Brust breitete sich eine unendliche Leere aus...
Er dachte an seine Tochter.
Ich habe kaum ein Wort mit dem First Children gewechselt, doch in ein paar
Jahren wird sie genauso aussehen...


***


Die Explosionsstelle war weitläufig abgesperrt, die drei verbleibenden EVAs zu-
rückbeordert worden. Die Bergungsarbeiten dauerten noch an, doch die Chancen,
irgendetwas lebend zu bergen waren weniger als minimal.

"Asuka, was ist mit dir los? Dein Synchronisationswert fällt."

"..."

"Asuka? Synchronisation bei 75% und fallend!"

"..."

EVA-02 setzte einfach nur einen Schritt vor den anderen, dabei nicht zwangsläu-
fig darauf achtend, ob er nicht durch ein Gebäude lief oder einen verlassenen
Kleinwagen zerstampfte.

"Asuka!" brüllte Misato über Funk.

Auch Larsen, dessen EVA hinter den anderen herhumpelte, versuchte, den Rotschopf
zu erreichen, während Shinji ganz damit beschäftigt war, EVA-01 ans Ziel zu brin-
gen, obwohl er vor Tränen kaum noch etwas sehen konnte.

Rei... Rei-chan...

"...meine Schuld... Ganz allein meine Schuld..." kam Asukas Stimme endlich aus
dem Funkgerät. "Ganz allein... meine Schuld..." Wieder und wieder wiederholte
sie die Worte, monoton, stumpf.

"Synchronisation bei 65%."

"...meine Schuld..."

"Wir gehen auf Fernsteuerung", erklang Gendo Ikaris Entscheidung.

Sofort veränderte sich die Gangart von EVA-02, zielstrebig marschierte er auf
den Startschacht zu.

Larsen barg das Gesicht in den Händen.
Es sind doch nur Kinder...
Vor seinen Augen schwebte das Gesicht seiner Tochter.


***


Asuka reagierte auch dann immer noch nicht, als EVA-02 sich im Hangar in den
Halteklammern befand, sie mußte aus dem Entry-Plug notevakuiert werden. Zu
diesem Zeitpunkt war ihre Verbindung zum EVANGELION komplett erloschen.

Der Rotschopf saß im Pilotensitz und wippte mit dem Oberkörper vor und zurück.
"Meine Schuld... hätte da sein müssen... kam alleine klar... tot... meine Schuld...
nur meine Schuld... kein Spiel..."

Sie wurde auf die Krankenstation gebracht und mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt,
doch ihr Zustand besserte sich nicht...


***


Larsen stieg aus EVA-04, diesesmal klemmte die Zugangsluke nicht. Alles war taub,
farblos.
Der Sieg schmeckte schal...

Vor ihm trottete Shinji. Wolf beschleunigte seine Schritte, der Junge brauchte
jetzt jemanden, der mit ihm sprach, normalerweise hätte dies sein Vater tun
müssen, doch der war nirgends zu sehen.

Dann begann seine Armbanduhr zu piepen.
Das Funkfenster...
Er zögerte.
Der Junge... Die Funkverbindung ist absolut sicher... Ich weiß nicht, wann ich
wieder mit ihr sprechen kann...
Er blieb stehen, ließ Shinji gehen... ließ ihn im Stich...


***


Larsens Apartment

Zerhacker ist eingeschaltete. Dekodierer bereit...
Er schaltete das Bildfunkgerät auf dem Schreibtisch ein, es war das einzige Stück
höherentwickelter Technik in der Wohnung, kein Fernseher, keine Stereoanlage...

Die Verbindung wurde aufgebaut.

Das Bild einer Frau in mittleren Jahren erschien auf dem Schirm. Hinter ihr befand
sich ein Weihnachtsbaum.

Ich hatte versprochen, ihn mit ihr zu schmücken...

"Wolf, wir haben schon auf deinen Anruf gewartet."

"Ja, Schwester. Ist die Leitung sicher?"

Sie nickte. "Wie geht es dir?"

"Es geht. Es muß gehen. Und bei euch?"

"Keine Probleme."

"Ist sie brav?"

"Sie fragt ständig nach dir. Soll ich sie dir geben?"

"Ja, bitte."

Die Frau verschwand aus dem Bild, wurde von einem Mädchen ersetzt, sieben Jahre,
blaues Haar, rote Augen.

"Papa."

Er lächelte und mußte zugleich die Tränen
zurückhalten.

"Papa, du fehlst mir, wann kommst du nach hause?"

"Bald. Ich muß noch etwas erledigen, etwas sehr wichtiges. Verstehst du?"

"Ja." Sie senkte den Blick.

"Sei nicht traurig. In Gedanken bin ich immer bei dir. Du mußt brav sein, ver-
sprich mir das."

"Ja, Papa, ich verspreche es. Komm nur bald heim."

Er streckte die Hand aus, als wollte er dem Kind durchs Haar streichen.
"Frohe Weihnachten, Rei Larsen..."