Kapitel 03 - Asuka
Wilhelmshaven, Deutschland:
"Und du kannst wirklich nicht mitkommen, Onkel?"
Das rothaarige Mädchen sah den Mann, der neben ihr am Kai stand, fragend an. Ihr Name
war Asuka Soryu Langley. Sie trug ein knielanges gelbes Kleid mit tiefem Ausschnitt und
ganzen Ärmeln, dazu rote Schuhe und weiße Socken, ihre Hände steckten in roten Handschu-
hen. Um den Hals trug sie eine Kette mit einem kleinen Silberkreuz. Sie war vierzehn
Jahre alt.
Der Mann neben ihr war nicht wirklich ihr Onkel, jedenfalls bestand keine Blutsverwandt-
schaft. Auf der anderen Seite hatte er sich seit dem Tod ihrer Mutter um sie gekümmert.
Er hatte schwarzes Haar und trug eine dunkle Uniform.
"Ich würde gern, Asuka, war man braucht jedoch mich hier. Aber Major Kaji wird ja mit-
kommen."
"Ich wünschte, ihr könntet beide mit nach Japan kommen, Onkel Wolf."
Er lächelte traurig.
"Sobald ich etwas Zeit habe, komme ich dich besuchen, versprochen."
"Du wirst nie genug Zeit haben, ich weiß es doch. ODIN hetzt dich von einem Ende Europas
zum anderen und dann noch einmal quer durch Afrika."
"Hm... ja. Aber du weißt, daß ich stolz auf dich bin."
"Danke."
Ein weiterer Mann kam hinzu, Ryoji Kaji.
Asuka lächelte ihn mit strahlenden Augen an.
"Hallo, Kaji!"
"Hallo, Asuka, Commander."
"Major."
Der Dunkelgekleidete nickte dem anderen zu.
"Es ist alles verladen, wir werden plangemäß auslaufen."
"Tja, dann ist es wohl soweit."
Er streckte Kaji die Hand entgegen.
"Passen Sie gut auf Asuka auf, Major."
"Das werde ich."
Kaji ergriff die Hand und drückte sie.
"Und auf ihre eigene Fracht."
"Natürlich."
"Gut. Gute Reise."
"Danke."
"Asuka?"
"Ja, Onkel?"
"Halt dich tapfer. Und wenn du glaubst, es nicht mehr auszuhalten, dann ruf mich an, ja?"
"Ja."
"Vergiß deine Ausbildung nicht, egal, was sich dir in den Weg stellt, du wirst jedes
Hindernis überwinden, Schatz. Und tritt diese Engel dahin, wo es wehtut."
"Das werde ich, Onkel."
Sie war bemüht, hart zu bleiben, doch die einsame Träne, die über ihre Wange lief, ver-
riet ihre wahren Gefühle.
Er umarmte sie, lächelte, ohne sich die Traurigkeit, die er in Wirklichkeit verspürte,
anmerken zu lassen.
"Alles Gute."
"Bitte, gib Tante Ann einen Kuß von mir, ja? Und sage ihr, daß es mir leidtut, daß ich
sie nicht im Krankenhaus besuchen konnte."
"Das werde ich."
Er sah ihnen nach, wie sie die Gangway der ´Over the Rainbow´ hinaufstiegen, winkte, als
sie an der Reling standen und das Schiff schließlich auslief und wandte sich dann ab,
erlaubte sich selbst ein paar Tränen...
***
Misatos Apartment, Tokio-03, Japan:
Auf der anderen Seite der Welt saßen Shinji Ikari und Rei Ayanami auf dem Sofa vor dem
Fernseher, Rei las in einem Buch, während Shinji in der Programmzeitschrift blätterte.
"He, Rei..."
"Hm?"
"Heute hat die neue Animationsserie von Gainax Premiere, Princess Maker."
"Was ist das?"
"Keine Ahnung... Hm, nach dem erfolgreichen Computerspiel... aber von Gainax, was die
machen, muß einfach gut sein. Wollen wir uns die erste Folge ansehen?"
"Ich weiß nicht."
"Wieso?"
"Ich sehe eigentlich kein Fernsehen."
"Du hast ja auch keinen Fernseher in deiner Wohnung, oder?"
Er erinnerte sich nicht, ein solches Gerät bei seinem Besuch gesehen zu haben, anderer-
seits war es auch ziemlich möglich, daß er es übersehen hatte.
"Nein."
"Na, dann..."
"Gut, wenn du es willst."
"Rei... wenn du es nicht willst, will ich dich nicht irgendwie zwingen."
Wieder sah sie ihn an, klappte dann das Buch zu.
"Ich denke, ich kann es versuchen."
"Ah... Sitzt du bequem? Warte..."
Er holte ein großes Kissen und gab es ihr.
"Für deinen Rücken... und..."
Er schob den Sessel heran.
"...jetzt kannst du die Füße hochlegen..."
Rei blickte ihn blinzelnd an.
"Du möchtest wirklich, daß ich mich wohlfühle..."
"Natürlich."
Sie rutschte ein Stück nach vorn, um Platz für das weiche Kissen zu schaffen, dann
streckte sie die Beine aus.
"Ja, sehr bequem."
"Falls du eine Decke möchtest..."
"Shinji..."
Ihr Blick hatte etwas weiches, amüsiertes.
"...dann hole ich mir eine."
"Uhm, ja."
Er schaltete den Fernseher ein, legte die Fernbedienung auf den niedrigen Tisch und
machte es sich neben ihr auf dem Sofa bequem.
Rei lehnte sich an ihn.
Shinji versteifte sich.
"Rei, warum..."
Sie rückte ein Stück von ihm ab.
"Ist es dir unangenehm?" fragte sie unsicher.
Sie wußte selbst nicht genau, weshalb sie seine Nähe gesucht hatte, nur daß sie den
kurzen Moment als angenehm empfunden hatte.
"...nein..." flüsterte er leise, verfluchte sich selbst für seine Reaktion. Im nächsten
Moment hatte er Schwierigkeiten ein breites Grinsen zu unterdrücken, als sie sich wie-
der an ihn lehnte und seine Hormone erneut für ein, zwei Sekunden verrückt spielten.
***
Die Westlichen Königreiche, das 13. Jahrhundert nach Aries...
Das Dorf war verwüstet, als wäre ein Sturm hindurchgefegt, die verlassenen Häuser waren
nur noch Ruinen, nichts regte sich, weder Mensch noch Tier gaben einen Laut von sich.
Über die Dorfstraße, eine vormals prächtige gepflasterte Straße gesäumt von großen Bäu-
en, wanderten zwei einsame Gestalteten, die eine groß, die andere klein, letztere führ-
te zwei Pferde am Zügel.
Die größere der beiden Gestalten trug einen weiten dunklen Kapuzenumhang, es war ein
Mann, sein Gesicht lag größtenteils im Schatten der Kapuze, nur eine silberweiße Locke
lugte keck hervor. Unter dem Umhang trug er helle Reisekleidung bestehend aus einer le-
dernen Hose und einem einfachen Leinenhemd, dazu kamen staubige Stiefel. Seine Hand lag
auf dem verzierten Griff seines Schwertes, seine Augen huschten unstet umher, als such-
te er nach versteckten Angreifern.
Die andere Gestalt trug keine sichtbaren Waffen. Bis zur Hüfte war sie menschlich, die
Beine waren jedoch die eines Ziegenbockes, es war ein männlicher Satyr mit großen Augen
und Ohren und kleinen Hörnern auf der Stirn, er trug eine bläuliche Jacke und kurze Ho-
sen der gleichen Farbe. Der Satyr führte zwei Pferde mit Packsätteln an den Zügeln.
Der Mensch gab ein knappes Handzeichen stehenzubleiben, ging in die Hocke, zeichnete mit
den Fingern einen kaum wahrnehmbaren Abdruck im harten Boden neben der Straße nach. Es war
der Abdruck eines großen krallenbewehrten Fußes.
"Oger." war der einzige Kommentar, den er abgab. Seine Stimme war leise und kratzig.
"Master, glaubt Ihr wirklich, daß wir in diese Richtung weiterreisen sollten? Das ist jetzt
das dritte Dorf, das wir passieren, ohne einen Menschen anzutreffen. Und all die Zerstö-
rungen..."
Die Stimme des Satyr klang jung und nervös.
"Hast du Angst, Cube?"
"Ja, Master Winter."
"Dann ist es gut. Angst hält uns am Leben. Ich möchte wissen, was all dies verursacht hat.
Den Spuren nach muß hier eine Armee durchgezogen sein, den ganzen weiten Weg vom Gebirge
her."
"Wenn das stimmt, sollten wir vielleicht eine andere Richtung einschlagen."
"Du kannst jederzeit gehen, mein Ziel ist die Hauptstadt - und wenn ich richtig liege, sind
unsere Freunde in die gleiche Richtung unterwegs."
"Ja... Ich bleibe an Eurer Seite."
"Wie du meinst, Cube. Morgen sollten wir die Hauptstadt erreichen."
"Oder was noch davon übrig ist..."
[Titelmusik: zu Beginn actiongeladen, danach sanfter, romantischer]
Die Hauptstadt stand unter Belagerung. Der Ring der Angreifer war fest geschlossen, weder
Mann noch Maus konnte aus der dem Untergang geweihten Stadt entkommen.
Vereinzelt loderten Brände auf der anderen der Mauern, auf den Zinnen lagen die Leichen
gefallener Verteidiger.
Die Belagerer waren keine Menschen, sondern Wesen, die aus den tiefsten Tiefen des Abgrun-
des emporgestiegen waren, dämonische Kreaturen und ihre Diener, Halbmenschen und Untote.
Die beiden Reisenden standen auf einem Hügel und blickten auf die belagerte Stadt und das
Heerlager vor den Mauern herab.
"Master, können wir jetzt umkehren?"
"Nein..."
Der Mann hatte die Kapuze zurückgeschlagen. Er hatte helle Haut und ein scharf geschnitte-
nes Gesicht, sein Alter lag augenscheinlich zwischen dreißig und vierzig, seine Augen wa-
ren von eisgrauer Farbe.
"Es ist wie in meinem Traum..."
"Wegen eines Traumes wollt Ihr Euch in Gefahr begeben?"
"Von hier ist der Ruf ausgegangen. Cube, ich weiß, du verstehst nicht, aber an diesem Ort
wird sich mein Schicksal zumindest teilweise erfüllen."
"Master, ich bitte Euch, Ihr mögt der beste Schwertkämpfer der Östlichen Königreiche sein,
aber was wollt Ihr gegen diese Armee aus dem Abgrund ausrichten?"
Er lächelte.
"Selbst die beste Armee ist nichts ohne ihren Anführer."
Es wurde Nacht.
Im Laufe des Tages hatten die Belagerer die Stadttore gestürmt und die Verteidiger, die
sich ihnen entgegengestellt hatten, niedergemacht. Jetzt gab es nur noch die innere Stadt-
mauer, hinter der die Bewohner Schutz gesucht hatten.
Mit der Abenddämmerung war erstmals der Befehlshaber der Armee erschienen, ein rothäutiger
gehörnter Gigant in schwarzer Rüstung und mit einem Gürtel, der aus aufgereihten Schädeln
bestand.
Er war Luziferon, der Fürst des Abgrundes.
Mit donnernder Stimme forderte er die Verteidiger heraus, für jeden, der den Mut besaß,
sich ihm zum Zweikampf zu stellen, würde er zehn anderen Bürgern den Abzug gestatten. Und
sollte er im Duell unterliegen, würden er und sein Heer abziehen.
Ein lautes Krachen ließ den Fürsten des Abgrundes herumfahren.
Mehrere Zelte und Belagerungsgerätschaften standen in hellen Flammen.
Und durch die Flammen schritt eine Gestalt mit brennenden eisgrauen Augen auf ihn zu.
"Ich hoffe, diese Herausforderung gilt auch für mich", flüsterte Winter.
Luziferon lachte.
"Komm nur her, sterblicher Wurm, ich werde dich zerquetschen."
Der Mensch lächelte.
Der Dämon ließ sich seine Flammenklinge reichen.
"Worauf wartest du, Mensch, zieh dein Schwert, oder lauf!"
Das Lächeln des anderen erstarb, machte eiskalter Entschlossenheit Platz. Er streckte den
Arm aus, warf drei Eiskristalle in die Luft. Die Kristalle wirbelten blitzschnell umher,
bis sie zu schnell für das menschliche Auge waren. Aus dem Lichtwirbel bildete sich eine
Schwertklinge aus Eis.
Eine Eisschicht überzog den ausgestreckten Arm, formte eine Brustplatte, umschloß den an-
deren Arm und die Beine.
Winter winkelte den Arm an, zeigte, daß ihn sein Frostpanzer nicht behinderte.
Der Dämon zog die Augenbrauen hoch.
"Die Eisige Wehr... es ist lange her, seit ich diesen Zauber beobachten konnte", flüster-
te er. Selbst flüsternd war seine Stimme noch immer ein lautes Donnern. "Vielleicht bist
du doch ein würdiger Gegner..."
Der Kampf begann.
Feuer traf auf Eis, Stahl auf Stahl...
Die Kontrahenten schenkten einander nichts, wieder und wieder prallten die Klingen auf-
einander. Dann gab der Mensch nach. Die Flammenklinge zuckte über seinen Leib, schleuder-
te ihn zurück. Er preßte den freien Arm gegen die Bauchwunde, kam keuchend wieder auf
die Beine.
Der Dämon verbeugte sich spöttisch.
"Soviel Mühe hat mir schon lange kein Gegner mehr bereitet. Es war ein Vergnügen, Sterb-
licher."
"Ja, mir auch."
Und damit ließ er sein Schwert los und malte mit den Fingern arkane Symbole in die Luft,
flüsterte zugleich uralte Worte der Verbannung.
"Was...?"
Mit aufgerissenen Augen erkannte der Dämon den Bannkreis, den sein Gegner während des
Kampfes um ihn gezogen hatte, den Bannkreis, aus dem er ihn selbst geschleudert hatte.
Und er wurde der Macht des Kreises gewahr.
"Nein! Du bist es..."
Der andere lächelte mit verzerrtem Gesicht.
"Fahr zur Hölle!" flüsterte er.
Luziferon verschwand hinter einer Flammenwand, sein Schrei der Enttäuschung war das letz-
te, was von ihm blieb, als er in den Abgrund zurückkehrte und seine Armee mitnahm.
Der Wanderer brach zusammen, zugleich endete sein Zauber, erlosch Winters Eisige Wehr...
[Vorschau: Von seinen Verletzungen gesundet läßt der Wanderer sich in der Hauptstadt im
Dienst der Königlichen Familie nieder, eines Nachts führt ihn der Ruf des Schicksals in
die Nacht hinaus...]
[Abspann]
***
Während der Sendung war Shinjis Blick immer wieder zu Rei hinübergeirrt, die von den Er-
eignissen auf der Mattscheibe fasziniert schien. Als der Abspann lief, wandte sie endlich
den Blick ab, richtete sich auf, sah zu ihm, nickte.
"Du hattest recht."
"Womit?"
"Es hat mir gefallen. Können wir das... wiederholen?"
"Gern."
"Faszinierend... er hätte nicht kämpfen müssen, hätte einfach weiterreisen können... so
wie du damals, als der Engel Sachiel angriff... weshalb bist du geblieben und in Einheit-
01 gestiegen?"
"Ich... wegen Vater..."
"Ja?"
"Er hat mich einen Feigling genannt... aber dazu hatte er kein Recht, nicht nachdem er
mich im Stich gelassen hat..."
Für einen Augenblick spürte sie Zorn in sich aufsteigen, der jedoch sogleich wieder ver-
puffte, als sie in seine Augen sah, dort seiner Erinnerung an die seelische Verletzung
gewahr wurde.
"Du wolltest dich beweisen."
"Ja."
"Nur deshalb?"
"... Nein."
"Weshalb noch?"
"Sie hätten sonst dich hinausgeschickt."
"Ich erinnere mich daran, dich gesehen zu haben... du wolltest mir helfen... du hast mich
beschützt..."
"Du warst verletzt."
"Also bist du auch für mich hinausgegangen."
"Ich... hm... uhm..."
Er schluckte.
"Ja."
"Für jemanden, den du nie zuvor getroffen hast."
"..."
"Du bist kein Feigling, Shinji. Dein Herz ist edler, als du es dir selbst zugestehen
willst."
"Rei..."
Er ließ zu, daß sie seine Hand nahm und mit der Fingerspitze sanft die hellen Linien
vernarbter Haut nachzeichnete.
"Nur zwei Menschen waren jemals bereit, für mich Schmerzen zu empfinden, dein Vater...
und du. Dafür bin ich ihm loyal... und dafür werde ich an deiner Seite stehen, wann im-
mer du mich brauchst."
Noch weitere Worten lagen auf ihrer Zunge, doch sie verbat sich selbst, diese Worte aus-
zusprechen...
"Ich..."
"Es ist spät. Ich gehe schlafen. Du solltest dich auch hinlegen. Gute Nacht."
"Ja... Gute Nacht, Rei."
***
"Freundschaft... Freunde zu haben... Ich gefalle ihm... er mag mein Lächeln... Er ist an-
ders als der Kommandant, weicher... ich mag ihn... Zeit... früher war sie mir egal, war
ein Tag wie der andere... aber jetzt..."
***
Der nächste Tag brachte die Neuigkeit, daß in Bälde EVA-02 und das Second Children aus
Deutschland eintreffen würden. Zugleich versagte Shinji bei den Zielübungen ohne Hilfe
der elektronischen Zielvorrichtung vollkommen.
"Keine Hand-Auge-Koordination", stöhnte Misato.
"Alles Übungssache", seufzte Ritsuko. "Aber sieh dir das mal an - dein Plan scheint
Früchte zu tragen."
"Sind das Reis Synchronisationsdaten?"
"Ja, fünf Punkte Anstieg, obwohl sie seit dem Kampf gegen Ramiel kein Training mehr hat-
te. EVA-00 scheint einfach weniger Widerstand zu leisten."
"Widerstand?"
"Du weißt doch noch, der Aktivierungstest, bei dem Rei verletzt wurde. EVA-00 hat sich
gegen sie gewehrt. Und auch gegen Shinji bei den Kreuztests."
"Natürlich erinnere ich mich."
"Das Steuerungsprogramm für EVA-00 ist bei weitem nicht so ausgefeilt wie bei EVA-01,
aber inzwischen scheint Rei es in den Griff bekommen zu haben."
"Das ist gut."
"Natürlich ist das gut, es erhöht die Überlebenschance der Piloten. Willst du Rei weiter-
hin bei dir beherbergen?"
"Ja, sie stört nicht und ist eigentlich ein ganz angenehmer Gast."
"Ah, noch jemand, auf den du deine Haushaltspflichten abwälzen kannst."
"Ritsuko..."
"Ich werde in meinen Bericht eine Empfehlung schreiben, daß sie bei dir bleiben soll.
Kommandant Ikari wird das vielleicht nicht gefallen, schließlich verliert er mit jedem
Tag etwas von seinem Einfluß auf sie..."
"Und?"
"Gut, wir sind also einer Meinung." Ritsuko kicherte. "Wie in den alten Zeiten..."
"Ja."
"Hast du dir Gedanken wegen des Second Children gemacht?"
"Wegen Asuka? Nein."
"Ach ja, du kennst sie ja noch aus deiner Zeit bei der deutschen Abteilung."
"Das liegt auch schon wieder über ein Jahr zurück. Sie ist recht unabhängig... aber auch
undiszipliniert und starrköpfig."
"Dann paßt sie ja genau zu unseren beiden anderen Piloten, quasi als Gegengewicht. Ich
meinte eher, ob du sie auch bei dir aufnehmen willst."
"Misatos Piloten-WG?" Sie lachte. "Das würde recht eng werden, andererseits, wenn Shinji
in das kleinere der beiden Zimmer zieht und Rei und Asuka in das größere..."
"Glaubst du ernsthaft, die beiden kämen miteinander klar?"
"Hm, hängt davon ab, wie Rei sich entwickelt. Im Augenblick..."
"Ich habe Asukas Psychogramm auch gesehen."
"Ja... Wahrscheinlich würden sie sich an die Kehle gehen..."
***
Shinji saß wieder über seinen Hausaufgaben, als Misato und Rei von ihrer Einkaufstour zu-
rückkamen. Beide trugen jede zwei pralle Taschen.
"Wir sind zurück!" rief Misato und stieß Rei an. "Zeig dich ihm mal."
Der Junge sah Rei an und suchte nach Worten.
Anstatt ihrer Schuluniform trug sie Jeans und einen Pullover, dazu Schuhe mit leichten
Absätzen, ihr Blick war zu Boden gerichtet, als wäre es ihr peinlich.
Hinter ihr tauchte Misato auf.
"Na, Shinji, was sagst du? Steht ihr das?"
"Ja... Uhm, Rei, du siehst... ah... toll aus..."
Prompt wurde er wieder rot.
"Na, ich hab´s doch gesagt." grinste Misato.
"Ja." hauchte Rei und hob den Blick.
"Uhm, Rei, wie waren die Tests?"
"Zufriedenstellend."
"Schön."
"Shinji, ich habe gehört, daß du heute vormittag Probleme hattest."
Er senkte den Blick.
"Ja. Doktor Akagi sagt, ich muß mehr üben."
"Ich wüßte einen Weg, vorausgesetzt, Misato-san erlaubt es."
"Was ist es denn?"
"Hm... eine... Überraschung."
Er schnappte nach Luft.
"Misato-san, können wir in meinem Zimmer reden?"
"Natürlich, Rei."
Die beiden verschwanden nach hinten.
Shinji spitzte die Ohren, hörte aber nur Getuschel und dann Misatos erstaunten Ruf:
"Wirklich?"
Kurz darauf tauchte Rei wieder auf, sie trug wieder ihre normalen Schuhe, hatte ansonsten
ihr neues Outfit beibehalten, dazu trug sie die dunkle Jacke, die sich bei ihren Sachen
befunden hatte.
"Komm mit."
Er stand auf und folgte ihr.
***
"Eine Billiardhalle?" fragte der junge Ikari überrascht, als er erkannte, was Reis Ziel
war.
"Ja." war ihre einfache Antwort, ehe sie die Halle betrat.
"Uhm, dürfen wir da überhaupt rein?"
"Hast du deinen NERV-Ausweis dabei?"
"Ja."
"Dann gibt es kein Problem. Folge mir einfach."
In der Halle roch es nach Zigarettenrauch und Bier, die Sicht war teilweise von Rauch-
schwaden behindert.
Hinter der Theke neben der Tür stand ein breitschultriger Kahlkopf und polierte Gläser.
"Ah, Ayanami, mal wieder hier?"
Sie nickte.
"Ja, Kuro-sama."
"Gehört dein Freund da auch zu NERV?"
"Ja."
"Uhm, Shinji Ikari." fühlte Shinji sich veranlaßt, sich vorzustellen.
"Hrmpf. Gendos Sohn?"
"Sie kennen meinen Vater?"
"Junge, dein alter Herr war früher sehr oft hier, ich betreibe diesen Laden seit über
zwanzig Jahren. Kleiner Tip, spiel nicht mit Ayanami um Geld."
"Uh... ja."
"Na, dann, viel Spaß. Dein üblicher Tisch ist frei."
"Gut." antwortete Rei und zog Shinji mit sich in den hinteren Teil des großen Raumes.
"Ah, Rei, was bedeutet das alles? Woher kennst du diesen Ort?"
"Kommandant Ikari hat mich hierher mitgenommen."
"Vater..."
"Ich hatte ähnliche Probleme."
"Du?"
"Ja. Glaubst du, ich hätte nicht üben müssen?"
"Natürlich nicht... aber, ah, du wirkst immer so, als hättest du alles unter Kontrolle."
"Das gehört zum Job. Unachtsamkeit kann tödlich sein."
"Ja..." murmelte er mit Bitterkeit in der Stimme.
"Möchtest du immer noch, daß ich dir helfe?"
Er schluckte.
"Ja."
"Gut. Sieh her."
Sie holte einen der Billiardstöcke aus dem Regal an der Wand und entfernte die dreiecki-
ge Halterung der Kugeln. Mit ausdruckslosem Gesicht beugte sie sich vor, zielte mit dem
Queue und stieß die weiße Kugel an. Die anderen Kugeln verteilten sich auf dem Tisch, ei-
ne der zweifarbigen landete in der oberen Ecke. Sie richtete sich auf, besah sich die
Lage, wanderte um den Tisch, ging wieder in Position, nannte eine Kugel und eine Ecke,
beförderte die genannte Kugel in die festgelegte Ecke, nahm ihre Wanderung wieder auf.
Shinji beobachtete mit immer größer werdenden Augen, wie Rei den Tisch abräumte, dann die
Kugeln wieder aufbaute und ihm den Stock in die Hand drückte.
"Jetzt du."
"Uh..."
Er nahm dieselbe Haltung ein, die er bei Rei gesehen hatte, peilte die weiße Kugel und
über sie die anderen an.
"Nein." flüsterte Rei in sein Ohr. Ihr warmer Atem strich über seine Haut.
Sein Herz übersprang einen Schlag, er zuckte zusammen, stieß die weiße Kugel zur Seite.
Sie legte die Kugel wieder zurück, stellte sich hinter ihn und korrigierte seine Haltung.
Ihr Atem streifte erneut sein Ohr, sein Herz schlug schneller, die Finger krampften sich
um das Queue.
"Nicht nervös werden..."
"Rei..."
Er blickte über die Schulter, sah ein schelmisches Lächeln in ihren Augen, zwang sich zur
Ruhe.
"Du hast dich sehr verändert..."
"Du machst das. Und jetzt konzentriere dich auf die Kugeln."
"Ja."
***
Rückblick:
Er kannte Rei Ayanami schon vor den Angriffen der Engel, eines Tages, es muß so im Jahre
2007 gewesen sein, tauchte Gendo Rokubungi... nein, damals hieß er ja schon Ikari, in
seinen Räumen auf. Die Kleine war damals gerade imstande, über die Tische zu blicken.
Es war schon eine Weile her gewesen, seit Roku... Ikari das letzte Mal in seinem Laden
gewe-sen war, vor seiner Heirat. Er hat sein Studium zu gutem Teil mit Gewinnen finan-
ziert, die er in seinen Räumen gemacht hatte. Er konnte nicht behaupten, daß er Gendo
besonders mochte, er hat oft Streit angezettelt und sich mit anderen geprügelt, aber was
soll´s, er schien ganz ruhig.
Das Mädchen hielt er anfangs für seine Tochter, dafür sprach auch der Ring an Ikaris
Finger, erst später, auf seine Frage hin, erklärte er ihm, daß er sich um die Tochter
eines Freundes kümmerte.
Das hätte ihn schon nachdenklich machen müssen, Ikari und Freunde...
Später kam Ayanami auch ohne ihn in meinen Laden, als er sie darauf aufmerksam machte,
daß sie nicht alt genug war, tauchte am nächsten Tag Ikari bei ihm auf, hielt ihm seinen
NERV-Ausweis unter die Nase und erklärte ihm, daß die gewöhnlichen Regeln nicht für Rei
gelten würden.
Und so begann es.
Sie war ein stilles Mädchen, irgendwie seltsam, ein Kind ohne Eltern.
Doch sie konnte sich wehren, das zeigte sich bald.
Sie kam immer allein, nie mehr in Begleitung, Ikari ließ sich nicht mehr blicken.
Bis zu jenem Tag...
Gegenwart:
Er war überrascht, als Ayanami mit dem Jungen auftauchte, es war Nachmittag, etwa eine
Stunde, bevor er meinen Laden gewöhnlicherweise öffnete. Dafür gab es zwei Gründe, wie
schon gesagt worden war, war sie bisher immer allein aufgetaucht. Und der Junge sah aus
wie sein Vater in jungen Jahren.
Sie nannte ihn Kuro-sama, wie schon seit sechs Jahren, seit er ihr erstmals mehrere Ki-
sten um einen der Tische aufgestellt hatte, damit sie besser sehen konnte, nicht, um Gen-
do einen Gefallen zu tun, sondern weil er in gewisser Weise mitleid mit ihren fast ver-
zweifelten Versuchen gehabt hatte, über die Tischkante zu sehen, während sie das Queue
über ihren Kopf hielt.
Mittlerweile benötigte sie längst keine derartigen Hilfsmittel mehr, Ayanami war zu ei-
nem hübschen jungen Mädchen herangewachsen, obwohl sie das selbst nicht zu registrieren
schien.
Wie er die beiden so beobachtete, wurde immer mehr überrascht. Ayanami war... offen,
nicht so wie andere Mädchen ihres Alters, aber wie schon gesagt, sie war immer etwas
seltsam ge-wesen. Zum Teil erschien sie immer ernster, ja, erwachsener als Gleichaltrige,
nicht daß er sich da besonders auskannte, aber mit der Zeit fiel einem so einiges auf.
Aber in Gegenwart des Jungen... Er war fast versucht zu sagen, daß sie ihn sehr mochte.
Als sie sich hinter ihn stellte und seine Haltung korrigierte, hatte er einen Moment lang
erwartet, daß sich bei ihm heftiges Nasenbluten einstellen würde. Er hatte noch nie ge-
sehen, daß sie einem anderen Menschen so nahe gekommen war.
***
"Es war... lustig... Spaß... ich kann mich nicht erinnern, vorher Spaß gehabt zu haben...
Der Kommandant sagt immer, Gefühle wären irrelevant... kann er sich irren? Kann jemand
wie der Kommandant sich irren? Zeit... früher sie mir egal... doch jetzt bedeutet mir
jeder Moment etwas... nein, nicht jeder Moment, sondern jeder Augenblick, den ich mit
ihm verbringe..."
***
Das war erst der Anfang. Die nächsten zwei Wochen setzte Rei ihr Training mit Shinji
fort. Dann kam der Moment, in dem er imstande war, trotz ihrer Ablenkungen ruhig zu
bleiben. Zugleich zeigte das Training entsprechende Erfolge während der Übungen im EVA-
Testcenter.
Am bald darauffolgenden Valentinstag fand Rei eine herzförmige mit Pralinen gefüllte
Schachtel auf ihrem Kopfkissen und eine einzelne Rose in einer Vase auf dem Schreitisch,
unter der Vase steckte ein Zettel, auf den zwei Worte geschrieben waren: ´Danke, Shinji.´
Rei wußte nicht warum, doch zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich glücklich...
Wilhelmshaven, Deutschland:
"Und du kannst wirklich nicht mitkommen, Onkel?"
Das rothaarige Mädchen sah den Mann, der neben ihr am Kai stand, fragend an. Ihr Name
war Asuka Soryu Langley. Sie trug ein knielanges gelbes Kleid mit tiefem Ausschnitt und
ganzen Ärmeln, dazu rote Schuhe und weiße Socken, ihre Hände steckten in roten Handschu-
hen. Um den Hals trug sie eine Kette mit einem kleinen Silberkreuz. Sie war vierzehn
Jahre alt.
Der Mann neben ihr war nicht wirklich ihr Onkel, jedenfalls bestand keine Blutsverwandt-
schaft. Auf der anderen Seite hatte er sich seit dem Tod ihrer Mutter um sie gekümmert.
Er hatte schwarzes Haar und trug eine dunkle Uniform.
"Ich würde gern, Asuka, war man braucht jedoch mich hier. Aber Major Kaji wird ja mit-
kommen."
"Ich wünschte, ihr könntet beide mit nach Japan kommen, Onkel Wolf."
Er lächelte traurig.
"Sobald ich etwas Zeit habe, komme ich dich besuchen, versprochen."
"Du wirst nie genug Zeit haben, ich weiß es doch. ODIN hetzt dich von einem Ende Europas
zum anderen und dann noch einmal quer durch Afrika."
"Hm... ja. Aber du weißt, daß ich stolz auf dich bin."
"Danke."
Ein weiterer Mann kam hinzu, Ryoji Kaji.
Asuka lächelte ihn mit strahlenden Augen an.
"Hallo, Kaji!"
"Hallo, Asuka, Commander."
"Major."
Der Dunkelgekleidete nickte dem anderen zu.
"Es ist alles verladen, wir werden plangemäß auslaufen."
"Tja, dann ist es wohl soweit."
Er streckte Kaji die Hand entgegen.
"Passen Sie gut auf Asuka auf, Major."
"Das werde ich."
Kaji ergriff die Hand und drückte sie.
"Und auf ihre eigene Fracht."
"Natürlich."
"Gut. Gute Reise."
"Danke."
"Asuka?"
"Ja, Onkel?"
"Halt dich tapfer. Und wenn du glaubst, es nicht mehr auszuhalten, dann ruf mich an, ja?"
"Ja."
"Vergiß deine Ausbildung nicht, egal, was sich dir in den Weg stellt, du wirst jedes
Hindernis überwinden, Schatz. Und tritt diese Engel dahin, wo es wehtut."
"Das werde ich, Onkel."
Sie war bemüht, hart zu bleiben, doch die einsame Träne, die über ihre Wange lief, ver-
riet ihre wahren Gefühle.
Er umarmte sie, lächelte, ohne sich die Traurigkeit, die er in Wirklichkeit verspürte,
anmerken zu lassen.
"Alles Gute."
"Bitte, gib Tante Ann einen Kuß von mir, ja? Und sage ihr, daß es mir leidtut, daß ich
sie nicht im Krankenhaus besuchen konnte."
"Das werde ich."
Er sah ihnen nach, wie sie die Gangway der ´Over the Rainbow´ hinaufstiegen, winkte, als
sie an der Reling standen und das Schiff schließlich auslief und wandte sich dann ab,
erlaubte sich selbst ein paar Tränen...
***
Misatos Apartment, Tokio-03, Japan:
Auf der anderen Seite der Welt saßen Shinji Ikari und Rei Ayanami auf dem Sofa vor dem
Fernseher, Rei las in einem Buch, während Shinji in der Programmzeitschrift blätterte.
"He, Rei..."
"Hm?"
"Heute hat die neue Animationsserie von Gainax Premiere, Princess Maker."
"Was ist das?"
"Keine Ahnung... Hm, nach dem erfolgreichen Computerspiel... aber von Gainax, was die
machen, muß einfach gut sein. Wollen wir uns die erste Folge ansehen?"
"Ich weiß nicht."
"Wieso?"
"Ich sehe eigentlich kein Fernsehen."
"Du hast ja auch keinen Fernseher in deiner Wohnung, oder?"
Er erinnerte sich nicht, ein solches Gerät bei seinem Besuch gesehen zu haben, anderer-
seits war es auch ziemlich möglich, daß er es übersehen hatte.
"Nein."
"Na, dann..."
"Gut, wenn du es willst."
"Rei... wenn du es nicht willst, will ich dich nicht irgendwie zwingen."
Wieder sah sie ihn an, klappte dann das Buch zu.
"Ich denke, ich kann es versuchen."
"Ah... Sitzt du bequem? Warte..."
Er holte ein großes Kissen und gab es ihr.
"Für deinen Rücken... und..."
Er schob den Sessel heran.
"...jetzt kannst du die Füße hochlegen..."
Rei blickte ihn blinzelnd an.
"Du möchtest wirklich, daß ich mich wohlfühle..."
"Natürlich."
Sie rutschte ein Stück nach vorn, um Platz für das weiche Kissen zu schaffen, dann
streckte sie die Beine aus.
"Ja, sehr bequem."
"Falls du eine Decke möchtest..."
"Shinji..."
Ihr Blick hatte etwas weiches, amüsiertes.
"...dann hole ich mir eine."
"Uhm, ja."
Er schaltete den Fernseher ein, legte die Fernbedienung auf den niedrigen Tisch und
machte es sich neben ihr auf dem Sofa bequem.
Rei lehnte sich an ihn.
Shinji versteifte sich.
"Rei, warum..."
Sie rückte ein Stück von ihm ab.
"Ist es dir unangenehm?" fragte sie unsicher.
Sie wußte selbst nicht genau, weshalb sie seine Nähe gesucht hatte, nur daß sie den
kurzen Moment als angenehm empfunden hatte.
"...nein..." flüsterte er leise, verfluchte sich selbst für seine Reaktion. Im nächsten
Moment hatte er Schwierigkeiten ein breites Grinsen zu unterdrücken, als sie sich wie-
der an ihn lehnte und seine Hormone erneut für ein, zwei Sekunden verrückt spielten.
***
Die Westlichen Königreiche, das 13. Jahrhundert nach Aries...
Das Dorf war verwüstet, als wäre ein Sturm hindurchgefegt, die verlassenen Häuser waren
nur noch Ruinen, nichts regte sich, weder Mensch noch Tier gaben einen Laut von sich.
Über die Dorfstraße, eine vormals prächtige gepflasterte Straße gesäumt von großen Bäu-
en, wanderten zwei einsame Gestalteten, die eine groß, die andere klein, letztere führ-
te zwei Pferde am Zügel.
Die größere der beiden Gestalten trug einen weiten dunklen Kapuzenumhang, es war ein
Mann, sein Gesicht lag größtenteils im Schatten der Kapuze, nur eine silberweiße Locke
lugte keck hervor. Unter dem Umhang trug er helle Reisekleidung bestehend aus einer le-
dernen Hose und einem einfachen Leinenhemd, dazu kamen staubige Stiefel. Seine Hand lag
auf dem verzierten Griff seines Schwertes, seine Augen huschten unstet umher, als such-
te er nach versteckten Angreifern.
Die andere Gestalt trug keine sichtbaren Waffen. Bis zur Hüfte war sie menschlich, die
Beine waren jedoch die eines Ziegenbockes, es war ein männlicher Satyr mit großen Augen
und Ohren und kleinen Hörnern auf der Stirn, er trug eine bläuliche Jacke und kurze Ho-
sen der gleichen Farbe. Der Satyr führte zwei Pferde mit Packsätteln an den Zügeln.
Der Mensch gab ein knappes Handzeichen stehenzubleiben, ging in die Hocke, zeichnete mit
den Fingern einen kaum wahrnehmbaren Abdruck im harten Boden neben der Straße nach. Es war
der Abdruck eines großen krallenbewehrten Fußes.
"Oger." war der einzige Kommentar, den er abgab. Seine Stimme war leise und kratzig.
"Master, glaubt Ihr wirklich, daß wir in diese Richtung weiterreisen sollten? Das ist jetzt
das dritte Dorf, das wir passieren, ohne einen Menschen anzutreffen. Und all die Zerstö-
rungen..."
Die Stimme des Satyr klang jung und nervös.
"Hast du Angst, Cube?"
"Ja, Master Winter."
"Dann ist es gut. Angst hält uns am Leben. Ich möchte wissen, was all dies verursacht hat.
Den Spuren nach muß hier eine Armee durchgezogen sein, den ganzen weiten Weg vom Gebirge
her."
"Wenn das stimmt, sollten wir vielleicht eine andere Richtung einschlagen."
"Du kannst jederzeit gehen, mein Ziel ist die Hauptstadt - und wenn ich richtig liege, sind
unsere Freunde in die gleiche Richtung unterwegs."
"Ja... Ich bleibe an Eurer Seite."
"Wie du meinst, Cube. Morgen sollten wir die Hauptstadt erreichen."
"Oder was noch davon übrig ist..."
[Titelmusik: zu Beginn actiongeladen, danach sanfter, romantischer]
Die Hauptstadt stand unter Belagerung. Der Ring der Angreifer war fest geschlossen, weder
Mann noch Maus konnte aus der dem Untergang geweihten Stadt entkommen.
Vereinzelt loderten Brände auf der anderen der Mauern, auf den Zinnen lagen die Leichen
gefallener Verteidiger.
Die Belagerer waren keine Menschen, sondern Wesen, die aus den tiefsten Tiefen des Abgrun-
des emporgestiegen waren, dämonische Kreaturen und ihre Diener, Halbmenschen und Untote.
Die beiden Reisenden standen auf einem Hügel und blickten auf die belagerte Stadt und das
Heerlager vor den Mauern herab.
"Master, können wir jetzt umkehren?"
"Nein..."
Der Mann hatte die Kapuze zurückgeschlagen. Er hatte helle Haut und ein scharf geschnitte-
nes Gesicht, sein Alter lag augenscheinlich zwischen dreißig und vierzig, seine Augen wa-
ren von eisgrauer Farbe.
"Es ist wie in meinem Traum..."
"Wegen eines Traumes wollt Ihr Euch in Gefahr begeben?"
"Von hier ist der Ruf ausgegangen. Cube, ich weiß, du verstehst nicht, aber an diesem Ort
wird sich mein Schicksal zumindest teilweise erfüllen."
"Master, ich bitte Euch, Ihr mögt der beste Schwertkämpfer der Östlichen Königreiche sein,
aber was wollt Ihr gegen diese Armee aus dem Abgrund ausrichten?"
Er lächelte.
"Selbst die beste Armee ist nichts ohne ihren Anführer."
Es wurde Nacht.
Im Laufe des Tages hatten die Belagerer die Stadttore gestürmt und die Verteidiger, die
sich ihnen entgegengestellt hatten, niedergemacht. Jetzt gab es nur noch die innere Stadt-
mauer, hinter der die Bewohner Schutz gesucht hatten.
Mit der Abenddämmerung war erstmals der Befehlshaber der Armee erschienen, ein rothäutiger
gehörnter Gigant in schwarzer Rüstung und mit einem Gürtel, der aus aufgereihten Schädeln
bestand.
Er war Luziferon, der Fürst des Abgrundes.
Mit donnernder Stimme forderte er die Verteidiger heraus, für jeden, der den Mut besaß,
sich ihm zum Zweikampf zu stellen, würde er zehn anderen Bürgern den Abzug gestatten. Und
sollte er im Duell unterliegen, würden er und sein Heer abziehen.
Ein lautes Krachen ließ den Fürsten des Abgrundes herumfahren.
Mehrere Zelte und Belagerungsgerätschaften standen in hellen Flammen.
Und durch die Flammen schritt eine Gestalt mit brennenden eisgrauen Augen auf ihn zu.
"Ich hoffe, diese Herausforderung gilt auch für mich", flüsterte Winter.
Luziferon lachte.
"Komm nur her, sterblicher Wurm, ich werde dich zerquetschen."
Der Mensch lächelte.
Der Dämon ließ sich seine Flammenklinge reichen.
"Worauf wartest du, Mensch, zieh dein Schwert, oder lauf!"
Das Lächeln des anderen erstarb, machte eiskalter Entschlossenheit Platz. Er streckte den
Arm aus, warf drei Eiskristalle in die Luft. Die Kristalle wirbelten blitzschnell umher,
bis sie zu schnell für das menschliche Auge waren. Aus dem Lichtwirbel bildete sich eine
Schwertklinge aus Eis.
Eine Eisschicht überzog den ausgestreckten Arm, formte eine Brustplatte, umschloß den an-
deren Arm und die Beine.
Winter winkelte den Arm an, zeigte, daß ihn sein Frostpanzer nicht behinderte.
Der Dämon zog die Augenbrauen hoch.
"Die Eisige Wehr... es ist lange her, seit ich diesen Zauber beobachten konnte", flüster-
te er. Selbst flüsternd war seine Stimme noch immer ein lautes Donnern. "Vielleicht bist
du doch ein würdiger Gegner..."
Der Kampf begann.
Feuer traf auf Eis, Stahl auf Stahl...
Die Kontrahenten schenkten einander nichts, wieder und wieder prallten die Klingen auf-
einander. Dann gab der Mensch nach. Die Flammenklinge zuckte über seinen Leib, schleuder-
te ihn zurück. Er preßte den freien Arm gegen die Bauchwunde, kam keuchend wieder auf
die Beine.
Der Dämon verbeugte sich spöttisch.
"Soviel Mühe hat mir schon lange kein Gegner mehr bereitet. Es war ein Vergnügen, Sterb-
licher."
"Ja, mir auch."
Und damit ließ er sein Schwert los und malte mit den Fingern arkane Symbole in die Luft,
flüsterte zugleich uralte Worte der Verbannung.
"Was...?"
Mit aufgerissenen Augen erkannte der Dämon den Bannkreis, den sein Gegner während des
Kampfes um ihn gezogen hatte, den Bannkreis, aus dem er ihn selbst geschleudert hatte.
Und er wurde der Macht des Kreises gewahr.
"Nein! Du bist es..."
Der andere lächelte mit verzerrtem Gesicht.
"Fahr zur Hölle!" flüsterte er.
Luziferon verschwand hinter einer Flammenwand, sein Schrei der Enttäuschung war das letz-
te, was von ihm blieb, als er in den Abgrund zurückkehrte und seine Armee mitnahm.
Der Wanderer brach zusammen, zugleich endete sein Zauber, erlosch Winters Eisige Wehr...
[Vorschau: Von seinen Verletzungen gesundet läßt der Wanderer sich in der Hauptstadt im
Dienst der Königlichen Familie nieder, eines Nachts führt ihn der Ruf des Schicksals in
die Nacht hinaus...]
[Abspann]
***
Während der Sendung war Shinjis Blick immer wieder zu Rei hinübergeirrt, die von den Er-
eignissen auf der Mattscheibe fasziniert schien. Als der Abspann lief, wandte sie endlich
den Blick ab, richtete sich auf, sah zu ihm, nickte.
"Du hattest recht."
"Womit?"
"Es hat mir gefallen. Können wir das... wiederholen?"
"Gern."
"Faszinierend... er hätte nicht kämpfen müssen, hätte einfach weiterreisen können... so
wie du damals, als der Engel Sachiel angriff... weshalb bist du geblieben und in Einheit-
01 gestiegen?"
"Ich... wegen Vater..."
"Ja?"
"Er hat mich einen Feigling genannt... aber dazu hatte er kein Recht, nicht nachdem er
mich im Stich gelassen hat..."
Für einen Augenblick spürte sie Zorn in sich aufsteigen, der jedoch sogleich wieder ver-
puffte, als sie in seine Augen sah, dort seiner Erinnerung an die seelische Verletzung
gewahr wurde.
"Du wolltest dich beweisen."
"Ja."
"Nur deshalb?"
"... Nein."
"Weshalb noch?"
"Sie hätten sonst dich hinausgeschickt."
"Ich erinnere mich daran, dich gesehen zu haben... du wolltest mir helfen... du hast mich
beschützt..."
"Du warst verletzt."
"Also bist du auch für mich hinausgegangen."
"Ich... hm... uhm..."
Er schluckte.
"Ja."
"Für jemanden, den du nie zuvor getroffen hast."
"..."
"Du bist kein Feigling, Shinji. Dein Herz ist edler, als du es dir selbst zugestehen
willst."
"Rei..."
Er ließ zu, daß sie seine Hand nahm und mit der Fingerspitze sanft die hellen Linien
vernarbter Haut nachzeichnete.
"Nur zwei Menschen waren jemals bereit, für mich Schmerzen zu empfinden, dein Vater...
und du. Dafür bin ich ihm loyal... und dafür werde ich an deiner Seite stehen, wann im-
mer du mich brauchst."
Noch weitere Worten lagen auf ihrer Zunge, doch sie verbat sich selbst, diese Worte aus-
zusprechen...
"Ich..."
"Es ist spät. Ich gehe schlafen. Du solltest dich auch hinlegen. Gute Nacht."
"Ja... Gute Nacht, Rei."
***
"Freundschaft... Freunde zu haben... Ich gefalle ihm... er mag mein Lächeln... Er ist an-
ders als der Kommandant, weicher... ich mag ihn... Zeit... früher war sie mir egal, war
ein Tag wie der andere... aber jetzt..."
***
Der nächste Tag brachte die Neuigkeit, daß in Bälde EVA-02 und das Second Children aus
Deutschland eintreffen würden. Zugleich versagte Shinji bei den Zielübungen ohne Hilfe
der elektronischen Zielvorrichtung vollkommen.
"Keine Hand-Auge-Koordination", stöhnte Misato.
"Alles Übungssache", seufzte Ritsuko. "Aber sieh dir das mal an - dein Plan scheint
Früchte zu tragen."
"Sind das Reis Synchronisationsdaten?"
"Ja, fünf Punkte Anstieg, obwohl sie seit dem Kampf gegen Ramiel kein Training mehr hat-
te. EVA-00 scheint einfach weniger Widerstand zu leisten."
"Widerstand?"
"Du weißt doch noch, der Aktivierungstest, bei dem Rei verletzt wurde. EVA-00 hat sich
gegen sie gewehrt. Und auch gegen Shinji bei den Kreuztests."
"Natürlich erinnere ich mich."
"Das Steuerungsprogramm für EVA-00 ist bei weitem nicht so ausgefeilt wie bei EVA-01,
aber inzwischen scheint Rei es in den Griff bekommen zu haben."
"Das ist gut."
"Natürlich ist das gut, es erhöht die Überlebenschance der Piloten. Willst du Rei weiter-
hin bei dir beherbergen?"
"Ja, sie stört nicht und ist eigentlich ein ganz angenehmer Gast."
"Ah, noch jemand, auf den du deine Haushaltspflichten abwälzen kannst."
"Ritsuko..."
"Ich werde in meinen Bericht eine Empfehlung schreiben, daß sie bei dir bleiben soll.
Kommandant Ikari wird das vielleicht nicht gefallen, schließlich verliert er mit jedem
Tag etwas von seinem Einfluß auf sie..."
"Und?"
"Gut, wir sind also einer Meinung." Ritsuko kicherte. "Wie in den alten Zeiten..."
"Ja."
"Hast du dir Gedanken wegen des Second Children gemacht?"
"Wegen Asuka? Nein."
"Ach ja, du kennst sie ja noch aus deiner Zeit bei der deutschen Abteilung."
"Das liegt auch schon wieder über ein Jahr zurück. Sie ist recht unabhängig... aber auch
undiszipliniert und starrköpfig."
"Dann paßt sie ja genau zu unseren beiden anderen Piloten, quasi als Gegengewicht. Ich
meinte eher, ob du sie auch bei dir aufnehmen willst."
"Misatos Piloten-WG?" Sie lachte. "Das würde recht eng werden, andererseits, wenn Shinji
in das kleinere der beiden Zimmer zieht und Rei und Asuka in das größere..."
"Glaubst du ernsthaft, die beiden kämen miteinander klar?"
"Hm, hängt davon ab, wie Rei sich entwickelt. Im Augenblick..."
"Ich habe Asukas Psychogramm auch gesehen."
"Ja... Wahrscheinlich würden sie sich an die Kehle gehen..."
***
Shinji saß wieder über seinen Hausaufgaben, als Misato und Rei von ihrer Einkaufstour zu-
rückkamen. Beide trugen jede zwei pralle Taschen.
"Wir sind zurück!" rief Misato und stieß Rei an. "Zeig dich ihm mal."
Der Junge sah Rei an und suchte nach Worten.
Anstatt ihrer Schuluniform trug sie Jeans und einen Pullover, dazu Schuhe mit leichten
Absätzen, ihr Blick war zu Boden gerichtet, als wäre es ihr peinlich.
Hinter ihr tauchte Misato auf.
"Na, Shinji, was sagst du? Steht ihr das?"
"Ja... Uhm, Rei, du siehst... ah... toll aus..."
Prompt wurde er wieder rot.
"Na, ich hab´s doch gesagt." grinste Misato.
"Ja." hauchte Rei und hob den Blick.
"Uhm, Rei, wie waren die Tests?"
"Zufriedenstellend."
"Schön."
"Shinji, ich habe gehört, daß du heute vormittag Probleme hattest."
Er senkte den Blick.
"Ja. Doktor Akagi sagt, ich muß mehr üben."
"Ich wüßte einen Weg, vorausgesetzt, Misato-san erlaubt es."
"Was ist es denn?"
"Hm... eine... Überraschung."
Er schnappte nach Luft.
"Misato-san, können wir in meinem Zimmer reden?"
"Natürlich, Rei."
Die beiden verschwanden nach hinten.
Shinji spitzte die Ohren, hörte aber nur Getuschel und dann Misatos erstaunten Ruf:
"Wirklich?"
Kurz darauf tauchte Rei wieder auf, sie trug wieder ihre normalen Schuhe, hatte ansonsten
ihr neues Outfit beibehalten, dazu trug sie die dunkle Jacke, die sich bei ihren Sachen
befunden hatte.
"Komm mit."
Er stand auf und folgte ihr.
***
"Eine Billiardhalle?" fragte der junge Ikari überrascht, als er erkannte, was Reis Ziel
war.
"Ja." war ihre einfache Antwort, ehe sie die Halle betrat.
"Uhm, dürfen wir da überhaupt rein?"
"Hast du deinen NERV-Ausweis dabei?"
"Ja."
"Dann gibt es kein Problem. Folge mir einfach."
In der Halle roch es nach Zigarettenrauch und Bier, die Sicht war teilweise von Rauch-
schwaden behindert.
Hinter der Theke neben der Tür stand ein breitschultriger Kahlkopf und polierte Gläser.
"Ah, Ayanami, mal wieder hier?"
Sie nickte.
"Ja, Kuro-sama."
"Gehört dein Freund da auch zu NERV?"
"Ja."
"Uhm, Shinji Ikari." fühlte Shinji sich veranlaßt, sich vorzustellen.
"Hrmpf. Gendos Sohn?"
"Sie kennen meinen Vater?"
"Junge, dein alter Herr war früher sehr oft hier, ich betreibe diesen Laden seit über
zwanzig Jahren. Kleiner Tip, spiel nicht mit Ayanami um Geld."
"Uh... ja."
"Na, dann, viel Spaß. Dein üblicher Tisch ist frei."
"Gut." antwortete Rei und zog Shinji mit sich in den hinteren Teil des großen Raumes.
"Ah, Rei, was bedeutet das alles? Woher kennst du diesen Ort?"
"Kommandant Ikari hat mich hierher mitgenommen."
"Vater..."
"Ich hatte ähnliche Probleme."
"Du?"
"Ja. Glaubst du, ich hätte nicht üben müssen?"
"Natürlich nicht... aber, ah, du wirkst immer so, als hättest du alles unter Kontrolle."
"Das gehört zum Job. Unachtsamkeit kann tödlich sein."
"Ja..." murmelte er mit Bitterkeit in der Stimme.
"Möchtest du immer noch, daß ich dir helfe?"
Er schluckte.
"Ja."
"Gut. Sieh her."
Sie holte einen der Billiardstöcke aus dem Regal an der Wand und entfernte die dreiecki-
ge Halterung der Kugeln. Mit ausdruckslosem Gesicht beugte sie sich vor, zielte mit dem
Queue und stieß die weiße Kugel an. Die anderen Kugeln verteilten sich auf dem Tisch, ei-
ne der zweifarbigen landete in der oberen Ecke. Sie richtete sich auf, besah sich die
Lage, wanderte um den Tisch, ging wieder in Position, nannte eine Kugel und eine Ecke,
beförderte die genannte Kugel in die festgelegte Ecke, nahm ihre Wanderung wieder auf.
Shinji beobachtete mit immer größer werdenden Augen, wie Rei den Tisch abräumte, dann die
Kugeln wieder aufbaute und ihm den Stock in die Hand drückte.
"Jetzt du."
"Uh..."
Er nahm dieselbe Haltung ein, die er bei Rei gesehen hatte, peilte die weiße Kugel und
über sie die anderen an.
"Nein." flüsterte Rei in sein Ohr. Ihr warmer Atem strich über seine Haut.
Sein Herz übersprang einen Schlag, er zuckte zusammen, stieß die weiße Kugel zur Seite.
Sie legte die Kugel wieder zurück, stellte sich hinter ihn und korrigierte seine Haltung.
Ihr Atem streifte erneut sein Ohr, sein Herz schlug schneller, die Finger krampften sich
um das Queue.
"Nicht nervös werden..."
"Rei..."
Er blickte über die Schulter, sah ein schelmisches Lächeln in ihren Augen, zwang sich zur
Ruhe.
"Du hast dich sehr verändert..."
"Du machst das. Und jetzt konzentriere dich auf die Kugeln."
"Ja."
***
Rückblick:
Er kannte Rei Ayanami schon vor den Angriffen der Engel, eines Tages, es muß so im Jahre
2007 gewesen sein, tauchte Gendo Rokubungi... nein, damals hieß er ja schon Ikari, in
seinen Räumen auf. Die Kleine war damals gerade imstande, über die Tische zu blicken.
Es war schon eine Weile her gewesen, seit Roku... Ikari das letzte Mal in seinem Laden
gewe-sen war, vor seiner Heirat. Er hat sein Studium zu gutem Teil mit Gewinnen finan-
ziert, die er in seinen Räumen gemacht hatte. Er konnte nicht behaupten, daß er Gendo
besonders mochte, er hat oft Streit angezettelt und sich mit anderen geprügelt, aber was
soll´s, er schien ganz ruhig.
Das Mädchen hielt er anfangs für seine Tochter, dafür sprach auch der Ring an Ikaris
Finger, erst später, auf seine Frage hin, erklärte er ihm, daß er sich um die Tochter
eines Freundes kümmerte.
Das hätte ihn schon nachdenklich machen müssen, Ikari und Freunde...
Später kam Ayanami auch ohne ihn in meinen Laden, als er sie darauf aufmerksam machte,
daß sie nicht alt genug war, tauchte am nächsten Tag Ikari bei ihm auf, hielt ihm seinen
NERV-Ausweis unter die Nase und erklärte ihm, daß die gewöhnlichen Regeln nicht für Rei
gelten würden.
Und so begann es.
Sie war ein stilles Mädchen, irgendwie seltsam, ein Kind ohne Eltern.
Doch sie konnte sich wehren, das zeigte sich bald.
Sie kam immer allein, nie mehr in Begleitung, Ikari ließ sich nicht mehr blicken.
Bis zu jenem Tag...
Gegenwart:
Er war überrascht, als Ayanami mit dem Jungen auftauchte, es war Nachmittag, etwa eine
Stunde, bevor er meinen Laden gewöhnlicherweise öffnete. Dafür gab es zwei Gründe, wie
schon gesagt worden war, war sie bisher immer allein aufgetaucht. Und der Junge sah aus
wie sein Vater in jungen Jahren.
Sie nannte ihn Kuro-sama, wie schon seit sechs Jahren, seit er ihr erstmals mehrere Ki-
sten um einen der Tische aufgestellt hatte, damit sie besser sehen konnte, nicht, um Gen-
do einen Gefallen zu tun, sondern weil er in gewisser Weise mitleid mit ihren fast ver-
zweifelten Versuchen gehabt hatte, über die Tischkante zu sehen, während sie das Queue
über ihren Kopf hielt.
Mittlerweile benötigte sie längst keine derartigen Hilfsmittel mehr, Ayanami war zu ei-
nem hübschen jungen Mädchen herangewachsen, obwohl sie das selbst nicht zu registrieren
schien.
Wie er die beiden so beobachtete, wurde immer mehr überrascht. Ayanami war... offen,
nicht so wie andere Mädchen ihres Alters, aber wie schon gesagt, sie war immer etwas
seltsam ge-wesen. Zum Teil erschien sie immer ernster, ja, erwachsener als Gleichaltrige,
nicht daß er sich da besonders auskannte, aber mit der Zeit fiel einem so einiges auf.
Aber in Gegenwart des Jungen... Er war fast versucht zu sagen, daß sie ihn sehr mochte.
Als sie sich hinter ihn stellte und seine Haltung korrigierte, hatte er einen Moment lang
erwartet, daß sich bei ihm heftiges Nasenbluten einstellen würde. Er hatte noch nie ge-
sehen, daß sie einem anderen Menschen so nahe gekommen war.
***
"Es war... lustig... Spaß... ich kann mich nicht erinnern, vorher Spaß gehabt zu haben...
Der Kommandant sagt immer, Gefühle wären irrelevant... kann er sich irren? Kann jemand
wie der Kommandant sich irren? Zeit... früher sie mir egal... doch jetzt bedeutet mir
jeder Moment etwas... nein, nicht jeder Moment, sondern jeder Augenblick, den ich mit
ihm verbringe..."
***
Das war erst der Anfang. Die nächsten zwei Wochen setzte Rei ihr Training mit Shinji
fort. Dann kam der Moment, in dem er imstande war, trotz ihrer Ablenkungen ruhig zu
bleiben. Zugleich zeigte das Training entsprechende Erfolge während der Übungen im EVA-
Testcenter.
Am bald darauffolgenden Valentinstag fand Rei eine herzförmige mit Pralinen gefüllte
Schachtel auf ihrem Kopfkissen und eine einzelne Rose in einer Vase auf dem Schreitisch,
unter der Vase steckte ein Zettel, auf den zwei Worte geschrieben waren: ´Danke, Shinji.´
Rei wußte nicht warum, doch zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich glücklich...
