Kapitel 13 - Finale


Larsen drehte sich auf die Seite. Die Neuralimplantate in seinem Schädel dämpften die Schmerzen, die
durch seinen Körper zu toben schienen.
Gendo Ikari hatte ihm in den Bauch geschossen.
Verfluchter Mistkerl.
Er preßte die Hand gegen die Wunde, spürte Dinge, die er lieber nicht bei Licht - und sonst auch
nicht - betrachten wollte.
EVA-04?

Einsatzbereit. Soll ich kommen?

Nein, Status?

EVA-Einheiten-01 und -02 sind gestartet und in Kämpfe verwickelt worden. Die taktischen Anzeigen
sind unklar. Offenbar wurden die Perimetersysteme beschädigt. - Ihre Lebenszeichen fallen rapide, Seraph.

Danke, daß du mich daran erinnerst.
Seine linke Hand tastete blind über den rechten Unterarm, bis seine Finger die kleine Klappe unterhalb
des Ellenbogengelenks fanden und öffneten. Darin befand sich eine Injektorampulle.
EVA-04, Protokollaufzeichnung.

Bereit.

Vermerke bitte, daß ich mir am... gib den Tag und die Uhrzeit an... den auf der EVA-Technologie basieren-
den T-O-Virus injiziert habe.

Meine Sicherheitsprotokolle zwingen mich dazu, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie ein hohes
Risiko eingehen.

Tue ich das nicht, seit ich hier eingetroffen bin?

Vorsichtig entnahm er die Ampulle, riß dann den Stoff seines rechten Hosenbeines auf, öffnete dort eine
weitere Klappe, legte die Ampulle hinein, legte einen Schalter um.

Zischend entleerte sich die Ampulle, der Inhalt wurde durch eine Kanüle direkt in sein Blut abgegeben.
Jetzt gilt es. EVA-04, falls das schiefgeht - wir waren ein gutes Team. Alles war ich brauche, ist Zeit...

Er atmete tief ein und wartete darauf, daß der hochkonzentrierte Techno-Organische Virus sein Werk tat...


***


Irgendwo

"Wir empfangen wieder Signale von Seraph, sie werden ständig stärker."

"PALADIN-Einheiten haben SEELE fast erreicht!"

"Aktivitäten auf der Mondoberfläche, der Longinusspeer!"

"Wie ist das möglich?"

Jener, der die Gruppe zusammengeführt hatte, jener, der seit Jahrzehnten die Aktivitäten von SEELE
überwacht und Reaktionen auf jeden ihrer Schritte vorbereitet hatte, jener, der Seraph in den Einsatz
geschickt hatte, schwieg...
Und hoffte...


***


Vor dem Kommandozelt des Generalstabes

Ryoji Kaji sprang aus dem Geländewagen, der ihm ins Kampfgebiet gebracht hatte, seinen Ausweis wie
einen Schild vor sich haltend, stürmte ins Zelt, wo die Oberkommandierenden der Armee gerade dabei
waren, ihre Karten des Geländes um Tokio-03 zu inspizieren.

"Ich bin Sonderagent Ryoji Kaji von der UN. Stellen Sie den Angriff gegen NERV und die EVAs ein."

"Angriff einstellen?" entgegnete ein General und sah Kaji an wie einen Verrückten. "Wir sind auf dem
Rückzug vor einem roten Riesenroboter!"


***


Terminal-Dogma

"Es ist deine Entscheidung, Rei..."

Larsens letzte Worte hallten in Reis Ohren nach, als sie neben Gendo Ikari trat, ihren
Schöpfer.

Sie trug ihre Plug-Suit, ihre gewöhnliche Kleidung lag zu einem Haufen aufgeschichtet neben ihr.

"Es ist soweit."
Gendo streckte die Hand aus...

"Nein!"
Der Schrei kam von einem der Laufstege über ihren Köpfen, direkt neben der gekreuzigten LILITH. Dort
stand Doktor Ritsuko Akagi, die Finger der einen Hand um das Geländer gekrampft, daß die Knöchel weiß
hervortraten, die andere Hand in der Tasche ihres Laborkittels.

Ikari hielt inne, blickte nach oben.
"Ritsuko, das ist... äußerst unpassend."

"Warum? Störe ich etwa?"
Sie zog die bisher verborgene Hand hervor, offenbarte die Waffe, die sie mit sich führte.

"Und nun? Willst du Rei töten?"

"Nein. Ich habe die anderen Klone ausgelöscht, die anderen seelenlosen Puppen, die du mir vorgezogen
hast, doch ich werde ihr Leben nicht nehmen, im Gegenteil, ich habe es ihr bereits zurückgegeben."

"Was?"

"Die Konditionierung existiert nicht mehr, ich habe dafür gesorgt, daß sie gelöscht wurde. Das wirft
deine Pläne über den Haufen, oder?"

Gendo lächelte kalt.
"Nicht wirklich. Rei ist es gewohnt zu gehorchen."

"Und genau deswegen habe ich die Selbstzerstörungsschaltung der MAGI aktiviert. In wenigen
Sekunden geht hier alles zum Teufel, ihr solltet von hier verschwinden..."
Sie löste die Hand vom Geländer und holte eine taschenrechnergroße Fernsteuerung aus der anderen
Kitteltasche. Ihre Augen wurden groß, als sie die Anzeige las.

COUNTDOWN ABGEBROCHEN.

"Mutter, warum..."

Ikari hob seine Waffe.
"Es tut mir leid, Ritsuko, aber ich muß sicherstellen, daß du uns nicht noch einmal unterbrichst."
Mit diesen Worten drückte er ab.

Akagi wurde zurückgeschleudert, als sie die Kugel traf. Sie rutschte an der Felswand herab und blieb
regungslos auf dem Steg liegen.

Gendo wandte sich wieder Rei zu, die sich nicht gerührt hatte.
"Bist du bereits?"
Seine Hand durchstieß ihre Brust.

Es schmerzte...

Ikari bewegte die Hand durch Reis Körper, der durchlässig wie Wasser zu sein schien.
"Bring uns in das Innere von LILITH, Rei."

Rei zögerte.
Kommandant Ikari will den Third Impact auslösen, um die Menschheit auszulöschen und neu zu
erschaffen, in einer Welt nach seinen Vorstellungen. Er will erreichen, daß die Seelen der Menschen ihre
körperlichen Beschränkungen hinter sich zurücklassen und sich vereinen, sich weiterentwickeln zu einer
höheren Wesenheit, Leid und Trauer zurücklassen und Glückseeligkeit erlangen. Und er will diesen
Vorgang kontrollieren...
Sie sah Ikari an, sah die Kälte in seinen Augen, die Bestimmtheit, die Gier.
Soll dies das Anglitz Gottes sein? Warum will er der Welt seinen Willen aufzwingen? Und warum helfe
ich ihm dabei? Leben heißt kämpfen, heißt Entscheidungen zu treffen...

"Rei?"

Und Rei traf ihre Entscheidung.
"Nein!"

Unwillkürlich trat Gendo Ikari einen Schritt zurück, teilweise zog er die Hand aus Rei, teilweise wurde er
abgestoßen.

Reis Blick schien ihn festzunageln, schien bis tief in seine Seele vorzudringen, durch alle Barrieren, die er
um sein Herz errichtet hatte.

Dann sah sie zu LILITH, den gekreuzigten Engel, der sich nun ohne den Einfluß des Longinusspeeres
völlig regeneriert hatte.
Der Drang, mit LILITH zu verschmelzen und zu tun, wozu sie geboren worden war, war stark, der Drang,
den Third Impact auszulösen, der Drang sich mit Shinji zu vereinen...


***


EVA-01 stieß einen lauten Schrei aus, ehe er sich auf die weißen EVAs stürzte, die gerade dabei waren,
EVA-02 zu verspeisen.

"Asuka! Hörst du mich?" brüllte Shinji in der Hoffnung, daß der Entry-Plug unbeschädigt war.
"Asuka!"

Er hob das Prog-Schwert auf, das EVA-02 fallengelassen hatte, als ihm die Energie ausging, hackte
auf die weißen EVAs ein. Diese aktivierten ihre Triebwerksaggregate und brachten sich mit weiten
Sätzen außer Reichweite.

"Asuka!"

In der einen Hand das Schwert sichernd in Richtung des Feindes ausgestreckt, ging EVA-01 in die
Knie, wühlte durch die Reste von EVA-02, wühlte durch Bruchstücke der Panzerung, organische Fetzen,
Eingeweide und verstärkte Knochenteilchen, bis er fand, was er suchte. Triumpfierend hielt er den
äußerlich intakten Entry-Plug in der Hand.

Die weißen EVAs rührten sich nicht.

Fast zärtlich legte EVA-01 die Kapsel auf den Boden.

Worauf warten sie? dachte Shinji. Daß mir auch die Energie ausgeht? Da können sie lange warten,
EVA-01 hat auch eine S2-Maschine.
Er kletterte aus dem Pilotensitz.

"Shinji, was hast du vor?" fragte Misato leise. Um sie herum schwebten Blutbläschen in der LCL-
Flüssigkeit.

"Ich hole Asuka da raus."
Er zog einen Schraubenschlüssel aus der Tasche mit der Notausrüstung, die in der Rückenlehne des
Sitzes untergebracht war.

Irgendwie wußte er, daß EVA-01 nicht zu-lassen würde, daß die anderen Einheiten über ihn herfallen
würden, sobald er draußen war, auch wenn er nicht sicher war, woher er dieses Wissen bezog.

Er ließ den Entry-Plug soweit herausfahren, daß die Luke freilag.

Shinji "ffnete die Luke, kletterte hinaus. Die Rückseite des EVA war geriffelt wie die Sprossen einer
Leiter, die er nun flink hinabkletterte, die Gefahr und die Höhe ignorierend.
Das letzte Stück sprang er hinab, kam sicher auf, lief zu Asukas Kapsel hinüber.

Der Verschluß des Entry-Plugs bewegte sich, ruckte hin und her.

Shinji kantete den mitgebrachten Schrau-benschlüssel in das Handrad der Luke, stemmte sich mit
aller Kraft dagegen. Die Luke entriegelte sich. Mit einem Schwall LCL-Flüssigkeit wurde Asuka aus der
Kapsel gespült, direkt in Shinjis Arme.

Ihr linkes Auge war zugeschwollen, die Braue aufgeplatzt, der rechte Arm hing schlaff an der Seite
herab, ihr Blick war müde. Für einen Moment schien sie nichts weiter zu wollen, als in Shinjis Armen
zu liegen und gehalten zu werden, im nächsten begann sie lauthals zu schimpfen wie ein Rohrspatz,
verfluchte dabei Gott, die weißen EVAs, Kommandant Ikari und den Rest der Welt.

"Asuka, wir müssen hier weg." unterbrach Shinji ihren Redeschwall, etwas, was er früher nie getan hätte.

Es waren weniger seine Worte als sein Blick, der sie tatsächlich zum Verstummen brachte.
Mit ihrem gesunden Auge nahm sie die riesigen weißen Gestalten wahr, die in der Ferne lauerten.
"Warum sagst du das erst jetzt, Dummkopf?"

Er wußte erst jetzt, wie sehr er sie vermißt hatte.
"Wir müssen klettern!" Er deutete nach oben, sein Finger beschrieb in Etwa die Strecke, über die sie
auf der Außenseite von EVA-01 bis zur Einstiegsluke des Entry-Plugs kamen.

"Das schaffe ich nicht", flüsterte Asuka.

Shinji warf den Kopf herum, sah sie an, sah, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnte.
"Asuka..."

"Geh, rette dich, rette dich... mein Freund..."

Er schüttelte den Kopf.
"Und wenn ich dich tragen muß, niemand bleibt zurück!" schrie er.

Plötzlich verdunkelte sich die Sonne.

Sie sahen nach oben.

Die freie, ausgestreckte Hand von EVA-01 senkte sich herab, hielt direkt vor ihnen an, wie eine Einladung
aufzusteigen.

"Shinji, wer steuert EVA-01?"

"Niemand..."
Er zog Asuka auf die Hand.

Sanft wurden sie angehoben und in einem Bogen bis vor die Zugangsluke getragen.

Shinji kletterte zuerst hinein, half dann Asuka hinein.

"Langsam wirdïs voll hier drin." wurde der Rotschopf begrüßt.

"Misato! Was ist denn mit dir?!"

"So ein Mistkerl hat mich angeschossen."

"Misato, halte den taktischen Monitor im Auge. Asuka, vielleicht brauche ich Hilfe mit der Steuerung,
du hilfst mir dann." kommandierte Shinji.

Jeder Protest Asukas der Art ´wer ist gestorben und hat dir das Kommando übertragen?´ wurde von Shinjis
resoluter Stimme im Keim erstickt.
"Aye, aye, mein Kapitän." erwiderte sie auf Deutsch.

Shinji ließ EVA-01 sich aufrichten und den Griff des Prog-Schwertes mit beiden Händen umfassen.

"Ring frei zur Zweiten Runde. In der einen Ecke in Purpur und Grün: EVANGELION-01, ungeschlagener
Champion zahlloser Schlachten, in der anderen Ecke ein Haufen Loser!" kommentierte Asuka und zog das
letzte Wort besonders in die Länge.

Sehr, sehr weit über ihnen, auf dem Mond, um genau zu sein, löste sich der Longinusspeer aus dem
Mondstaub und raste auf die Erde zu...


***


Larsen glaubte, innerlich zu verbrennen, als der Umwandlungsprozeß in seine entschei-dene Phase trat.
Auf seinem Gesicht bildeten sich unzählige kleine Metallflecken, als mattschwarzes Tri-Polymer-Titanium
aus seinen Poren zu treten begann, die sich schnell vereinigten und eine glatte Oberfläche bildeten.
Die Bauchwunde wurde versiegelt, regenerierte sich unter dem Einfluß des T-O-Vi-ruses mit einer
Geschwindigkeit, daß das bloße Auge kaum nachkam.
Das Haar fiel ihm gleich büschelweise aus. Eine Muskelkontraktion beförderte die Kontaktlinsen auf den
Boden, legte seine künstlichen roten Augen frei.

Gratuliere zu erfolgreicher Selbstrepa-ratur, Seraph.

Hoffentlich läßt sich das wieder rückgängig machen...


***


Rei erzitterte. Der Lockruf LILITHs, ver-bunden mit ihren eigenen Wünschen, zog sie auf den
gefesselten Engel zu, ihr Gewissen widersetzte sich dem Zug.
"Nein." wiederholte sie dasselbe Wort, das sie schon Kommandant Ikari gegenüber benutzt hatte.
Nein, ich lasse mich nicht mehr benutzen. Ich lebe, ich treffe meine eigenen Entscheidungen.
Sie warf sich herum und rannte aus der Halle...

...lief dabei Larsen in die Arme, sah ihn kaum an, nahm weder wahr, wie er sich äußerlich verändert
hatte, noch daß er eigentlich auf dem Boden liegen und langsam an seiner Bauchwunde innerlich verbluten
müßte.

"Shinji, wo ist er?"

"Oben, kämpft gegen feindliche EVA-Ein-heiten."

"Ich muß zu ihm!"
Shin-chan...

"EVA-04 steht im Hangar. Beeil dich!"

"Ja..."

Ihre Schritte verhallten.
Ich komme...

Gendo Ikari stand regungslos in der Mitte der Halle, starrte zu LILITH hinauf, die ihn mit ihren sieben
Augen höhnisch zurück anzustarren schien. Der Plan, an dessen Verwirklichung er die letzten zwanzig
Jahre gearbeitet hatte, für den er Frau und Sohn und einen Teil seiner Seele geopfert hatte, alles
zerrann zwischen seinen Fingern wie Sand.

Harte, metallische Schritte ließen ihn auf-horchen.

Im Zugang zum Terminal-Dogma stand ein mattschwarzer menschengroßer EVANGELION mit
rotglühenden Augen und zwischen den Fingerknöcheln ausgefahrenen Prog-Klingen...


***


SEELE

"Das Ende dieser Welt rückt näher. Und wir werden die nächste Welt formen." flüsterte der
Vorsitzende des Schattenkomitees, welches das Ende der Menschheit seit Jahrzehnten geplant hatte,
heiser vor Erwartung.

Das Dach des Konferenzraumes öffnete sich - zum ersten Mal seit langer Zeit sahen sich die Mitglieder
des Kommitees bei Tageslicht - und registrierten, daß einer aus ihrer Mitte fehlte -, gab den Blick auf
den klaren Himmel frei.

Und auf elf Feuerkugeln, die sternschnuppengleich vom Himmel herabfielen und sich beim
Näherkommen als humanoide Giganten aus tiefschwarzem Metall entpuppten...


***


Rei stürmte in den Hangar, sprang, das Gesicht mit den Armen schützend, durch eine Feuerwand.

Vor ihr wuchs EVA-04 in die Höhe.

Sie kletterte die Leiter zum Laufsteg hinauf, das Metall war heiß, verbrannte ihre Haut. Sie ignorierte es,
schwang sich in den offenstehenden Einstieg des EVA (der kein wirklicher EVA war, aber der
menschliche Wille kann schließlich Berge versetzen), warf die Luke hinter sich zu und kletterte in den Pilotensitz.

Identifiziere neuen Piloten: Rei Ayanami. Willkommen, Rei. stand auf dem Hauptbildschirm.

"Danke." flüsterte sie. "Wir müssen an die Oberfläche."

Bestätige Einsatzbereitschaft.

EVA-04 setzte sich in Bewegung...

Ich komme, Shinji, ich komme...


***


Der Longinusspeer raste auf die Erde zu, die Spitze direkt auf den Nacken von EVA-01 unterhalb der
Kontrollkapsel gerichtet, mißachtete dabei alle Gesetze der Natur.
(Aber es war ohnehin niemand da, der ihn dafür zur Rechenschaft gezogen hätte.)
EVA-01 lockte ihn an wie frisches Blut einen Hai, oder wie ein Magnet. Er war geschaffen worden, um
Wesen wie EVA-01 zu bannen...

Die weißen EVAs warteten, warteten auf das Eintreffen des Longinusspeeres, warteten darauf, sich
auf EVA-01 stürzen und ihre Bestimmung erfüllen zu können, warteten darauf, den Third Impact
auslösen zu können.
Daß ihre Schöpfer nicht mehr imstande waren, dieses Ereignis auch nur im Geringsten zu beeinflussen,
hätte sie selbst dann nicht interessiert, wenn sie es verstanden hätten.

Der Speer kam näher und näher, raste durch die oberen Schichten der Erdatmosphäre...

"Worauf warten die bloß", zischte Asuka zum wiederholten Mal, w„hrend EVA-01 sich langsam um die
eigene Achse drehte, um die neun weißen EVAs im Blick halten zu können, das Prog-Schwert schlagbereit
vor sich haltend. Vor einer halben Minute war der taktische Schirm plötzlich erloschen, als eine
unterirdische Explosion die Erde hatte erbeben lassen.

Der Longinusspeer war bereits mit bloßem Auge zu sehen, er zog einen Flammen-schweif hinter sich her...

"SHINJI, ZUR SEITE! WEICH AUS!" hallte es aus dem Interkom.

Rei... Rei ist hier...
Shinji ließ EVA-04 einen Satz zur Seite machen. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, bohrte sich der
Longinusspeer in den Boden.

Etwa zeitgleich setzten sich die EVA-Ein-heiten der 5er Serie mit erhobenen Lanzen in Bewegung...


***


EVA-04 schoß aus dem Startschacht.

Rei hatte nur Sekunden, sich mit der Steue-rung vertraut zu machen. Sie war... anders.
Die Synchronisation mit EVA-04 war weitaus weniger spektakulär als mit EVA-00 oder einer der anderen
Einheiten, der Steuerungscomputer erledigte das Grundlegende, wie Laufen und Balancehalten. Zudem
war die Reaktionszeit auf ihre Befehle aufgrund des primitiveren Interfaces um einiges l„nger.

Dennoch halfen ihr ihre Erfahrung, ihr Willen und nicht zuletzt EVA-04 selbst.

Sie sah das Schlachtfeld und verspürte ein Stich im Herzen bei dem Gedanken an all die Toten, die unter
den Trümmern liegen mußten, sah die Reste von EVA-02 und verspürte Wut und Trauer über den
Verlust Asukas. Sie sah die neun schneeweißen EVAs, die sich wartend im Umkreis plaziert hatten, sah
EVA-01 kampfbereit in Lauerstellung mit seinem Schwert.

Und sah den Longinusspeer vom Himmel auf EVA-01, auf Shinji, herabrasen.

"SHINJI, ZUR SEITE!" brüllte sie und rannte los - natürlich rannte EVA-04 los, aber das primitive Interface
war trotz allem gut genug, die Sinneseindrücke des Piloten entsprechend zu modifizieren, sonst wäre der
falsche EVA schon bei den ersten Synchronisationstests aufgeflogen.

Der schwarze EVA pflügte über das Feld, während EVA-01 ihrer Anweisung folgte.

Rei streckte die Arme, ergriff den Schaft des Longinusspeeres, wirbelte ihn herum.

Im nächsten Moment standen sie und Shinji Rücken an Rücken, zusammen...


***


Terminal-Dogma

"Es ist aus." drang die Stimme des EVAs/ Larsens durch die Halle. "Der Plan zur Vervollkommnung
der Menschheit ist geschei-tert."

"Nein!" schrie Ikari, "Der Plan muß vollen-det werden, nur so kann die Menschheit über ihre Grenzen
hinauswachsen! Ich habe mein Leben dem Plan gewidmet, zum Wohle der Menschheit!"

"Ihr Plan führt zum Ende der Menschheit!"

"Zu ihrem Aufstieg, ihrer Komplettierung!"

"Sie wissen nicht einmal, mit welchen Mächten Sie spielen! Ihre Torheit hat vor fünfzehn Jahren die
zweite Sintflut ausgelöst, wieviele Leben wollen Sie noch auf Ihr Gewissen laden?"

Ikari riß die Waffe hoch, schoß auf den EVA/Larsen, verfeuerte fast sein ganzes Magazin.
Die Kugeln prallten wirkungslos an der Tri-Polymer-Titaniumpanzerung ab, hinterließen nicht einmal
Kratzer.

"Wie sinnlos. So sinnlos wie Ihr ganzes Werk. In Ihrer Verblendung, der Zweck heilige die Mittel,
haben Sie Tausende, Millionen, von Leben geopfert. Doch das endet jetzt. Vielleicht bin ich das, wozu
die Menschheit werden kann, bin ich die nächste Stufe der Evolution. Doch wer bin ich, mir soetwas
anmaßen zu können. Wer sind Sie, über den Wert der Leben aller Menschen auf dieser Welt entscheiden
zu wollen? Wer sind Sie, daß Sie Gottes Platz in der Schöpfung einnehmen wollen?"

"Ich bin Gendo Ikari! Ich werde die Menschheit auf den nächsten Schritt ihrer Existenz führen!"
Er wandte sich LILITH zu.

"All die Jahre hat die Gruppe, die mich hierher geschickt hat, beobachtet und geplant, geplant zu
reagieren und sich auf den heutigen Tag, auf diesen Moment, vorbereitet. All die kleinen Steine in
Ihrem Pfad, all die Probleme und Problemchen, all dies war unser Werk, das Werk von Menschen,
unvollkommenen Wesen, die sich gerade durch diese Unvollkommenheit definieren. Hier und heute
endet es!"
Der menschliche EVA, geschaffen durch den Willen des Menschen, schleuderte seine Prog-Klingen
durch die Luft.

Die sechs Klingen lösten sich aus ihren Halterungen, rasten auf LILITH zu, bohrten sich in ihre
Augen.

Der Engel löste sich vor ihren Augen auf, zerfloß zu einem Rinnsaal LCL-Flüssigkeit.

Auf dem Laufsteg hob Ritsuko langsam die Hand und griff nach einer Metallstrebe des Geländers.

Gendo Ikari hielt noch immer seine Waffe in der Hand.

In der Ferne grollte eine Explosion und löschte die Kommandozentrale aus.

Durch das Terminal-Dogma hallte ein letzter Schuß...


***


"Sie kommen! Rei, ausfächern!"

EVA-01 und EVA-04 sprangen in entgegengesetzte Richtungen.

Bei EVA-04 war der Countdown für die Batterien mittlerweile bei zwei Minuten angelangt.

Allmählich verstand Rei einiges, so verfügte die EVA-Einheit, in der sie saß, über kein eigenes AT-
Feld - sie hatte keine Seele -, dafür aber über ein leistungsstarkes Kraftfeld.

Doch die Einzelheiten schienen nicht weiter wichtig, in diesem Moment zählte nur, daß das Kraftfeld
das Schlimmste abhielt und der Longinusspeer die AT-Felder der weißen EVAs durchdringen konnte.

Sie zielte direkt auf die S2-Maschinen der EVAs, das Zielerfassungssystem von EVA-04 hatte sie etwa
zu dem gleichen Zeitpunkt darauf hingewiesen, als Asuka Shinji denselben Hinweis gab.

Der erste EVA vor ihr verging in einer Ex-plosion, sie ließ EVA-04 direkt durch die Explosionswolke
springen und gleich gegen den nächsten Gegner vorgehen.

Dieser drehte sich zur Seite, stieß den eigenen Speer in den Rumpf von EVA-04.

Als Reaktion erloschen die Lichter einiger Steuerungselemente auf der linken Seite der Steuerungsarmatur.

In einem normalen EVA hätte Rei sich jetzt vor Schmerzen nicht mehr rühren können - das primitive
Interface hatte also auch seine Vorteile.

Notreparatur läuft, benötige eine Minute, um die beschädigten Schaltkreise umzulegen.

Wir haben nicht soviel Zeit. Sogar Reis mentale Stimme klang sanft. Wenn es dem Biocomputer
tatsächlich möglich gewesen wäre, hätte er für sie die Reparatur in einem Bruchteil der angegebenen
Zeit erledigt. Leider vermag der Wille eines Computers keine Berge zu versetzen.

Immerhin reichte die verbliebene Kontrolle noch aus, den Angreifer aufzuspießen und den nächsten
EVA, der sich in ihre Reichweite begab, abzuwehren, auch wenn die Steuerung zu blockieren schien
und Rei den Eindruck hatte, teilweise Berge zu verschieben, statt metallener Hebel.

Dann leuchteten die beschädigten Kontrol-len wieder auf.

EVA-04 drehte sich, suchte EVA-01.

Der hing im Griff von fünf anderen EVAs, die ihre Speere durch die Gliedmaßen und den Kopf getrieben
hatten und ihn nun mit Hilfe ihrer Raketentriebwerke in die Höhe schleppten.

Sie werden den Third Impact auslösen...
Rei fühlte alle Hoffnung schwinden.

Von den übrigen EVAs waren nur Trümmer und Staubwolken zu sehen.

Aus dem Interkom kam ein dumpfes Stöhnen, wie aus drei Kehlen.

Asuka... Shinji... Mein Shinji...

"Rei... Rei-chan..." flüsterte Shinji unter Aufbietung aller Kraft.

Rei riß die Augen auf.
"Sie verletzten Shinji!"
Meinen Shinji...

Sie schleuderte den Speer, traf den EVA, der sich am rechten Arm von EVA-01 fest-hielt, durchstieß
sauber die S2-Maschine.

Der Verbund verlor durch den Verlust ei-nes Mitgliedes an H"he.

EVA-04? Ich brauche deine volle Unter-stützung.

Ich wurde geschaffen, um zu dienen. antwortete EVA-04, der in Wirklichkeit auf die Bezeichnung
PALADIN-01 hörte, aber das ist eine andere Geschichte.

EVA-04 fuhr seine Prog-Klingen aus.

Niemand legt Hand an Shinji!
Und Rei erlebte zum ersten Mal, wozu sie in ihrem Zorn fähig war...


***


EVA-04 stürzte sich mit feuernden Jetpacks wie ein Berserker auf die vier übrigen weißen EVAs, die
immer noch damit beschäftigt waren, EVA-01 in der Luft zu halten; nachdem sich ihre Zahl auf drei
reduziert hatte, schienen sie einzusehen, daß dies nicht mehr möglich war und ließen ihn fallen.
Zu ihrem eigenen Pech steckten ihre Lan-zen noch immer in EVA-01, während Reis EVA über
eingebaute Waffen verfügte.

Als der erste weiße EVA endlich dazu kam, sein Prog-Messer zu ziehen, war nur noch er übrig.

Ein Fußtritt von EVA-04 gegen den Schädel schleuderte ihn zurück und verletzte zugleich seine
Wahrnehmungssensoren.

Die ganze Zeit über stieß EVA-04 laute Wutschreie aus, niemandem, der sich in der Nähe aufgehalten
hätte, gehen wir mal davon, daß irgendjemand wirklich zu törricht sein sollte, wöre aufgefallen, daß es
sich um die elektronisch verstärkten Wutschreie eines vierzehnjährigen Mädchens handeln könnte.

In diesem Moment sprang der Countdown auf ´0´...

Rei hielt den Atem an.
Nicht jetzt.

Und der Countdown sprang wieder auf drei Minuten.

Gehe auf Batterie Zwei.

"Stillstand! Keine Bewegung mehr..."

Bestätigt.

EVA-04 verharrte.

Der letzte weiße EVA sah seine Chance gekommen, griff mit vorgestrecktem Prog-Messer an.

Rei trat einfach zur Seite und stellte ihm ein Bein, stieß dann mit ihren Klingen nach.


***


Asuka öffnete die Augen, daß heißt, sie wollte es. Über ihrem einen Augen befand sich eine Bandage,
so daß ihr Blickfeld eingeschränkt war.

Sie lag auf einer harten Unterlage. Ihr ganzer Körper fühlte sich müde an.

Wo...?

Verschwommen sah sie die beiden Gestalten am Fußende ihres Lagers zusammen sitzen.

Shinji... Rei...

Mit einem Lächeln auf den Lippen driftete sie wieder weg.


***


Shinji glaubte noch immer, den Schmerz zu spüren, als die weißen EVAs ihre Speere in die Arme, die
Beine und den Schädel seines EVA gestoßen hatten.

Jetzt saß er am Fußende einer Klappritsche in einem Sanitätszelt im Schatten des zusammengesunkenes
EVAs, auf der Pritsche lag schlafend Asuka, neben ihm, oder besser an ihn gelehnt, saß Rei mit
geschlossenen Augen. Sie saßen beide unter einer rau-hen grauen Wolldecke mit dem Zeichen der
Verteidigungsstreitkräfte. Er hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt.

Sie lächelte im Schlaf...

Kaji kam ins Zelt, Shinji wollte aufspringen, besann sich wegen Rei jedoch anders.
"Wie geht es Misato?"

Kaji stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus.
"Sie kommt durch."

Shinji atmete erleichtert ein.

"Du hast genau das richtige getan, die LCL-Flüssigkeit hat die Verletzung gesäubert und die Blutung gehemmt."

Shinji griff vorsichtig in seine Tasche, holte das Silberkreuz hervor.
"Misato hat es mir gegeben, als sie angeschossen wurde. Vielleicht könnten Sie es ihr zurückgeben?
Ich glaube, ich brauche vorerst keinen Glücksbringer mehr."

"Gerne."
Kaji zwinkerte Shinji zu.
"Wißt ihr drei eigentlich, daß ihr heute die Welt gerettet habt? Gut, Asuka wird wahrscheinlich der
EVA-Pilotenschein entzogen werden, nach all dem Chaos, das sie angerichtet hat..."

"...wer räumt das eigentlich wieder auf?" fragte eine weitere Stimme vom Zelteingang her.

"Wolf", rief Shinji und blieb wieder nur wegen Rei sitzen.

Larsens Körper war mit Staub, Ruß und Asche bedeckt, deshalb fiel es nicht auf, daß seine Haut durch
eine Titaniumpanzerung ersetzt worden war. Die roten Augen waren etwas verräterisch, andererseits
waren alle viel zu beschäftigt, um es zu bemerken.
"Ich freue mich, daß ihr es geschafft habt. Soweit ich gehört habe, habt ihr euch großartig geschlagen."

Nachdem sich der Staub gelegt hatte, hatte Rei EVA-01 von den Speeren befreit.
Zugleich war Kaji in einem Jeep aufgetaucht und hatte die Kapitulation der angreifenden Streitkräfte
überbracht.

Misato war umgehend in das nächste Lazaret gebracht worden, während Suchmannschaften des
Militärs nach Überlebenden suchten, erste Gruppen stiegen gerade über die Hangarschächte in das
vernichtete NERV-Hauptquartier und die Geofront hinab.
Der erste Mensch, der ihnen über den Weg lief, war Wolf Larsen, der eine kleine Grup-pe von NERV-
Mitarbeitern ins Freie geführt und mit unermüdlicher Kraft Trümmerstücke aus dem Weg geräumt hatte.

Jetzt schweifte sein Blick über die drei Children, deren Kindheit viel zu früh geendet hatte.

"Shinji, ich habe eine schlechte Nachricht für dich..."

Rei drückte sich stärker an Shinji, dieser sah Wolf fragend an.

"Dein Vater hat den Angriff nicht überlebt. Er ist während der letzten Explosion ums Leben gekommen."

"Ja... Danke, Wolf."

Er wird später weinen, aber er hat jemanden an seiner Seite, Freunde, die mit ihm durch die Hölle
gegangen sind...

"Kommen Sie, gönnen wir ihnen etwas Ruhe." murmelte Kaji.

Larsen nickte und verlor dabei etwas von seiner Schmutzschicht.

"Netter Look."

Larsen grinste säuerlich.
"Hoffentlich gibt es ein Gegenmittel. Was wollen Sie jetzt machen?"

"Ich fliege zu Misato ins Krankenhaus."

"Was ist mit dem Major?"

"Schußwunde, aber sie kommt durch. Könnten Sie noch etwas hierbleiben und auf die Kinder..."

"Die können wahrscheinlich ziemlich gut auf sich selbst aufpassen. Aber - ja, natürlich. Ich bleibe
noch ein wenig. Besorgen Sie ihnen nur eine Unterkunft, wo ich sie hinbringen kann. Ich will nach
Hause, zu meiner Tochter..."

"Ja, das verstehe ich." Kaji streckte die Hand aus. "Wer weiß, wann wir uns wiedersehen."

Wolf ergriff die Hand.
"Kommen Sie mich doch in Deutschland besuchen. Und bringen Sie den Major mit."

"Steht die Einladung zum Essen noch?"

"Ja. Und bringen Sie auch die drei da drinnen mit."

"Oh, planen Sie schon die große EVA-Piloten-Reunion-Feier?"

"Machen Sie, daß Sie zu Major Katsuragi kommen."


***


Shinji...

Shinji sah sich um.

Shinji...

Er sah nach oben, sah durch eine Lücke in der Zeltplane aus Gesicht von EVA-01, dessen Augen
golden aufleuchteten.
Ein längst vergessenes Gefühl von Geborgenheit erfaßte ihn.

Shinji...

Die Stimme in seinem Kopf war so vertraut, es war die Stimme von EVANGE-LION-01, und es war die
Stimme seiner Mutter...

Mutter...

Shinji, du hast jetzt jemanden, der für dich daist und für den du dasein kannst. Ich muß dich nicht
mehr beschützen.

Mutter, geh nicht, bitte, bleib...

Ich werde immer in deinem Herzen sein und über dich wachen, mein Sohn.

EVA-01 richtete sich auf, drehte sich um, ging langsam davon.

Mutter!
Shinji sprang auf, die schlafende Rei kippte zur Seite, wachte auf, sah, wie er hinauslief.

EVA-01 verschwand mit Riesenschritten in der Ferne.

Shinji rannte.
Mutter!

Achte auf sie. Und werde glücklich, Shinji.
Damit verstummte die Stimme und geriet EVA-01 außer Sicht.

Shinji hielt außer Atem an.
"Mutter..."
Er kämpfte gegen den Drang an, auf dem gefrorenen und festgestampften Boden zusammenzusinken.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter, breitete eine Decke über seine Schultern auf.

Rei war ihm gefolgt...

Rei-chan...


ENDE