Kapitel 10 - Was ist Leben?
Gendo Ikaris Büro
"Ritsuko, EVA-04 ist was...?"
"EVA-04 ist keine EVANGELION-Einheit."
Zum ersten Mal seit langer Zeit nahm Gendo seine dunkle Brille ab. Die Raumtempe-
ratur schien um mehrere Grad zu fallen.
"Wie konnte das... Weshalb ist das nicht eher aufgefallen?"
"Die Panzerung ist aus demselben Material, das wir für die anderen Einheiten ver-
wandt haben. Darunter befindet sich eine Gewebeschicht, die mit dem aus ADAM ge-
klonten Gewebe identisch ist, sogar die Hydraulikflüssigkeit ähnelt dem Blut der
EVAs. Unter der Oberfläche handelt es sich jedoch um einen gewöhnlichen Riesenro-
boter, einen modifizierten PALADIN der Alpha-Serie."
"Das ist ungeheuerlich."
"Wir untersuchen gerade die Zugangskapsel. Sogar hierbei handelt es sich um eine
Fälschung. EVA-04 wurde offenkundig durch einen Biocomputer gesteuert, der
Ähnlichkeit mit einer primitiven MAGI-Einheit hat, er wurde zu schwer zerstört,
als daß wir auf seine Daten noch zurückgreifen können. Alles an dieser Einheit war
ein einziger Betrug, sogar die klemmende Einstiegsluke!"
"Aber was ist mit der originalen EVA-04-Einheit geschehen?! Sie muß während des
Transports ausgetauscht worden sein..."
Dr. Akagi schien für den Kommandanten von NERV nicht mehr zu existieren, als er
sich mit dem Büro des Geheimdienstchefs verbinden ließ und diesen anwies, Pilot
Wolf Larsen festnehmen zu lassen - und ja, er autorisierte den Einsatz tödlicher
Gewalt...
"Was soll mit den Resten des Roboters geschehen?" machte Ritsuko sich bemerkbar,
als Ikari in ein tiefes Brüten abzugleiten drohte.
"...Schaff´ die Überreste in einen der Lagerräume, wir kümmern uns später darum."
***
Larsen saß auf der Bank in der hydroponischen Gartenanlage, in die er sich zum
Nachdenken zurückzuziehen pflegte. Seit einem Monat war er gewissermaßen arbeits-
los, die Reperatur von EVA-04 war ganz hinten angestellt worden.
Glücklicherweise hat Shinji sich entschieden, EVA-01 wieder zu verlassen... Armer
Kerl...
In dieser Zeit hatte er täglich Asuka besucht, die immer noch in ihre eigene Welt
von Schuldvorwürfen zurückgezogen war.
Nicht einmal die Nachricht, daß Rei überlebt hat, hat sie erreicht...
Er verbarg das Gesicht in den Händen.
EVA-04 ist zerstört, wenn sie ihn untersuchen, fliegt meine Tarnung auf. Aber ich
darf nicht fort, noch nicht. Wieviele Engel sind es noch? Einer? Zwei? Oder drei?
Er dachte an seine Tochter, die Tochter, die er vor drei Jahren in der Nähe der ex-
perimentellen EVA-Fernsteuerungsanlage auf dem NERV-Stützpunkt in Hamburg-02
gefunden hatte...
Ich bin bald zurück, Schatz... Papa muß nur schnell die Welt retten...
Er unterdrückte ein trockenes Lachen.
Wie armselig...
"Leutnant Larsen?" riß ihn eine sanfte Stimme aus seinen trübsinnigen Gedanken.
Er sah auf.
"Rei!"
Sie stand vor ihm, in ihrer Alltagskleidung, ohne die ganzen Bandagen. Sie wußte,
daß er Kommandant Ikaris Täuschung durchschaut hätte.
"Kann... Darf ich Sie etwas fragen?"
Er rutschte ein Stück zur Seite, hob die Schultern.
"Natürlich."
"Danke."
Sie setzte sich neben ihn.
Ihre Augen sind so lebendig...
"Also?"
"Was ist Leben?"
Er blinzelte.
"Wie meinst du das?"
"Was ist Leben?" wiederholte sie. "Was bedeutet es zu leben?"
Er atmete tief ein.
"Ich weiß nicht, ob ich der Richtige bin, um dir darauf eine Antwort zu geben."
"Ich glaube, Sie können es."
"Hm, eine schwerere Frage hast du nicht auf dem Herzen?"
"Momentan nicht."
"Also gut, was ist Leben... Hm... Leben heißt Kämpfen."
"So wie wenn wir mit den EVAs die Engel bekämpfen?"
Larsen überlegte.
"Nein... und ja, das hängt von der Perspektive ab. Hm, neuer Versuch, ja?"
"Ja."
"Leben heißt Wählen, Entscheidungen zu treffen. Alles, was wir tun, wirkt sich
auf uns, auf andere, auf die Welt aus."
"Ich bin verwirrt."
Er lächelte.
"Wir alle treffen ständig Entscheidungen, gute und schlechte, manche richtig, man-
che falsch. Die Möglichkeit, wählen zu können, ist essentieller Teil des Lebens.
Ein Toter trifft keine Entscheidung mehr. Und wenn alle Entscheidungen für dich
getroffen werden, ist das auch kein Leben. Sieh mal, die Engel wollen den Third
Impact auslösen und dadurch die Menschheit vernichten, dadurch würden sie jedem
Menschen die Möglichkeit nehmen, selbst eine Wahl zutreffen, ob er leben oder ster-
ben will."
"Und das ist falsch?"
"Wenn du mich fragst, ja. Ich würde nie so eine Macht wollen, entscheiden zu können,
ob andere ihre Existenz fortführen oder beenden."
"Aber Sie steuern einen EVA, Sie haben diese Macht."
"Ich kämpfe gegen die Engel, weil es sein muß, gewisserweise wurde mir diese Ent-
scheidung aufgezwungen, ich tue es, um sie aufzuhalten, um es anderen zu ermögli-
chen, selbst noch frei wählen zu können."
"Ich glaube, ich verstehe."
"Ich habe eine Tochter, ich möchte sie aufwachsen sehen, sehen, daß sie glücklich
ist, daß sie ihr Leben selbst bestimmen kann..."
"Ich weiß."
Meine Schwester...
Er sah sie nur an.
"Sie sieht dir sehr ähnlich."
Rei lächelte.
"Ich weiß."
"Du weißt?"
"Ja."
"Irgendwie überrascht mich das nicht."
"Leutnant, darf ich Ihnen eine weitere Frage stellen?"
Larsen nickte.
"Nur zu."
"Was ist Liebe?"
"Oh, je, das ist noch schwerer zu beantworten. Liebe... den anderen zu respek-
tieren, für ihn da zu sein... der Wunsch, mit einem anderen Menschen zusammen sein
zu wollen..."
"Ich glaube, ich bin verliebt."
Er grinste.
"Und wer ist der glückliche? - Der junge Ikari?"
Reis Wangen nahmen einen zarten Rotton an.
"Ja." flüsterte sie.
Larsen setzte zu einer Antwort an, wurde aber von vier bewaffneten Männern in
dunklen Anzügen unterbrochen.
"Leutnant Wolf Larsen, bitte folgen Sie uns, Sie stehen unter Arrest."
Er erhob sich langsam, warf Rei einen letzten Blick zu, lächelte.
"Jeder hat eine Wahl, ich habe meine getroffen."
Die Geheimdienstler versteiften sich in Erwartung eines Ausbruchsversuches, der
aber nicht kam.
"Meine Herren, ich habe Sie schon erwartet. Ich stehe zu ihrer Verfügung."
Er streckte die Hände aus und ließ es zu, daß sie seine Handgelenke aneinanderket-
teten...
