Kapitel 04 - Eifersucht
ASGARD, Hauptquartier von ODIN, dem westlichen Arm des UN-Geheimdienstes,
Das Büro war immer noch neu und ungewohnt.
Die Wände waren mit Holz getäfelt, zwischen den Aktenschränken hingen Bilder früherer
ODIN-Direktoren und ranghoher Mitarbeiter, in einer Ecke stand eine große Vase, in der
mehrere Fahrenstöcke standen mit den Flaggen der Länder Europas und der beiden amerika-
nischen Kontinente.
Der Raum wurde dominiert von einem breiten Schreibtisch, hinter dem Schreibtisch stand
ein bequemer Sessel, davor zwei weitere, ferner gab es zwei Stühle in einer anderen
Ecke.
Der Schreibtisch war sauber und aufgeräumt, auf ihm befanden sich derzeit nur zwei Ge-
genstände, der eine war ein Bilderrahmen mit einem Foto darin, welches einen schwarz-
haarigen lächelnden Mann, eine dunkelblonde Frau und ein rothaariges Mädchen mit ern-
sten blauen Augen zeigte, der andere ein golden schimmernder Metallbarren, in dessen
Vorderseite Buch-staben eingraviert waren:
Commander Wolf Larsen, Special Operations Director.
Durch ein großes zweigeteiltes Fenster fiel das Sonnenlicht in den Raum, am Fenster
stand ein Mann, es war derselbe, der auf dem Foto abgebildet war. Er sah nach draußen,
auf eine Wiese hinab.
Auf der Wiese spielten Kinder. Durch die geschlossenen Fenster drang kein Laut ins In-
nere des Raumes. Er griff nach dem Fensterhebel und öffnete den linken Flügel. Seine
Hand war aus mattschwarzem Metall.
Lachen drang an sein Ohr, er lächelte unwillkürlich, trat dann vom Fenster zurück, ging
um den Schreibtisch herum und setzte sich.
Es war zwei Uhr nachmittags.
An der Tür klopfte es.
"Herein."
Ein älterer Mann in einem grauen Anzug trat ein, er hatte schütteres Haar, seine Haut
besaß einen leichten Gelbstich und ihn umgab ein penetranter Nikotingeruch.
"Ich wollte nur vorbeisehen, ob Sie sich bereits eingelebt haben."
"Es geht, Commander."
Larsen erhob sich und schüttelte die Hand seines Besuchers.
"Ah, lassen Sie nur, schließlich bin ich aus dem Dienst ausgeschieden."
"Ich sitze auf Ihrem Stuhl - und ich weiß, wem ich es zu verdanken habe."
"Unsinn. Und, wie waren Ihre ersten Tage?"
"Hektisch. Meiner Frau geht´s schlechter und ich mache mir Sorgen um Asuka."
"Hm..."
Larsen betätigte einen Schalter unter der Tischplatte.
"Wir könen offen sprechen. Im Bereich des Flüsterfeldes befinden sich keine Wanzen."
"Gut. Haben Sie sich die Unterlagen angesehen?"
"Natürlich, deshalb habe ich auch Agent Kaji auf die Sache angesetzt."
"Gute Wahl. Er ist ein sehr kompetenter Mann, wenn auch etwas risikofreudig."
"Dennoch ist es etwas schwer zu glauben, daß eine Organisation namens SEELE die Welt
vernichten will, damit ihre Führer sich zu Göttern erheben können."
"Deshalb habe ich Ihnen das Material gegeben - Sie zweifeln."
"Schon die Tatsache, daß Direktor Kiehl in die Sache verwickelt sein soll..."
"Wenn meine Quellen mich nicht angelogen habe, ist er sogar ihr Anführer, SEELE-01."
"Das macht es nicht leichter... Ein internationales Komplott, in das hochrangige Wür-
denträger aus der ganzen Welt verwickelt sind... Staatschef, religiöse Führer... der
Chef des UN-Geheimdienstes..."
"Und wenn es wahr ist? Wenn es wirklich ihr Plan ist, die Seelen der Menschen zu ver-
einen?"
"Ja... Wäre das so schlecht... ich weiß es nicht, ich habe mir diese Frage schon mehr-
fach gestellt."
"Und deshalb waren Sie meine Wahl, ich kann es nur wiederholen. Zugleich muß ich mich
bei Ihnen entschuldigen."
"Wofür?"
Der andere zündete sich eine Zigarette an.
"Daß ich Sie damit allein lasse. Ich hätte nicht den Mut, über das Schicksal der Welt
zu entscheiden."
***
Tokio-03
Engel-Alarm...
Der Engel hatte den Codenamen Israfel erhalten. Er kam aus dem Meer.
Einheit-00 war noch immer beschädigt, so blieb Rei im Hauptquartier zurück, während
EVA-01 und -02 ausrückten. Sie stand in der Kommandozentrale im Schatten neben einer
Tür an die Wand gelehnt und beobachtete das Geschehen auf dem Hauptmonitor.
Weiter oben, im Leitstand, saß Gendo Ikari und blickte über seine gefalteten Hände,
hinter sich Subcommandant Kozo Fuyutsuki. Seinem Gesicht war keine Emotion zu entnehmen.
Rei verehrte den Kommandanten, ohne ihn hätte es sie nicht gegeben, das war ihr klar.
Und dennoch hatten sich in letzter Zeit Zweifel in ihr breit gemacht. Weshalb kümmerte
der ältere Ikari sich nicht um seinen Sohn? Warum hatte Shinji ohne Vater aufwachsen
müssen? Wieso hatte der Kommandant ihr einmal erzählt, Shinji wäre weggelaufen, wenn er
ihn doch in Wahrheit bei Pflegeeltern zurückgelassen hatte? Langsam wurde ihr klar, daß
sie für den Kommandanten auch nur ein Werkzeug war, so wie jeder andere auch, so wie
Shinji. Und sie wußte, daß sie Shinji beschützen würde, soweit es in ihrer Macht
stand...
Sie mochte den Jungen, mochte ihn sehr. Am Vorabend hatten sie wieder etwas gemeinsam
unternommen, waren Hand in Hand über einen Jahrmarkt gegangen und hatten jeder eine
große Portion Eis verschlungen.
Doch jetzt dachte sie nicht an diese für ihre Verhältnisse recht fröhlichen Stunden,
sondern bangte mit ihm und hoffte, daß er nicht zu Schaden kam.
EVA-02 watete ins Wasser, seine Lanze in der Hand.
Israfel stellte sich.
Asuka schlug zu, teilte den Engel in der Mitte.
Shigeru Aoba von der Brückencrew stieß mit der Faust in die Luft.
"Ja!"
Es erfolgte keine Explosion.
Reis Augen wurden ein wenig größer. Sie löste sich von der Wand, wollte Misato zurufen,
daß diese die beiden Piloten warnen müßte, doch da war es schon zu spät.
Furcht umklammerte ihr Herz, Angst um Shinji...
Der Engel teilte sich, jeder Teil griff einen der beiden EVANGELIONs an, überraschte
die Piloten vollkommen. Shinji konnte sich eine Zeitlang seines Gegners erwehren, doch
als die zweite Hälfte des Engels hinter ihm auftauchte, nachdem er EVA-02 ausgeschaltet
hatte, hatte auch EVA-01 keine Chance mehr. In dieser Situation verzichtete NERV auf
das taktische Eingreifrecht, von den bereitstehenden UN-Truppen wurde eine N2-Mine
eingesetzt, durch wel-che Israfel vorerst außer Gefecht gesetzt wurde. Für NERV war es
eine Blamage. Nach ersten Berechnungen würde der Engel fünf Tage benötigen, um sich
vollständig zu regenerieren, der Einsatz weiterer N2-Bomben verbot sich von selbst,
wollte man nicht den ganzen Landstrich einebnen. Es blieben fünf Tage, um eine Strate-
gie auszuarbeiten. Die Reparatur der EVAs würde fast genauso lange dauern.
Schließlich kam Misato mit Hilfe des mit Asuka eingetroffenen Ryoji Kaji auf die Idee,
Asuka und Shinji für einen Synchronangriff trainieren zu lassen, beide sollten nach dem
Rhythmus einer Musik vorgehen, um so das Zusammenspiel der beiden Hälften des Engels
kontern zu können.
Kernpunkt der Strategie war, daß Asuka und Shinji die Zeit über zusammen in einem Zim-
mer leben sollten, Misato requirierte hierfür einen Raum im Hauptquertier, ließ zwei
Betten hineinstellen und die beiden trainieren.
In dieser Zeit wohnte Rei allein bei Misato. Sie war ruhig, machte die Arbeiten, die
Shinji normalerweise erledigte, wobei sie sich immer wieder dabei ertappte, wie sie vor
Shinjis Zimmertür stand, die Hand nach der Klinke ausgestreckt, und sich fragte, was er
wohl gerade machte.
Sie hatte die Wohnung meistens für sich allein, las in ihren Büchern oder lag auf ihrem
Bett und hing ihren Gedanken nach, wenn sie nicht in der Schule oder im Testcenter war.
Drei Tage vergingen so.
Am vierten bat Misato Rei, sie zu begleiten, etwas, worauf Rei die ganze Zeit über ge-
wartet hatte. Den ganzen Tag lang beobachtete sie Shinji und Asuka bei ihrem Training,
war mehrmals nahe dran, ihre Maske der Ruhe fallenzulassen und sich auf die Rothaarige
zu stürzen, wenn diese Shinji beschimpfte und ganz allein für Fehler verantwortlich mach-
te. Als sie ging, blickte sie kurz über die Schulter zurück, bemerkte Shinjis Blick, mit
dem er sie um Hilfe bat. Zur Aufmunterung schenkte sie ihm ein Lächeln.
Am Abend war Misato ausnahmsweise daheim.
"Misato-san..."
"Ja, Rei?" fragte sie überrascht.
"Das Second Children behandelt Shinji schlecht."
"Hm. Ja."
"Warum trainiere ich nicht mit ihm?"
"Das weißt du doch, Einheit-00 ist noch immer nicht ganz regeneriert."
"Ja. Ich könnte Einheit-02 nehmen."
"Das würde Asuka gar nicht gefallen. Sie hat es sich ausbedungen, daß nur sie EVA-02
steuern darf."
"Das ist mir egal." brach es aus dem blauhaarigen Mädchen hervor.
Misato hielt inne, sah Rei an.
"Du magst Shinji, nicht wahr?"
"Ja... Soryu darf ihn nicht schlecht behandeln."
Das Geständnis war einfach über ihre Lippen gekommen. Sie hatte vorher nicht lange nachge-
dacht, sich nicht die möglichst effizientesten Worte zurechtgelegt, sondern einfach ihr
Herz sprechen lassen.
"Ganz meine Ansicht... Morgen sehen wir uns noch einmal an, wie sie sich schlagen. Rei,
könntest du mit Shinji zusammenarbeiten?"
"Ja."
"Gut, dann haben wir einen Trumpf. Und übermorgen wird es sich entscheiden, entweder geht
die Welt unter, oder Shinji ist wieder frei. Dann haben wir ihn wieder."
"Ja. Er wird nicht scheitern."
"Du hast großes Vertrauen in Shinji. Und Asuka?"
"Sie macht mich... wütend..."
Der - für Reis Verhältnisse - gefühlsmäßige Aufbruch überraschte das Mädchen mit dem
blauen Haar selbst.
"Hm... verstehe. Ich habe schon bemerkt, daß sie sich anders verhält, wenn sie sich unbeo-
bachtet fühlt. Mir gefällt das ganze auch nicht, aber sie ist unsere beste Pilotin. Rei...
Shinji lebt schon eine ganze Weile bei mir und er ist für mich wie ein kleiner Bruder...
Vielleicht sieht er sogar in mir eine Art große Schwester, eine große, schlampige, versof-
fene Schwester..."
Misato grinste.
Reis Mundwinkel zuckten.
"Hey, du kannst das ja auch."
"Ich..."
"Komm, noch etwas. Ja..."
Rei tastete mit den Fingerspitzen über ihr Gesicht.
"Das ist ein... Grinsen?!"
"Ja. Hast du... schon einmal gelächelt?"
"Ja..."
"Was bringt dich zum Lächeln?"
"Shinji..."
"Hört sich an, als würdest du ihn sehr mögen." Sie stieß Rei an. "Habt ihr euch schon ge-
küßt?"
Rei wurde knallrot.
"Nein."
"Ich glaube, er mag dich auch."
"Wenn Soryu ihn weiterhin schlecht behandelt..."
"Du wirst gar nichts tun, verstanden?"
"Ja, Captain."
***
"Shinji, was tut er wohl jetzt gerade? Soryu und er teilen sich ein Zimmer. Soryu...
rot... ich mag die Farbe rot nicht... Blut ist rot... ich mag kein Blut... Soryu macht
mich wütend... Wut ist unproduktiv... sie behandelt Shinji schlecht... ich möchte ihn be-
schützen, aber ich darf nicht..."
***
Auch am nächsten Tag verlief das Synchrontraining nicht gerade synchron. Mitten drin brach
Asuka ab und sah Rei wütend an.
"Was macht die hier eigentlich? Das lenkt mich ab!"
Shinji öffnete den Mund, doch Misato kam ihm zuvor und schickte Rei ins Feld. Der Junge war
leicht durcheinander, weshalb sollte er nun mit Rei tanzen, nachdem er mit Asuka geübt
hatte? Dennoch schlich sich ein zaghaftes Lächeln auf sein Gesicht, als Rei neben ihm Stel-
lung bezog und Misato die Musik anmachte.
Er bewegte sich im Takt, sogut er konnte.
Rei spiegelte jede seiner Bewegungen nach. Es war perfekt...
Misato und Kaji staunten.
"Wenn EVA-00 nicht in Reparatur wäre..."
Asuka schäumte.
"Dann soll sie doch EVA-02 nehmen!"
Mit diesen Worten stürmte sie hinaus.
Rei wollte etwas sagen, doch da schickte Kaji Shinji Asuka hinterher, um sie zurückzuholen.
***
"Warum... warum muß er mit ihr trainieren? Ich bin bereit, an seiner Seite zu kämpfen. Ich
weiß, daß ich es kann, ich habe es bewiesen, ich kann es besser. Asuka... sie macht mich
wütend... nicht nur wütend... sie hat Shinji... Was ist das für ein Gefühl? Eifersucht?"
***
Am nächsten Tag kam der Moment der Wahrheit. Die beiden EVAs waren gerade rechtzeitig
wieder einsatzbereit geworden, als der Engel sich zu rühren begann. Asuka und Shinji
schafften es, den Doppelkörper Israfels zu besiegen.
Und danach zog auch noch Asuka in Misatos Wohnung ein...
***
Der Tag hatte eigentlich normal angefangen, Shinji war nach einer Woche Abwesenheit erst-
mals wieder zur Schule gegangen. In der nächsten Woche standen mehrere Prüfungen an und
er hatte keine Ahnung von dem Stoff. Touji und Kensuke ging es ähnlich, nur Rei hatte ei-
gentlich den Überblick.
Es war Touji, der beschloß, daß man im Katsuragi-Apartment einen Schlachtplan schmieden
sollte, wie man sich möglichst effektiv auf die Tests vorbereiten könnte. Als Shinji ihm
auf den Kopf zusagte, daß er doch nur Misato sehen wollte, sah Touji sich ersteinmal unauf-
fällig um, ob Hikari in der Nähe war, ehe er enthusiastisch nickte.
Rei sagte dazu nichts, schließlich hatte sie Shinji wieder, und das war sie auch bereit
aller Welt zu zeigen, als sie sich auf dem Weg wieder bei ihm einhakte und Kensuke, der
ein leises Pfeif-fen von sich gab, mit einem Heben der Augenbraue zum Schweigen brachte.
Als die kleine Gruppe in der Wohnung ankam, stand diese voller Koffer und Kartons. Und
mittendrin stand Asuka und grinste.
"Was machst du denn hier?" stammelte Shinji.
"Oh, ich wohne jetzt hier. Misato hat mich so nett gebeten. Du kannst deine Sachen in
die Besenkammer räumen."
Sie deutete auf einen einzelnen Karton, in dem sein Zeug lag.
"Was?"
"Na, ich ziehe in dein Zimmer."
"Ah..."
Shinji klappte der Unterkiefer nach unten.
Rei wollte an seine Seite treten und erklären, daß er in ihrem Zimmer schlafen könnte,
als Misato aus ihrem Zimmer kam.
"Ach, ihr seid schon zurück."
"Misato-san!" riefen Touji und Kensuke gleichzeitig voller Begeisterung.
"Oh, ihr, hallo! - Shinji, Rei, Asuka hat mich gefragt, ob sie nicht auch hier wohnen kann,
ich dachte mir, Shinji zieht in das kleine Zimmer und Rei und Asuka in das größere."
"Was, ich soll mit... Wondergirl hier in einem Zimmer wohnen?" rief Asuka.
"Ein anderes Arrangement ist nicht möglich. - Schließlich können Shinji und Rei schlecht
im selben Zimmer schlafen."
Rei lag eine Erwiderung auf der Zunge, merkte dann aber, daß Shinji sich neben ihr ver-
steifte, daß er drauf und dran war, einem Impuls nachzugeben...
"Hrmpf." kam Asuka ihnen beiden zuvor.
Kensuke deutete auf Misatos Uniformjackenkragen.
"Misato-san, Sie sind ja befördert worden!"
"Hm, woran siehst du das?" fragte Touji.
"Na, sie hat einen weiteren Streifen an der Jacke! Misato-san wurde vom Captain zum
Major befördert!"
Misato errötete.
"Ja, für den Erfolg gegen den letzten Engel."
"Ui, toll! Herzlichen Glückwunsch." rief Kensuke.
"Danke."
"Das muß gefeiert werden!" Er sah Touji an.
"Ja, Party!"
***
Wenig später, nachdem rasch alles in die entsprechenden Räume geschafft worden war,
saßen sie alle um den Eßtisch herum. Shinji saß zwischen Asuka und Rei, dann kam Touji,
auf der anderen Seite saßen Misato und Pen-Pen, während Kensuke um den Tisch herumtän-
zelte, auf dem eine Kochplatte stand, auf der Gemüse und kleine Fleisch- und Fischstück-
chen garrten. Später erschien auch noch Hikari, Asuka, die sich in den letzten Wochen
mit ihr angefreundet hatte, hatte sie eingeladen; als letzter tauchte Kaji auf, sehr
zu Asukas Begeisterung.
Nach dem fünften Bier - oder so - entschied sich Misato, auch den Teenagern jeweils
ein Bier zu gestatten.
"Ah, komm Rei, dasch ischt ein Befehl! Und du auch, Schinschi."
Während Rei automatisch tat, wie ihr geheißen war, zögerte Shinji.
"Ich mag das nicht, Misato."
"Nu, komm, nur ein Schlückschen."
Also tat er so, als tränke er einen Schluck und schob die Dose dann unauffällig Touji
zu.
Rei leckte sich die Lippen. Und damit fing der Ärger an.
Irgendwann hatte Hikari sich verabschiedet, sie hatte nichts getrunken. Touji und
Kensuke lagen über den Boden verteilt mitten im Zimmer, Asuka hatte einen glasigen
Blick, während Rei gegen Shinji lehnte und leise vor sich hin kicherte, dabei nach
der halbvollen Dose schielte, die vor Asuka stand.
Kaji erhob sich ächzend.
"Schlafenszeit für Piloten!"
"Ach, komm Kaschi, der Tag ischt noch jung", nuschelte Misato.
"Und du brauchst frische Luft."
Er zog Asuka auf die Beine.
"Ab ins Bett, junge Dame."
"Kommst du mit?"
"Ab!"
"Na gut..."
Sie schlich von dannen.
"Shinji?"
"Ja, Kaji-san?"
"Was ist mit Rei?"
"Weiß nicht." Shinjis Blick nach war ihm Reis Verhalten denkbar unheimlich. "Rei?"
"Hm..."
*kicher*
"Will noch ein Bier..."
"Oh je..."
Shinjis Blick jagte von einem der Anwesenden zum nächsten.
"Hackevoll", murmelte Kaji. "Was für Zeug hat Katsuragi da bloß gekauft?"
"Ihre Standardmarke."
"Hm, stimmt. - Rei?"
"Ja, Kaji-san? Bekomme ich noch ein Bier?"
"Nein. Du gehst jetzt ins Bett." Als sie sich nicht rührte, benutzte er das Zauberwort.
"Das ist ein Befehl."
"Ja, Major. Schade. Bier ist lecker..."
Sie trottete davon in dieselbe Richtung, in die schon Asuka verschwunden war, warf Shin-
ji einen sehnsüchtign Blick zu, den dieser nicht wahrnahm, weil er in diesem Moment von
Kaji abgelenkt wurde.
"Ich kümmere mich um Katsuragi", erklärte Kaji. "Okay?"
Shinji nickte, während er über seinen Freunden Decken ausbreitete und Touji ein Kissen
unter den Kopf schob, welches dieser im Schlaf sofort besitzergreifend festhielt.
***
Rei lag auf ihrem Bett und kicherte immer noch vor sich hin. Sie trug jetzt das blaue
Nachthemd, welches sie mit Misato am Tag nach ihrem Einzug gekauft hatte. Oh, und sie
kicherte, nur falls das noch niemandem aufgefallen sein sollte.
Asukas Bett stand in der gegenüberliegenden Ecke, sie lag quer, ein Bein hing über die
Bettkante. Asuka schnarchte.
Rei hörte auf zu kichern und sah zu Asuka hinüber, mußte plötzlich wieder kichern,
stand auf.
Auf dem Nachtschrank neben Asukas Bett stand deren offenes Schminkköfferchen.
Rei hatte einen furchtbaren Plan...
Nach Ausführung ihres Planes verließ sie das Zimmer und huschte über den Flur in
Shinjis Raum.
***
Shinji lag in seinem Bett, Gesicht zu Wand, die Decke fast bis über die Ohren hochge-
zogen. Er hatte zwar keinen Alkohol getrunken, wollte sich aber dennoch so gut wie
möglich vom Rest der Welt abgrenzen, indem er mit der Decke eine Barriere formte.
Die Tür seines Zimmers wurde geöffnet.
Er verhielt sich still, hoffte, daß wer auch immer es war, wieder ging, wenn er glaub-
te, daß er schlief.
Die Tür wurde wieder geschlossen. Etwas fiel zu Boden, etwas leichtes.
Shinji versteifte sich, als seine Decke angehoben wurde und ein warmer Körper zu ihm
schlüpfte, - ein warmer nackter Körper einer definitiv weiblichen Person, - war plötz-
lich hellwach. Im nächsten Moment knabberte eben diese Person an seinem Ohrläppchen.
"Shinji..." hauchte eine warme Stimme in sein Ohr.
Er riß die Augen auf, drehte den Kopf.
"Rei!"
"Hm."
Sie gab ein schnurrendes Geräusch von sich, preßte sich noch enger an ihn. In seinen
Boxershorts regte sich etwas als Reaktion darauf. Ihre Augen waren geschlossen, als
sie sich an ihn schmiegte, den Kopf auf seine Brust und den Arm um ihn legte und ein-
schlief.
"Ah..."
Er schluckte, dann zog er die Decke bis über ihre Schultern und nahm sie vorsichtig
in den Arm. Er konnte ihren Herzschlag spüren, ruhig und gleichmäßig, im Takt mit
seinem eigenen.
Irgendwann driftete auch er weg.
***
Misato erwachte mit höllischen Kopfschmerzen. Dunkel erinnerte sie sich an die Party
am vergangenen Abend und daß sie mit Kaji durch die Nacht gewandert war. Ebenso ver-
schwommen erinnerte sie sich daran, ihn geküßt zu haben - oder hatte er sie geküßt?
Mit immer noch geschlossenen Augen tastete sie hektisch neben sich in ihrem Bett, ob
sie allein war. Da war niemand.
Endlich gelang es ihr, die Augen zu öffnen. Durch das Fenster fiel Licht in schmerzen-
der Helligkeit. Sie drehte sich auf die Seite, stellte fest, daß sie nur mit ihrer
Unterwäsche bekleidet war, angelte nach ihrer Kleidung, die neben dem Bett lag.
"Kaffee, ich brauche Kaffee... Und dann ein Bier..."
***
Als sie ihr Schlafzimmer verließ, stolperte sie fast über Kensuke, der sich auf der
Türschwelle zusammengerollt hatte, stieg vorsichtig über ihn hinweg. Mehr in der Mitte
des Raumes lag ein schnarchender Touji, während Kaji auf dem Sofa lag, seine Beine rag-
ten über die Lehne hinaus.
Misato mußte lächeln bei dem Gedanken, daß er ihre Lage nicht ausgenutzt hatte. Dann
fiel ihr Blick auf den Eßtisch und die leeren Bierdosen. Wie erstarrt blieb sie stehen.
"Oh, mein Gott... Ich habe ihnen Alkohol gegeben... Wenn irgendetwas passiert ist, ko-
stet mich das meinen Kopf..."
Sie schlug die Richtung zu den Räumen der Kinder ein, entschied sich zuerst, bei Shin-
ji nach dem Rechten zu sehen.
Shinji lag in seinem Bett, neben und halb auf ihm lag Rei, den Kopf an seiner Brust,
die Hand auf seiner Schulter, während er sie im Arm hielt. Neben dem Bett lag Reis
Nachthemd.
Misato mußte sich am Türrahmen festhalten, schrie erschrocken auf...
Rei bewegte die Lippen, ohne etwas zu sagen, zog sich die Decke über den Kopf. Von ih-
rem Apartment her war sie Lärm gewohnt.
Shinji riß die Augen auf.
"Mi-Misato, es ist nicht..."
"Nein?!"
Aus dem gegenüberliegenden Zimmer kam Asuka.
"Was schreit ihr denn hier so herum...? Argh! Ihr Perversen! Das ist ja obszön!"
Shinji spürte den Drang, sich ebenfalls die Decke über den Kopf zu ziehen, in der
Hoffnung, daß man ihn nicht sah, wenn er niemanden sah, doch Rei hielt die Decke fest.
"Mann, was ist denn?"
Aus Richtung des Wohnraumes kam Touji angeschlurft.
"Diese... diese... diese beiden..." schimpfte Asuka und wandte sich ihm zu.
Touji schrie auf und ging auf Abstand.
"Argh! Ein rothaariger Dämon!"
"Seid ihr denn alle verrückt geworden?" schrie Misato dazwischen, ihre Kopfschmerzen
hatten inzwischen gigantische Ausmasse angenommen. Dann sah sie auch, was mit Asuka
geschehen war. Das rothaarige Mädchen trug Schminke, das Gesicht war weiß geschminkt,
auf die Stirn waren mit schwarzer Schminke Hörner und auf das Kinn ein Spitzbart gemalt
worden, dazu kamen verschiedene andere Verzierungen.
"Asuka..."
"Was denn?!"
"Geh ins Bad und wasch dich."
"Wieso, was ist denn?"
Sie rannte ins Badezimmer, blickte in den Spiegel und stieß einen lauten Wutschrei
aus. Im nächsten Moment kam sie auch schon zurück, stieß Touji zur Seite und quetschte
sich an Misato vorbei, griff nach der Bettdecke.
"Das warst du, Wondergirl!"
Kraftvoll zog sie die Decke weg, sog beim Anblick der nackten Rei die Luft ein.
Rei gab ein protestierendes "Hrmpf!" von sich.
Misato hielt Touji die Augen zu und schob ihn zurück, als er Asuka wütend folgen wollte.
"Zurück ins Wohnzimmer, Suzuhara!"
"Ja, Ma´am."
Sie atmete tief ein, nahm mit einem Anflug von Hoffnung zur Kenntnis, daß Shinji noch sei-
ne Shorts trug.
"Asuka, geh und hol mir das Telephon."
"Misato..."
"Ich will nicht mit dir diskutieren. Hol das verdammte Telephon!"
"Ja..."
Sie setzte sich auf die Bettkante, nachdem sie die Decke wieder über Rei ausgebreitet hatte,
die sich immer noch an Shinji kuschelte.
"Also, was ist hier passiert?"
"Nichts..." beeilte sich Shinji zu sagen.
"Nichts? Das hier sieht mir aber nicht nach ´nichts´ aus."
"Misato..."
"Sei still." Sie wandte sich an Rei. "Also, junge Dame, was hast du dazu zu sagen?"
"Soryu schnarcht."
"Agh..."
Asuka kam herein, schenkte Shinji und Rei keine Beachtung, sondern drückte Misato nur
das Telephon in die Hand und ging wieder hinaus.
Misato tippte Ritsukos Nummer ein, es dauerte einen Moment, ehe die Chefwissenschaftlerin
von NERV sich meldete.
"Ritsuko, ich bin´s. Komm sofort in meine Wohnung... Ja, es ist wichtig."
Sie legte auf.
"Shinji, zieh dir ´was über und warte im Wohnzimmer. Rei, du bleibst hier."
***
Akagi tauchte etwa zehn Minuten später auf und verschwand in Shinjis Zimmer.
Mittlerweile waren die anderen auch alle wach. Asuka war auf ihrem Zimmer, da sie mit den
ganzen Perversen, wie sie es ausdrückte, nicht zu tun haben wollte. Kaji lümmelte auf dem
Sofa, Shinji saß neben ihm wie ein Häufchen Elend, während Touji und Kensuke abwech-
selnd versuchten, ihn auszuhorchen, und ihm anerkennend zu verstehen gaben, was für
ein toller Hecht er ihrer Meinung nach war.
In Shinjis Zimmer beendete Ritsuko gerade die Untersuchung Ayanamis.
"Was auch immer die beiden gemacht haben, es ist nicht zum Äußersten gekommen", stellte
sie fest.
Misato atmete auf.
"Was ist hier überhaupt passiert? Habt ihr eine Party gefeiert?"
"Naja, eine kleine Siegesfeier, aber nur eine klitzekleine..."
"Und du hast Rei mit Bier abgefüllt?"
"Ich... nein... ja, aber es war nur ganz wenig..."
"Misato, weißt du eigentlich, was für ein Glück du hast? Rei verträgt absolut keinen Alkohol.
Ihr Körper ist nicht imstande, ihn abzubauen, ebensowenig wie sie in der Lage ist, tierische
Fette zu verdauen. Du hättest sie vergiften können."
Misato wurde kreidebleich.
"Das wußte ich nicht..."
"Liest du nicht die medizinischen Berichte? Shinji zum Beispiel verträgt keine Mandeln, sie
lösen bei ihm schwere allergische Reaktionen aus."
"Ich dachte... Rei hat eine Kondition wie ein Pferd, und..."
"Ich werde es nicht weitermelden, weil die Lage unter Kontrolle ist."
"Danke, Ritsuko."
"Ich tue das nicht für dich, sondern für Rei. Kommandant Ikari würde sie persönlich hier
wegholen und wieder in dieses heruntergekommene Loch stecken, in dem er sie damals
schon einquartiert hat."
"Danke, Doktor Akagi." kam es leise von Rei, die in die Bettdecke gewickelt auf dem Bett saß.
Ritsuko blinzelte.
"Kein Problem. Aber, Rei, du wirst nie wieder ein Bier oder andere alkoholhaltige Geträn-
ke auch nur anfassen, verstanden?"
"Ja."
"Das ist ein Befehl vom medizinischen Offizier von NERV - und du weißt, daß solche Befehle
allen anderen überrangig sind."
"Ja."
"Gut. Und jetzt ´was anderes: Weshalb bist du zu Shinji ins Bett gekrochen?"
"Soryu schnarcht."
"Hm." Akagi blickte Misato an. "Das erinnert mich an unsere gemeinsame Zeit auf der Uni.
Ich habe mir auch oft gewünscht, irgendwohin verschwinden zu können, wenn meine liebe Mit-
bewohnerin mal wieder abgefüllt war."
Misato wurde rot, senkte den Blick.
Von Rei kam ein leises Kichern.
Ritsuko sah das blauhaarige Mädchen mit gerunzelter Stirn an.
"Entschuldigung."
"Nein, Rei, es ist gut. Wenn wir unsere Gefühle zu sehr unterdrücken, können sie uns eines
Tages überwältigen. Balance ist wichtig, aber ein Mensch muß auch lachen oder weinen kön-
nen. Was empfindest du für Shinji?"
"Ich... mag ihn."
"Wie einen Bruder? Wie einen Kampfgefährten? Einen Mitbewohner? Einen Freund?"
"Nein... mehr..." sagte Rei zögerlich und zugleich voller Wärme.
"Ich verstehe..." Ritsuko wußte Reis Blick richtig zu deuten und seufzte. "Misato, ist Shin-
ji schon... du weißt schon, aufgeklärt?"
Misato zuckte zusammen.
"Ich glaube nicht, obwohl heutzutage..."
"Normalerweise wäre es Sache seines Vaters, aber ich kann mir nur schlecht vorstellen, daß er
sich dafür die Zeit nimmt. Du solltest dich darum kümmern."
"Ja." Misato lächelte säuerlich. "Das gehört wohl auch zum Job."
"Ich werde es Rei erklären."
"Danke."
"Ja. Hm, ich habe keine Ahnung, ob die beiden zu betrunken gewesen waren, um etwas anzu-
stellen, oder ob Shinji die Lage nicht ausnutzen wollte... oder ob er einfach zu verklemmt dazu
ist..."
"Shinji ist zuverlässig, er will es nur selber nicht wahrhaben."
"Gut. Vielleicht solltest du dich um deine Gäste kümmern."
***
Touji und Kensuke waren von Misato freundlich aber bestimmt vor die Tür gesetzt worden.
Die beiden waren sich einig, daß Shinji, selbst wenn nichts zwischen ihm und Rei geschehen
war, es dennoch faustdick hinter den Ohren haben mußte, schließlich hatte sich ein nacktes
Mädchen in seinem Bett befunden - und auch noch freiwillig...
Auch Kaji hatte die Wohnung verlassen, saß in seinem Wagen und lachte. Nach einigen
Überlegungen entschied er sich, die Sache nicht bis zu Shinjis Vater vordringen zu lassen,
auch wenn er diesem die Störung seines Szenarios gegönnt hätte...
Asuka saß auf ihrem Bett und überlegte, wie sie sich bei Rei für deren Schminkeinlage revan-
chieren konnte.
***
Nachdem auch Ritsuko wieder gegangen war, wies Misato Rei an, sich anzuziehen, dann
ging sie in die Küche, ohne Shinji anzusehen, öffnete den Kühlschrank und holte sich ein
Bier. Sie wollte die Dose gerade öffnen, als sie innehielt und die Dose auf Augenhöhe hielt.
"Shinji..."
"Ja, Misato?"
Seine Stimme klang nervös.
"Komm her und hilf mir."
Sie öffnete die Dose und goß den Inhalt in den Ausfluß.
"Misato, was..."
"Ohne das Zeug wäre ich nie auf die Idee gekommen, ihr könntet auch mal einen Schluck
vertragen. Weg damit."
"Und du?"
Sie lächelte.
"Ich werde es erstmal mit Kaffee versuchen. Kannst du welchen kochen?"
"Ja, Misato."
Er erwiderte ihr Lächeln
"Shinji, wieviel hattest du intus?"
"Nichts."
Sie war nicht überrascht.
"Tut mir leid, daß ich dich so angeschrien habe."
"Uhm..."
"Ich muß dir nachher ein paar Dinge erklären... über Männer und... Frauen..."
*gulp*
***
"Die Erinnerung an die Nacht ist etwas verschwommen... Ich erinnere mich seine Hand, die
mein Haar streichelt... Sein Herzschlag... Wärme... Ich glaube, seine Lippen haben meine Stirn
berührt... Es war... angenehm..."
***
Die nächste Woche brachte den Angriff Tzachqiels, der jedoch durch den Einsatz aller drei
EVAs aufgehalten werden konnte.
Rei fand am Tag nach dem Kampf einen Laubfrosch in ihrem Bett.
Asuka saß auf ihrem Bett und grinste breit in Erwartung eines Entsetzensschreies, doch ihr
Grinsen erstarb, als Rei den Frosch vorsichtig hochnahm und sie fragte, woher er kam.
"Ekelt er dich gar nicht an, so grün und schleimig, wie er ist?"
"Nein, warum sollte er, Soryu?"
"Ah, jetzt sehe ich, warum du und Shinji..."
"Second Children, ich bitte dich, Shinji-kun aus dem Spiel zu lassen. Und ich werde dich nur
einmal bitten."
Reis Blick war hart, ihre Stimme fest, als sie mit Asuka auf eine Weise sprach, die Gendo Ikari
Luftsprünge vor Freude hätte machen lassen, wäre er Zeuge gewesen. Das blauhaarige Mäd-
chen lieferte eine nahezu perfekte Imitation des Kommandanten.
"Oh, Wondergirl, bist du etwa verliebt? In Shinji-ohne-Rückgrat?"
Rei verließ wortlos das Zimmer, um den Frosch im nahegelegenen Park auszusetzen.
"Hm, na warte, dich kriege ich noch", murmelte Asuka.
***
In der Nacht schlich sie sich mit einem Eimer warmen Wassers an Reis Bett. Das andere
Mädchen lag genau richtig, Asuka mußte nur ihren Arm vorsichtig nehmen, um sie nicht
aufzuwecken, und ihre Hand ins Wasser halten.
"Mal sehen, ob dich immer noch alle für perfekt halten, wenn herauskommt, daß du noch ins
Bett machst, Wondergirl", grinste Asuka.
Rei lag auf der Seite mit dem Rücken zur Wand, eine Hand unter dem Kissen.
Asuka griff nach Reis Handgelenk. Und blinzelte. Der Arm ließ sich nicht bewegen. Rasch
vergewisserte sie sich, daß Rei noch immer schlief, ehe sie einen zweiten Versuch startete.
Wieder ließ sich Reis Hand keinen Millimeter bewegen.
Plötzlich flüsterte Rei ein Wort, einen Namen: "Shinji..."
Asuka sprang zurück, riß fast den Eimer um.
***
Sie blickte in den Spiegel, während sie ihr Haar kämmte.
Wer bist du?
"Rei Ayanami, ich bin Rei Ayanami."
Was tust du?
"Ich lebe."
Warum lebst du?
"Um EVA-00 zu steuern."
Wofür lebst du?
"Um die Engel zu bekämpfen."
Ist das alles?
"Nein..."
Wofür lebst du?
"Ich will leben... für ihn..."
***
Shinji spielte auf seinem Cello, er hatte seine Übungen in der letzten Zeit arg vernachläs-
sigt. Er spielte nicht, weil es ihm Spaß machte, oder er Gefallen an der Musik fand, sondern
weil man es ihm gesagt hatte, weil seine Pflegeeltern ihm das Cello gekauft und nie gesagt
hatten, er sollte mit dem Spielen aufhören.
Dennoch, wer ihn hörte, kam nicht umhin, ihm großes Talent zu bescheinigen.
Einen Vorteil hatte es jedoch für ihn, wenn er spielte, dann ging er ganz darin auf und ver-
gaß seine Umgebung. So bemerkte er auch nicht, daß Rei, welche von einem Nachmittag
voller Synchronisationstests kam, an der offenen Tür seines Zimmers stand und lauschte,
ehe sie im anderen Zimmer verschwand.
Kurz darauf erklangen aus dem Nachbarzimmer die Töne einer Viola in derselben Melodie,
die auch Shinji spielte...
***
Die Nacht darauf wurde Shinji geweckt, als ihn eine Hand an der Schulter berührte.
"Hm?"
Rei stand über ihn gebeugt.
"Darf ich dich stören?"
"Was denn?"
Er rieb sich die Augen, sah zur Uhr. Kurz nach Mitternacht.
"Asuka schnarcht wieder."
"Halt ihr die Nase zu."
"Nein. Kann ich hierbleiben?"
"Rei, Misato hat gesagt..."
"Sie muß es nicht erfahren. Ich möchte nur... ich möchte nur bei dir sein..."
Im fahlen Mondlicht sah er den flehenden Ausdruck ihrer Augen.
"Rei, was ist mit dir?"
"Es ist... Einsamkeit..."
Er schluckte, rutschte dann zur Seite, unfähig, ihr ihren Wunsch abzuschlagen, nachdem er
ihr in die Augen gesehen hatte.
"Und Misato?"
"Ich bin wieder im anderen Zimmer, ehe sie aufsteht, versprochen."
"Uhm..."
"Ich möchte nicht, daß du wegen mir Schwierigkeiten bekommst."
"Rei, ich möchte auch nicht, daß du Ärger bekommst."
"Dann halt mich einfach fest."
Sie schlüpfte unter die Decke und schmiegte sich an ihn.
"Iiek. Du hast kalte Füße."
Sie kicherte.
"Tut mir leid."
Shinji fuhr mit den Fingern durch ihr weiches Haar.
"Rei, wenn du bei mir bist, habe ich keine Albträume", flüsterte er.
"Wenn du bei mir bist, kann ich träumen... Shinji, bitte, lauf nicht mehr weg."
"Ich... ich werde nicht mehr weglaufen, nie wieder."
***
Am darauffolgenden Tag befanden sich alle drei, Shinji, Rei und Asuka, in der Schwimmhal-
le, welche zum NERV-eigenen Fitnesscenter gehörte.
Shinji saß an einem der Tische und machte seine Hausarbeiten, seit er mit Rei zusammen die
Arbeiten erledigte, ging es ihm viel leichter von der Hand, als würde sie ihn inspirieren.
Rei zog im Becken mit starken gleichmäßigen Schwimmstößen ihre Bahnen, sie wirkte wie in
ihrem Element, vermittelte einen entspannten Eindruck wie selten.
"Shinji?"
"Hm?"
Er sah auf.
Asuka stand vorgebeugt neben ihm. Sie trug einen weiß-rot gestreiften zweiteiligen Badean-
zug, ihre Oberweite war beeindruckend. Selbst jetzt trug sie Handschuhe, welche den hal-
ben Unterarm bedeckten.
"Was machst du da?"
"Uhm..."
Er wandte den Blick ab, war plötzlich äußerst nervös.
"Physik."
Um genau zu sein, hatte er sich die Physikaufgaben bis zuletzt aufgehoben, es war immer
noch das Fach, mit dem er am wenigsten zurechtkam.
"Ja? Ich kenne mich da aus... Hm, mit euren Schriftzeichen habe ich noch Probleme... Ah,
Thermodynamik. Ausdehnung..."
"Öh, ja."
"Und damit hast du Probleme? Paß auf, ein Beispiel..."
Rei hörte mit ihren Schwimmzügen auf, befand sich nun wassertretend mitten im Becken
und beobachtete, wie Asuka die Hände auf ihr Oberteil legte und Shinji fast die Augen aus
dem Kopf traten. Sie entschied sich, einzuschreiten - natürlich nur, um bleibende Schäden
bei ihrem Mitbewohner zu vermeiden, wie sie sich selbst einzureden versuchte.
"Shinji, könntest du mal kommen?"
"Uh, ja, sofort."
Er riß sich von dem Anblick der... körperlichen Vorzüge Asukas los und ging zum Becken-
rand, zu dem Rei mit kräftigen Zügen hinschwamm.
"Warum kommst du nicht auch rein?" fragte sie lächelnd.
Er grinste verlegen.
"Ich kann nicht schwimmen."
"Oh."
"Ja. Es tut mir leid."
"Das muß es nicht. Was für Probleme hast du mit den Aufgaben?"
Von Asuka kam ein abfälliges ´Hrumpf´, dann sprang sie ins Becken, als Resultat fand Shin-
ji sich komplett durchnäßt.
Rei sah mit gerunzelter Stirn in Asukas Richtung, die Augen leicht zusammengekniffen.
"Das tut mir leid."
Er kauerte sich an den Beckenrand, streckte zögernd die Hand aus und strich über ihr nas-
ses Haar. Die Berührung sandte ein angenehmes Schaudern durch ihren Körper.
"Das macht nichts, Rei."
***
Für den übernächsten Tag stand Synchrontraining an.
Als die Auswertung abgeschlossen war, gab Ritsuko bekannt, daß Rei Shinji fast eingeholt
hatte. Asuka führte knapp. Sie nahm die Tatsache, daß ihr Vorsprung in den letzten Tagen
kontinuierlich geschrumpft war, mit säuerlicher Miene zur Kenntnis.
Für Ritsuko waren diese Ergebnisse ein Anlaß, leichten Triumpf zu verspüren, zeigten sie
doch, daß der Plan aufging - zugleich besaß sie ein Argument, falls der Kommandant sich
doch noch entscheiden sollte, etwas an den Wohnverhältnissen der Piloten zu ändern.
- Und sie mußte nicht einmal an den Zahlen manipulieren...
Die drei EVA-Piloten hatten ihre Entry-Plugs verlassen und waren auf dem Weg zu den Um-
kleidekabinen, als plötzlich das Licht erlosch.
"Ein Stromausfall?" vermutete Shinji und tastete nach der Wand, um das Gefühl, sich mitten
im Nichts zu befinden, zu verscheuchen.
"Dann müßte längst auf Notstrom umgeschaltet worden sein." kam Reis Stimme aus der Dun-
kelheit.
Asuka zuckte zusammen, Rei stand direkt hinter ihr.
"Mußt du so im Dunkeln herumflüstern und mich erschrecken?"
Rei ignorierte ihre Worte, so wie sie sich bemühte, Asuka selbst nach besten Kräften zu igno-
rieren.
"Vielleicht hat es einen Unfall gegeben. Wir sollten die Zentrale aufsuchen."
"Wer hat dich zum Chef gemacht?"
"Streit nützt nichts." kam es von Shinji. "Außerdem hat sie recht."
Er folgte ihren Schritten.
"War ja klar, daß du dich auf ihre Seite schlagen würdest. - Hey, laßt mich hier nicht allein
im Dunkeln stehen!"
Sie beeilte sich aufzuschließen.
"Wondergirl, renn nicht so!"
Die Schritte vor ihnen wurden langsamer, kurz glaubte Asuka, ein paar roter Augen in der
Finsternis zu sehen.
"Tut mir leid. Ich kenne diesen Bau in- und auswendig, daher..."
"Das interessiert mich nicht die Bohne!"
"Rei, wo bist du?" fragte Shinji.
"Hier, nimm meine Hand."
"Oh..., ja... danke."
"Nimm meine Hand, nimm meine Hand", äffte Asuka nach. "Wondergirl und Loverboy, pah!"
Sie trottete weiter durch die Dunkelheit.
An der nächsten Ecke liefen sie in Makoto Hyuga, der sie im Auftrag Akagis gesucht hatte
und nun in die Zentrale brachte. Dort erfuhren sie, daß Misato und Kaji vermißt worden.
"Ich gehe sie suchen!" erklärte Asuka. "Wondergirl, du kommst mit, du kennst dich hier aus."
Rei zeigte es nicht, aber sie war ziemlich genervt von Asukas Verhalten.
"Was geht mich das an?"
"Dann eben nicht. - Shinji, wir gehen alleine!"
Sprach´s, nahm Hyuga die Taschenlampe ab und schleppte den Jungen mit sich, Akagis
Proteste ignorierend.
Ritsuko wandte sich an Rei, die wie erstarrt dastand.
"Du läßt das zu?"
"Was meinen Sie?"
"Ich dachte, Shinji ist dein Freund."
"Ja."
"Warum läßt du ihn dann mit ihr gehen?"
"Ich... Bitte um Erlaubnis, mich der Suchexpedition anschließen zu dürfen."
"Geh nur."
Ritsuko lächelte in sich hinein. Je weiter Rei ihre Emotionen entdeckte, umso mehr wurde
sie Gendo Ikari entfremdet, umso weniger mußte sie in ihr eine Rivalin um seine Gunst sehen,
umso eher konnte sie Sympathie für das Mädchen empfinden...
***
Shinji und Asuka fanden sich in einer Sackgasse wieder, vor ihnen waren die Türen eines
Aufzuges, die sich nicht öffneten.
"Verdammt!" schimpfte Asuka.
"War ja auch idiotisch, einfach loszugehen", murmelte Shinji.
"Halt den Mund, wenn mich deine Meinung interessieren würde, hätte ich dich gefragt."
"Wo kommt nur dein fieser Charakter her?"
"Und wo kommt plötzlich dein Rückgrat her?"
"Ich... uhm..."
"Ah ja, ich sehe."
Sie seufzte.
"Aber wir hätten uns vorher einen Plan besorgen sollen."
Shinji stimmte in den Seufzer ein.
"Wohin jetzt? Wieder zurück?"
"Weiß nicht. Wir sind schon zwei Helden..."
"Wenn jetzt ein Engel auftaucht..."
"Beschrei es nicht, ja?"
"Ja."
"Sag mal, Shinji... haben Rei und du..."
"Was?" fragte er erschrocken.
"Habt ihr euch schon geküßt?"
"Uhm... wir..."
"Sicher habt ihr schon, so nah wie ihr euch steht."
"Nein..." flüsterte er.
"Was? Nicht?"
Sie war sichtlich überrascht. Dann grinste sie.
"Möchtest du... es üben? Mit mir?"
"Was soll das denn jetzt?"
"Ha, dachte ich es mir doch, du bist ein Feigling, stimmt´s? Selbst wenn Rei über ihren
Schatten springen würde, könntest du immer noch nicht den Mut aufbringen."
"Das stimmt nicht!"
"Was, hast du keine Angst?"
"Nein."
Er schluckte, stellte sich mit gespitzten Lippen in Positur. Niemand sollte ihn mehr einen
Feigling nennen...
Asuka zögerte einen Moment, dann spitzte auch sie die Lippen und beugte sich vor,
stellte sich der Herausforderung...
In diesem Moment ging das Licht wieder an.
Die Türen des Aufzuges öffneten sich und Misato und Kaji, die beide in der Kabine ein-
gesperrt gewesen waren, bot sich ein interessanter Anblick. Das gleiche galt für Rei, die
gerade in den Korridor einbog und stehenblieb, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen.
Der Anblick ließ etwas in ihr zerbrechen...
Shinji riß die Augen auf, stolperte zurück.
"Ah..."
Asuka errötete.
"Kaji, es ist nicht so..."
Shinji sah Rei, sah, daß eine Träne über ihre Wange lief, ehe sie sich herumwarf und davon-
rannte...
***
"Warum? Warum? Warum? Ich weine... Dieses Miststück... Wut... ich bin wütend... Ent-
täuschung... ich bin enttäuscht... warum mußte er mein Herz berühren? Warum habe ich es
zugelassen? Warum lebe ich überhaupt?"
***
Als Shinji, Asuka und Misato in die gemeinsame Wohnung zurückkehrten, stellten sie fest,
daß die meisten von Reis Sachen fort waren, auf dem Tisch lag eine kurze Nachricht, aus
der hervorging, daß Rei in ihr altes Apartment zurückgekehrt war.
"Wer hätte gedacht, daß das Wondergirl so zu Herzen geht?" sprach Asuka ihre Gedanken
aus.
"Sei still!" schrie Shinji. "Sei still!" Er rannte aus dem Apartment.
Vor dem Haus stieß er fast mit Kaji zusammen, der Misatos Jacke bei sich hatte, welche sie
im Aufzug zurückgelassen hatte.
"Shinji, was ist denn los?"
Er beichtete Kaji die ganze Geschichte.
"Oh je, ich glaube zu verstehen."
"Was soll ich jetzt tun, Kaji-san?"
"Hm, tja... Weißt du, mit Frauen ist das so eine Sache. Wir Menschen verstehen uns mei-
stens selbst nicht, wie könnten da glauben, andere zu verstehen?! Und Frauen kommen
mir manchmal vor wie eine ganz eigene Spezies."
"Heißt das, Sie wissen es auch nicht?"
"Ah... Ich habe einige Erfahrungen. Paß auf, egal, was Asuka und du getan habt, für Rei sah
es aus, als würdest du sie hintergehen, als könnte sie dir nicht vertrauen, verstehst du?"
"Ja."
Shinji blickte zu Boden.
"Und das heißt, ehe du überhaupt versuchen kannst, ihr deine Version der Geschichte nä-
herzubringen, mußt du dich erst bei ihr entschuldigen."
"Aber ich..."
"Shinji, es ist egal, ob Asuka und du euch geküßt habt, oder kurz davor standet oder
wie auch immer, ob du oder sie die ganze Sache angeleiert hat, der Eindruck ist da."
"Ja, aber was kann ich tun, damit sie mir zuhört?"
"Bring ihr Blumen, kauf ihr Schokolade... und wenn das alles nichts nützt, kannst du
immer noch vor ihr auf die Knie fallen. Aber das nur, wenn du es wirklich ernst meinst
- du wärst sonst ziemlich wehrlos..."
"Ja, danke, Kaji-san."
***
"Blumen... Schokolade... ich weiß nicht einmal, was für Blumen ihr gefallen... oder ob sie
überhaupt Schokolade ißt..."
Shinji stand vor dem heruntergekommenen Apartmentgebäude, in dem Rei wohnte. In
der Nähe befanden sich mehrere Baustellen, der Lärm war allgegenwärtig. Die Haustür
war nicht geschlossen, er trat ein, lief die Treppen hinauf, blieb vor ihrer Tür stehen,
klingelte.
Drinnen blieb es still, die Klingel war immer noch defekt.
Er klopfte, mehrfach.
Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet.
"Oh, du... Was willst du?" fragte Rei monoton. Ihre Augen waren verweint.
Eine kalte Hand schien sich bei dem Anblick um sein Herz zu legen, plötzlich fühlte
er sich noch elendiger als zuvor, weil sie wegen ihm gelitten hatte.
"Rei... ich... bitte, darf ich hereinkommen?"
Sie trat von der Tür weg, er folgte ihr.
"Also, sag, was du zu sagen hast."
"Rei, es tut mir leid..."
"Es tut dir leid? Was tut dir leid? Daß du mit mir und meinen Gefühlen gespielt hast, oder
daß ich euch beide erwischt habe?"
Immer noch sprach sie mit ihrer tonlosen Stimme.
"Nein..."
Er sank auf die Knie.
"Es tut mir leid, daß ich so schwach bin..."
Sie blickte ihn an, blinzelte.
Tränen über seine Wanken. Er schniefte.
"Bitte, Rei, verzeih mir. Für Asuka war es nur ein Spaß, aber ich, ich hätte es besser
wissen müssen..."
"Steh auf."
Ihre Stimme war sanft, als sie ihm die Hände reichte, in die Höhe zog und in die Arme
nahm.
"Versprich mir nur, daß es nie wieder soweit kommt."
"Ja, du hast mein Wort." flüsterte er, das Gesicht in ihr kurzes weiches Haar vergra-
ben.
"Gut."
Sie hielt ihn fest, schloß die Augen und ließ ihr Gesicht auf seiner Schulter ruhen.
Zeit verging...
"Rei?"
"Ja?"
"Darf ich... kann ich..."
"Was?"
"... dich küssen?"
Für einen Moment versteifte sie sich. Sie sah ihm ins Gesicht.
"Warum?"
"Weil ich meinen ersten Kuß mit dir erleben möchte... ah... mit dem Menschen, den ich
liebe..."
"Oh..."
Wieder schien eine Ewigkeit zu vergehen, ehe Rei die Augen schloß und ihre Lippen
an die seinen brachte...
Das Wasserglas auf dem Schränkchen neben dem Fenster war fast voll.
***
"Wie verletzlich er ist, als er in meinen Armen schläft... ich glaube ihm... Ich kann ihm
vergeben... ich liebe ihn... ich brauche ihn... er macht mich komplett..."
***
Misato blickte am nächsten Morgen besorgt in Shinjis Zimmer. Das Bett war unbenutzt.
"Ich habe als sein Vormund versagt..."
In diesem Moment wurde die Wohnungstür geöffnet.
Misato fuhr herum.
Aus der Schwelle standen Shinji und Rei, beide trugen je eine Tasche mit Reis Sachen.
Misato atmete auf.
"Ihr seid zurück."
Rei trat ihr entgegen, verbeugte sich.
"Es tut mir leid, wenn Sie sich Sorgen gemacht haben."
"Schon gut, Rei. Und hör auf, mich zu siezen, da fühle ich mich immer so alt."
"Ja... Misato."
Rei lächelte.
"Willkommen zurück."
***
Drei weitere Engel kamen und wurden besiegt. Sandarphone sollte von EVA-02 aus
einem Vulkan geborgen werden, erwachte aber gerade im Moment des Abschlusses der
Bergungsoperation. Asuka konnte ihn vernichten, mußte aber ihrerseits von EVA-01
gerettet werden, ehe EVA-02 in der Magma versank. Der nächste Engel blieb von den
Piloten unbemerkt, er versuchte, in der Maske eines Computerviruses die MAGI-
Rechner zu übernehmen, konnte aber im letzten Moment gestoppt werden. Unmit-
telbar darauf griff der spinnenartige Matriel an. Zu diesem Zeitpunkt waren noch
nicht alle Folgen des Virenangriffes überstanden, die MAGI befanden sich in einem
ausgedehnten Systemcheck- und Rebootmodus, so daß die EVAs manuell bereitge-
macht werden mußten. Durch Teamwork gelang es den drei Piloten, Matriel aufzuhalten.
***
Nach dem Kampf saßen Shinji und Rei in einem leicht abgedunkelten Raum irgendwo
im Hauptquartier auf einem Sofa, das heißt, Rei saß auf Shinjis Schoß und er hatte
die Arme um sie geschlungen.
In seinem Büro beobachtete Ryoji Kaji, wie die beiden Teenager lange Küsse aus-
tauschten, schaltete dann grinsend auf eine andere der vielen Kameras um, die er heim-
lich im HQ instal-liert hatte, und sorgte dafür, daß die reguläre Überwachungskamera
ein Standbild eines leeren Raumes zeigte.
***
Mit Einbruch der Nacht schoben sich die Hochhäuser der Stadt aus dem Boden, erwach-
te Tokio-03 zu wahrem Leben, als Lichter die Dunkelheit erhellten.
Der Weißhaarige beobachtete das Spektakel von einem Aussichtspunkt auf einer Anhö-
he, den Raben auf der Schulter, doch er sah noch mehr. Geschulte Augen und Sinne er-
kannten die Kraftströme an Chi-Energie, die aus dem ganzen Land zu diesem Ort flossen,
spürten den mächtigen Knoten in der Tiefe, wo sich die Drachenpfade kreuzten.
"Siehst du es auch, Tymael? Dieser Ort verschlingt die Kraft wie ein bodenloser Abgrund.
Etwas dort unten muß all die Quintessenz benötigen."
Der Rabe gab ein Krächzen von sich.
"Ich weiß nicht. Wenn die Söhne des Äther dort ihre Werkstätten hätten, wüßten wir es.
Ich hoffe nur, daß es kein Konstrukt der Technokratie ist, sonst könnte LaRochelle sich
wiederholen..."
Er erzitterte, als die Erinnerung an den letzten Kampf in ihm hochstieg, den Kampf, bei
dem der Orden und die westlichen Zweige der Traditionen alles in die Waagschale gewor-
fen hatten, um zu vereiteln, daß die Technokraten die Magie in der westlichen Hemisphäre
völlig unter ihre Kontrolle brachten. Sie hatten den entscheidenden Kampf verloren, er war
der einzige Überlebende der Streitmacht gewesen, fortgeschickt durch das Opfer seiner
Geliebten. Doch der Gegner hatte seinen Sieg nicht auskosten können, denn der Second
Impact hatte die Pläne der Technokratie, die Welt zu beherrschen, ebenso hinweggefegt,
wie LaRochelle und die meisten anderen Konstrukte, ebenso wie die Festungen der Tradi-
tionen, als der Avatarsturm losbrach...
Plötzlich lachte er, als ihm klarwurde, daß er nicht mehr lebend nach Vardian, den Aus-
gangspunkt seiner Reise, zurückkehren würde...
ASGARD, Hauptquartier von ODIN, dem westlichen Arm des UN-Geheimdienstes,
Das Büro war immer noch neu und ungewohnt.
Die Wände waren mit Holz getäfelt, zwischen den Aktenschränken hingen Bilder früherer
ODIN-Direktoren und ranghoher Mitarbeiter, in einer Ecke stand eine große Vase, in der
mehrere Fahrenstöcke standen mit den Flaggen der Länder Europas und der beiden amerika-
nischen Kontinente.
Der Raum wurde dominiert von einem breiten Schreibtisch, hinter dem Schreibtisch stand
ein bequemer Sessel, davor zwei weitere, ferner gab es zwei Stühle in einer anderen
Ecke.
Der Schreibtisch war sauber und aufgeräumt, auf ihm befanden sich derzeit nur zwei Ge-
genstände, der eine war ein Bilderrahmen mit einem Foto darin, welches einen schwarz-
haarigen lächelnden Mann, eine dunkelblonde Frau und ein rothaariges Mädchen mit ern-
sten blauen Augen zeigte, der andere ein golden schimmernder Metallbarren, in dessen
Vorderseite Buch-staben eingraviert waren:
Commander Wolf Larsen, Special Operations Director.
Durch ein großes zweigeteiltes Fenster fiel das Sonnenlicht in den Raum, am Fenster
stand ein Mann, es war derselbe, der auf dem Foto abgebildet war. Er sah nach draußen,
auf eine Wiese hinab.
Auf der Wiese spielten Kinder. Durch die geschlossenen Fenster drang kein Laut ins In-
nere des Raumes. Er griff nach dem Fensterhebel und öffnete den linken Flügel. Seine
Hand war aus mattschwarzem Metall.
Lachen drang an sein Ohr, er lächelte unwillkürlich, trat dann vom Fenster zurück, ging
um den Schreibtisch herum und setzte sich.
Es war zwei Uhr nachmittags.
An der Tür klopfte es.
"Herein."
Ein älterer Mann in einem grauen Anzug trat ein, er hatte schütteres Haar, seine Haut
besaß einen leichten Gelbstich und ihn umgab ein penetranter Nikotingeruch.
"Ich wollte nur vorbeisehen, ob Sie sich bereits eingelebt haben."
"Es geht, Commander."
Larsen erhob sich und schüttelte die Hand seines Besuchers.
"Ah, lassen Sie nur, schließlich bin ich aus dem Dienst ausgeschieden."
"Ich sitze auf Ihrem Stuhl - und ich weiß, wem ich es zu verdanken habe."
"Unsinn. Und, wie waren Ihre ersten Tage?"
"Hektisch. Meiner Frau geht´s schlechter und ich mache mir Sorgen um Asuka."
"Hm..."
Larsen betätigte einen Schalter unter der Tischplatte.
"Wir könen offen sprechen. Im Bereich des Flüsterfeldes befinden sich keine Wanzen."
"Gut. Haben Sie sich die Unterlagen angesehen?"
"Natürlich, deshalb habe ich auch Agent Kaji auf die Sache angesetzt."
"Gute Wahl. Er ist ein sehr kompetenter Mann, wenn auch etwas risikofreudig."
"Dennoch ist es etwas schwer zu glauben, daß eine Organisation namens SEELE die Welt
vernichten will, damit ihre Führer sich zu Göttern erheben können."
"Deshalb habe ich Ihnen das Material gegeben - Sie zweifeln."
"Schon die Tatsache, daß Direktor Kiehl in die Sache verwickelt sein soll..."
"Wenn meine Quellen mich nicht angelogen habe, ist er sogar ihr Anführer, SEELE-01."
"Das macht es nicht leichter... Ein internationales Komplott, in das hochrangige Wür-
denträger aus der ganzen Welt verwickelt sind... Staatschef, religiöse Führer... der
Chef des UN-Geheimdienstes..."
"Und wenn es wahr ist? Wenn es wirklich ihr Plan ist, die Seelen der Menschen zu ver-
einen?"
"Ja... Wäre das so schlecht... ich weiß es nicht, ich habe mir diese Frage schon mehr-
fach gestellt."
"Und deshalb waren Sie meine Wahl, ich kann es nur wiederholen. Zugleich muß ich mich
bei Ihnen entschuldigen."
"Wofür?"
Der andere zündete sich eine Zigarette an.
"Daß ich Sie damit allein lasse. Ich hätte nicht den Mut, über das Schicksal der Welt
zu entscheiden."
***
Tokio-03
Engel-Alarm...
Der Engel hatte den Codenamen Israfel erhalten. Er kam aus dem Meer.
Einheit-00 war noch immer beschädigt, so blieb Rei im Hauptquartier zurück, während
EVA-01 und -02 ausrückten. Sie stand in der Kommandozentrale im Schatten neben einer
Tür an die Wand gelehnt und beobachtete das Geschehen auf dem Hauptmonitor.
Weiter oben, im Leitstand, saß Gendo Ikari und blickte über seine gefalteten Hände,
hinter sich Subcommandant Kozo Fuyutsuki. Seinem Gesicht war keine Emotion zu entnehmen.
Rei verehrte den Kommandanten, ohne ihn hätte es sie nicht gegeben, das war ihr klar.
Und dennoch hatten sich in letzter Zeit Zweifel in ihr breit gemacht. Weshalb kümmerte
der ältere Ikari sich nicht um seinen Sohn? Warum hatte Shinji ohne Vater aufwachsen
müssen? Wieso hatte der Kommandant ihr einmal erzählt, Shinji wäre weggelaufen, wenn er
ihn doch in Wahrheit bei Pflegeeltern zurückgelassen hatte? Langsam wurde ihr klar, daß
sie für den Kommandanten auch nur ein Werkzeug war, so wie jeder andere auch, so wie
Shinji. Und sie wußte, daß sie Shinji beschützen würde, soweit es in ihrer Macht
stand...
Sie mochte den Jungen, mochte ihn sehr. Am Vorabend hatten sie wieder etwas gemeinsam
unternommen, waren Hand in Hand über einen Jahrmarkt gegangen und hatten jeder eine
große Portion Eis verschlungen.
Doch jetzt dachte sie nicht an diese für ihre Verhältnisse recht fröhlichen Stunden,
sondern bangte mit ihm und hoffte, daß er nicht zu Schaden kam.
EVA-02 watete ins Wasser, seine Lanze in der Hand.
Israfel stellte sich.
Asuka schlug zu, teilte den Engel in der Mitte.
Shigeru Aoba von der Brückencrew stieß mit der Faust in die Luft.
"Ja!"
Es erfolgte keine Explosion.
Reis Augen wurden ein wenig größer. Sie löste sich von der Wand, wollte Misato zurufen,
daß diese die beiden Piloten warnen müßte, doch da war es schon zu spät.
Furcht umklammerte ihr Herz, Angst um Shinji...
Der Engel teilte sich, jeder Teil griff einen der beiden EVANGELIONs an, überraschte
die Piloten vollkommen. Shinji konnte sich eine Zeitlang seines Gegners erwehren, doch
als die zweite Hälfte des Engels hinter ihm auftauchte, nachdem er EVA-02 ausgeschaltet
hatte, hatte auch EVA-01 keine Chance mehr. In dieser Situation verzichtete NERV auf
das taktische Eingreifrecht, von den bereitstehenden UN-Truppen wurde eine N2-Mine
eingesetzt, durch wel-che Israfel vorerst außer Gefecht gesetzt wurde. Für NERV war es
eine Blamage. Nach ersten Berechnungen würde der Engel fünf Tage benötigen, um sich
vollständig zu regenerieren, der Einsatz weiterer N2-Bomben verbot sich von selbst,
wollte man nicht den ganzen Landstrich einebnen. Es blieben fünf Tage, um eine Strate-
gie auszuarbeiten. Die Reparatur der EVAs würde fast genauso lange dauern.
Schließlich kam Misato mit Hilfe des mit Asuka eingetroffenen Ryoji Kaji auf die Idee,
Asuka und Shinji für einen Synchronangriff trainieren zu lassen, beide sollten nach dem
Rhythmus einer Musik vorgehen, um so das Zusammenspiel der beiden Hälften des Engels
kontern zu können.
Kernpunkt der Strategie war, daß Asuka und Shinji die Zeit über zusammen in einem Zim-
mer leben sollten, Misato requirierte hierfür einen Raum im Hauptquertier, ließ zwei
Betten hineinstellen und die beiden trainieren.
In dieser Zeit wohnte Rei allein bei Misato. Sie war ruhig, machte die Arbeiten, die
Shinji normalerweise erledigte, wobei sie sich immer wieder dabei ertappte, wie sie vor
Shinjis Zimmertür stand, die Hand nach der Klinke ausgestreckt, und sich fragte, was er
wohl gerade machte.
Sie hatte die Wohnung meistens für sich allein, las in ihren Büchern oder lag auf ihrem
Bett und hing ihren Gedanken nach, wenn sie nicht in der Schule oder im Testcenter war.
Drei Tage vergingen so.
Am vierten bat Misato Rei, sie zu begleiten, etwas, worauf Rei die ganze Zeit über ge-
wartet hatte. Den ganzen Tag lang beobachtete sie Shinji und Asuka bei ihrem Training,
war mehrmals nahe dran, ihre Maske der Ruhe fallenzulassen und sich auf die Rothaarige
zu stürzen, wenn diese Shinji beschimpfte und ganz allein für Fehler verantwortlich mach-
te. Als sie ging, blickte sie kurz über die Schulter zurück, bemerkte Shinjis Blick, mit
dem er sie um Hilfe bat. Zur Aufmunterung schenkte sie ihm ein Lächeln.
Am Abend war Misato ausnahmsweise daheim.
"Misato-san..."
"Ja, Rei?" fragte sie überrascht.
"Das Second Children behandelt Shinji schlecht."
"Hm. Ja."
"Warum trainiere ich nicht mit ihm?"
"Das weißt du doch, Einheit-00 ist noch immer nicht ganz regeneriert."
"Ja. Ich könnte Einheit-02 nehmen."
"Das würde Asuka gar nicht gefallen. Sie hat es sich ausbedungen, daß nur sie EVA-02
steuern darf."
"Das ist mir egal." brach es aus dem blauhaarigen Mädchen hervor.
Misato hielt inne, sah Rei an.
"Du magst Shinji, nicht wahr?"
"Ja... Soryu darf ihn nicht schlecht behandeln."
Das Geständnis war einfach über ihre Lippen gekommen. Sie hatte vorher nicht lange nachge-
dacht, sich nicht die möglichst effizientesten Worte zurechtgelegt, sondern einfach ihr
Herz sprechen lassen.
"Ganz meine Ansicht... Morgen sehen wir uns noch einmal an, wie sie sich schlagen. Rei,
könntest du mit Shinji zusammenarbeiten?"
"Ja."
"Gut, dann haben wir einen Trumpf. Und übermorgen wird es sich entscheiden, entweder geht
die Welt unter, oder Shinji ist wieder frei. Dann haben wir ihn wieder."
"Ja. Er wird nicht scheitern."
"Du hast großes Vertrauen in Shinji. Und Asuka?"
"Sie macht mich... wütend..."
Der - für Reis Verhältnisse - gefühlsmäßige Aufbruch überraschte das Mädchen mit dem
blauen Haar selbst.
"Hm... verstehe. Ich habe schon bemerkt, daß sie sich anders verhält, wenn sie sich unbeo-
bachtet fühlt. Mir gefällt das ganze auch nicht, aber sie ist unsere beste Pilotin. Rei...
Shinji lebt schon eine ganze Weile bei mir und er ist für mich wie ein kleiner Bruder...
Vielleicht sieht er sogar in mir eine Art große Schwester, eine große, schlampige, versof-
fene Schwester..."
Misato grinste.
Reis Mundwinkel zuckten.
"Hey, du kannst das ja auch."
"Ich..."
"Komm, noch etwas. Ja..."
Rei tastete mit den Fingerspitzen über ihr Gesicht.
"Das ist ein... Grinsen?!"
"Ja. Hast du... schon einmal gelächelt?"
"Ja..."
"Was bringt dich zum Lächeln?"
"Shinji..."
"Hört sich an, als würdest du ihn sehr mögen." Sie stieß Rei an. "Habt ihr euch schon ge-
küßt?"
Rei wurde knallrot.
"Nein."
"Ich glaube, er mag dich auch."
"Wenn Soryu ihn weiterhin schlecht behandelt..."
"Du wirst gar nichts tun, verstanden?"
"Ja, Captain."
***
"Shinji, was tut er wohl jetzt gerade? Soryu und er teilen sich ein Zimmer. Soryu...
rot... ich mag die Farbe rot nicht... Blut ist rot... ich mag kein Blut... Soryu macht
mich wütend... Wut ist unproduktiv... sie behandelt Shinji schlecht... ich möchte ihn be-
schützen, aber ich darf nicht..."
***
Auch am nächsten Tag verlief das Synchrontraining nicht gerade synchron. Mitten drin brach
Asuka ab und sah Rei wütend an.
"Was macht die hier eigentlich? Das lenkt mich ab!"
Shinji öffnete den Mund, doch Misato kam ihm zuvor und schickte Rei ins Feld. Der Junge war
leicht durcheinander, weshalb sollte er nun mit Rei tanzen, nachdem er mit Asuka geübt
hatte? Dennoch schlich sich ein zaghaftes Lächeln auf sein Gesicht, als Rei neben ihm Stel-
lung bezog und Misato die Musik anmachte.
Er bewegte sich im Takt, sogut er konnte.
Rei spiegelte jede seiner Bewegungen nach. Es war perfekt...
Misato und Kaji staunten.
"Wenn EVA-00 nicht in Reparatur wäre..."
Asuka schäumte.
"Dann soll sie doch EVA-02 nehmen!"
Mit diesen Worten stürmte sie hinaus.
Rei wollte etwas sagen, doch da schickte Kaji Shinji Asuka hinterher, um sie zurückzuholen.
***
"Warum... warum muß er mit ihr trainieren? Ich bin bereit, an seiner Seite zu kämpfen. Ich
weiß, daß ich es kann, ich habe es bewiesen, ich kann es besser. Asuka... sie macht mich
wütend... nicht nur wütend... sie hat Shinji... Was ist das für ein Gefühl? Eifersucht?"
***
Am nächsten Tag kam der Moment der Wahrheit. Die beiden EVAs waren gerade rechtzeitig
wieder einsatzbereit geworden, als der Engel sich zu rühren begann. Asuka und Shinji
schafften es, den Doppelkörper Israfels zu besiegen.
Und danach zog auch noch Asuka in Misatos Wohnung ein...
***
Der Tag hatte eigentlich normal angefangen, Shinji war nach einer Woche Abwesenheit erst-
mals wieder zur Schule gegangen. In der nächsten Woche standen mehrere Prüfungen an und
er hatte keine Ahnung von dem Stoff. Touji und Kensuke ging es ähnlich, nur Rei hatte ei-
gentlich den Überblick.
Es war Touji, der beschloß, daß man im Katsuragi-Apartment einen Schlachtplan schmieden
sollte, wie man sich möglichst effektiv auf die Tests vorbereiten könnte. Als Shinji ihm
auf den Kopf zusagte, daß er doch nur Misato sehen wollte, sah Touji sich ersteinmal unauf-
fällig um, ob Hikari in der Nähe war, ehe er enthusiastisch nickte.
Rei sagte dazu nichts, schließlich hatte sie Shinji wieder, und das war sie auch bereit
aller Welt zu zeigen, als sie sich auf dem Weg wieder bei ihm einhakte und Kensuke, der
ein leises Pfeif-fen von sich gab, mit einem Heben der Augenbraue zum Schweigen brachte.
Als die kleine Gruppe in der Wohnung ankam, stand diese voller Koffer und Kartons. Und
mittendrin stand Asuka und grinste.
"Was machst du denn hier?" stammelte Shinji.
"Oh, ich wohne jetzt hier. Misato hat mich so nett gebeten. Du kannst deine Sachen in
die Besenkammer räumen."
Sie deutete auf einen einzelnen Karton, in dem sein Zeug lag.
"Was?"
"Na, ich ziehe in dein Zimmer."
"Ah..."
Shinji klappte der Unterkiefer nach unten.
Rei wollte an seine Seite treten und erklären, daß er in ihrem Zimmer schlafen könnte,
als Misato aus ihrem Zimmer kam.
"Ach, ihr seid schon zurück."
"Misato-san!" riefen Touji und Kensuke gleichzeitig voller Begeisterung.
"Oh, ihr, hallo! - Shinji, Rei, Asuka hat mich gefragt, ob sie nicht auch hier wohnen kann,
ich dachte mir, Shinji zieht in das kleine Zimmer und Rei und Asuka in das größere."
"Was, ich soll mit... Wondergirl hier in einem Zimmer wohnen?" rief Asuka.
"Ein anderes Arrangement ist nicht möglich. - Schließlich können Shinji und Rei schlecht
im selben Zimmer schlafen."
Rei lag eine Erwiderung auf der Zunge, merkte dann aber, daß Shinji sich neben ihr ver-
steifte, daß er drauf und dran war, einem Impuls nachzugeben...
"Hrmpf." kam Asuka ihnen beiden zuvor.
Kensuke deutete auf Misatos Uniformjackenkragen.
"Misato-san, Sie sind ja befördert worden!"
"Hm, woran siehst du das?" fragte Touji.
"Na, sie hat einen weiteren Streifen an der Jacke! Misato-san wurde vom Captain zum
Major befördert!"
Misato errötete.
"Ja, für den Erfolg gegen den letzten Engel."
"Ui, toll! Herzlichen Glückwunsch." rief Kensuke.
"Danke."
"Das muß gefeiert werden!" Er sah Touji an.
"Ja, Party!"
***
Wenig später, nachdem rasch alles in die entsprechenden Räume geschafft worden war,
saßen sie alle um den Eßtisch herum. Shinji saß zwischen Asuka und Rei, dann kam Touji,
auf der anderen Seite saßen Misato und Pen-Pen, während Kensuke um den Tisch herumtän-
zelte, auf dem eine Kochplatte stand, auf der Gemüse und kleine Fleisch- und Fischstück-
chen garrten. Später erschien auch noch Hikari, Asuka, die sich in den letzten Wochen
mit ihr angefreundet hatte, hatte sie eingeladen; als letzter tauchte Kaji auf, sehr
zu Asukas Begeisterung.
Nach dem fünften Bier - oder so - entschied sich Misato, auch den Teenagern jeweils
ein Bier zu gestatten.
"Ah, komm Rei, dasch ischt ein Befehl! Und du auch, Schinschi."
Während Rei automatisch tat, wie ihr geheißen war, zögerte Shinji.
"Ich mag das nicht, Misato."
"Nu, komm, nur ein Schlückschen."
Also tat er so, als tränke er einen Schluck und schob die Dose dann unauffällig Touji
zu.
Rei leckte sich die Lippen. Und damit fing der Ärger an.
Irgendwann hatte Hikari sich verabschiedet, sie hatte nichts getrunken. Touji und
Kensuke lagen über den Boden verteilt mitten im Zimmer, Asuka hatte einen glasigen
Blick, während Rei gegen Shinji lehnte und leise vor sich hin kicherte, dabei nach
der halbvollen Dose schielte, die vor Asuka stand.
Kaji erhob sich ächzend.
"Schlafenszeit für Piloten!"
"Ach, komm Kaschi, der Tag ischt noch jung", nuschelte Misato.
"Und du brauchst frische Luft."
Er zog Asuka auf die Beine.
"Ab ins Bett, junge Dame."
"Kommst du mit?"
"Ab!"
"Na gut..."
Sie schlich von dannen.
"Shinji?"
"Ja, Kaji-san?"
"Was ist mit Rei?"
"Weiß nicht." Shinjis Blick nach war ihm Reis Verhalten denkbar unheimlich. "Rei?"
"Hm..."
*kicher*
"Will noch ein Bier..."
"Oh je..."
Shinjis Blick jagte von einem der Anwesenden zum nächsten.
"Hackevoll", murmelte Kaji. "Was für Zeug hat Katsuragi da bloß gekauft?"
"Ihre Standardmarke."
"Hm, stimmt. - Rei?"
"Ja, Kaji-san? Bekomme ich noch ein Bier?"
"Nein. Du gehst jetzt ins Bett." Als sie sich nicht rührte, benutzte er das Zauberwort.
"Das ist ein Befehl."
"Ja, Major. Schade. Bier ist lecker..."
Sie trottete davon in dieselbe Richtung, in die schon Asuka verschwunden war, warf Shin-
ji einen sehnsüchtign Blick zu, den dieser nicht wahrnahm, weil er in diesem Moment von
Kaji abgelenkt wurde.
"Ich kümmere mich um Katsuragi", erklärte Kaji. "Okay?"
Shinji nickte, während er über seinen Freunden Decken ausbreitete und Touji ein Kissen
unter den Kopf schob, welches dieser im Schlaf sofort besitzergreifend festhielt.
***
Rei lag auf ihrem Bett und kicherte immer noch vor sich hin. Sie trug jetzt das blaue
Nachthemd, welches sie mit Misato am Tag nach ihrem Einzug gekauft hatte. Oh, und sie
kicherte, nur falls das noch niemandem aufgefallen sein sollte.
Asukas Bett stand in der gegenüberliegenden Ecke, sie lag quer, ein Bein hing über die
Bettkante. Asuka schnarchte.
Rei hörte auf zu kichern und sah zu Asuka hinüber, mußte plötzlich wieder kichern,
stand auf.
Auf dem Nachtschrank neben Asukas Bett stand deren offenes Schminkköfferchen.
Rei hatte einen furchtbaren Plan...
Nach Ausführung ihres Planes verließ sie das Zimmer und huschte über den Flur in
Shinjis Raum.
***
Shinji lag in seinem Bett, Gesicht zu Wand, die Decke fast bis über die Ohren hochge-
zogen. Er hatte zwar keinen Alkohol getrunken, wollte sich aber dennoch so gut wie
möglich vom Rest der Welt abgrenzen, indem er mit der Decke eine Barriere formte.
Die Tür seines Zimmers wurde geöffnet.
Er verhielt sich still, hoffte, daß wer auch immer es war, wieder ging, wenn er glaub-
te, daß er schlief.
Die Tür wurde wieder geschlossen. Etwas fiel zu Boden, etwas leichtes.
Shinji versteifte sich, als seine Decke angehoben wurde und ein warmer Körper zu ihm
schlüpfte, - ein warmer nackter Körper einer definitiv weiblichen Person, - war plötz-
lich hellwach. Im nächsten Moment knabberte eben diese Person an seinem Ohrläppchen.
"Shinji..." hauchte eine warme Stimme in sein Ohr.
Er riß die Augen auf, drehte den Kopf.
"Rei!"
"Hm."
Sie gab ein schnurrendes Geräusch von sich, preßte sich noch enger an ihn. In seinen
Boxershorts regte sich etwas als Reaktion darauf. Ihre Augen waren geschlossen, als
sie sich an ihn schmiegte, den Kopf auf seine Brust und den Arm um ihn legte und ein-
schlief.
"Ah..."
Er schluckte, dann zog er die Decke bis über ihre Schultern und nahm sie vorsichtig
in den Arm. Er konnte ihren Herzschlag spüren, ruhig und gleichmäßig, im Takt mit
seinem eigenen.
Irgendwann driftete auch er weg.
***
Misato erwachte mit höllischen Kopfschmerzen. Dunkel erinnerte sie sich an die Party
am vergangenen Abend und daß sie mit Kaji durch die Nacht gewandert war. Ebenso ver-
schwommen erinnerte sie sich daran, ihn geküßt zu haben - oder hatte er sie geküßt?
Mit immer noch geschlossenen Augen tastete sie hektisch neben sich in ihrem Bett, ob
sie allein war. Da war niemand.
Endlich gelang es ihr, die Augen zu öffnen. Durch das Fenster fiel Licht in schmerzen-
der Helligkeit. Sie drehte sich auf die Seite, stellte fest, daß sie nur mit ihrer
Unterwäsche bekleidet war, angelte nach ihrer Kleidung, die neben dem Bett lag.
"Kaffee, ich brauche Kaffee... Und dann ein Bier..."
***
Als sie ihr Schlafzimmer verließ, stolperte sie fast über Kensuke, der sich auf der
Türschwelle zusammengerollt hatte, stieg vorsichtig über ihn hinweg. Mehr in der Mitte
des Raumes lag ein schnarchender Touji, während Kaji auf dem Sofa lag, seine Beine rag-
ten über die Lehne hinaus.
Misato mußte lächeln bei dem Gedanken, daß er ihre Lage nicht ausgenutzt hatte. Dann
fiel ihr Blick auf den Eßtisch und die leeren Bierdosen. Wie erstarrt blieb sie stehen.
"Oh, mein Gott... Ich habe ihnen Alkohol gegeben... Wenn irgendetwas passiert ist, ko-
stet mich das meinen Kopf..."
Sie schlug die Richtung zu den Räumen der Kinder ein, entschied sich zuerst, bei Shin-
ji nach dem Rechten zu sehen.
Shinji lag in seinem Bett, neben und halb auf ihm lag Rei, den Kopf an seiner Brust,
die Hand auf seiner Schulter, während er sie im Arm hielt. Neben dem Bett lag Reis
Nachthemd.
Misato mußte sich am Türrahmen festhalten, schrie erschrocken auf...
Rei bewegte die Lippen, ohne etwas zu sagen, zog sich die Decke über den Kopf. Von ih-
rem Apartment her war sie Lärm gewohnt.
Shinji riß die Augen auf.
"Mi-Misato, es ist nicht..."
"Nein?!"
Aus dem gegenüberliegenden Zimmer kam Asuka.
"Was schreit ihr denn hier so herum...? Argh! Ihr Perversen! Das ist ja obszön!"
Shinji spürte den Drang, sich ebenfalls die Decke über den Kopf zu ziehen, in der
Hoffnung, daß man ihn nicht sah, wenn er niemanden sah, doch Rei hielt die Decke fest.
"Mann, was ist denn?"
Aus Richtung des Wohnraumes kam Touji angeschlurft.
"Diese... diese... diese beiden..." schimpfte Asuka und wandte sich ihm zu.
Touji schrie auf und ging auf Abstand.
"Argh! Ein rothaariger Dämon!"
"Seid ihr denn alle verrückt geworden?" schrie Misato dazwischen, ihre Kopfschmerzen
hatten inzwischen gigantische Ausmasse angenommen. Dann sah sie auch, was mit Asuka
geschehen war. Das rothaarige Mädchen trug Schminke, das Gesicht war weiß geschminkt,
auf die Stirn waren mit schwarzer Schminke Hörner und auf das Kinn ein Spitzbart gemalt
worden, dazu kamen verschiedene andere Verzierungen.
"Asuka..."
"Was denn?!"
"Geh ins Bad und wasch dich."
"Wieso, was ist denn?"
Sie rannte ins Badezimmer, blickte in den Spiegel und stieß einen lauten Wutschrei
aus. Im nächsten Moment kam sie auch schon zurück, stieß Touji zur Seite und quetschte
sich an Misato vorbei, griff nach der Bettdecke.
"Das warst du, Wondergirl!"
Kraftvoll zog sie die Decke weg, sog beim Anblick der nackten Rei die Luft ein.
Rei gab ein protestierendes "Hrmpf!" von sich.
Misato hielt Touji die Augen zu und schob ihn zurück, als er Asuka wütend folgen wollte.
"Zurück ins Wohnzimmer, Suzuhara!"
"Ja, Ma´am."
Sie atmete tief ein, nahm mit einem Anflug von Hoffnung zur Kenntnis, daß Shinji noch sei-
ne Shorts trug.
"Asuka, geh und hol mir das Telephon."
"Misato..."
"Ich will nicht mit dir diskutieren. Hol das verdammte Telephon!"
"Ja..."
Sie setzte sich auf die Bettkante, nachdem sie die Decke wieder über Rei ausgebreitet hatte,
die sich immer noch an Shinji kuschelte.
"Also, was ist hier passiert?"
"Nichts..." beeilte sich Shinji zu sagen.
"Nichts? Das hier sieht mir aber nicht nach ´nichts´ aus."
"Misato..."
"Sei still." Sie wandte sich an Rei. "Also, junge Dame, was hast du dazu zu sagen?"
"Soryu schnarcht."
"Agh..."
Asuka kam herein, schenkte Shinji und Rei keine Beachtung, sondern drückte Misato nur
das Telephon in die Hand und ging wieder hinaus.
Misato tippte Ritsukos Nummer ein, es dauerte einen Moment, ehe die Chefwissenschaftlerin
von NERV sich meldete.
"Ritsuko, ich bin´s. Komm sofort in meine Wohnung... Ja, es ist wichtig."
Sie legte auf.
"Shinji, zieh dir ´was über und warte im Wohnzimmer. Rei, du bleibst hier."
***
Akagi tauchte etwa zehn Minuten später auf und verschwand in Shinjis Zimmer.
Mittlerweile waren die anderen auch alle wach. Asuka war auf ihrem Zimmer, da sie mit den
ganzen Perversen, wie sie es ausdrückte, nicht zu tun haben wollte. Kaji lümmelte auf dem
Sofa, Shinji saß neben ihm wie ein Häufchen Elend, während Touji und Kensuke abwech-
selnd versuchten, ihn auszuhorchen, und ihm anerkennend zu verstehen gaben, was für
ein toller Hecht er ihrer Meinung nach war.
In Shinjis Zimmer beendete Ritsuko gerade die Untersuchung Ayanamis.
"Was auch immer die beiden gemacht haben, es ist nicht zum Äußersten gekommen", stellte
sie fest.
Misato atmete auf.
"Was ist hier überhaupt passiert? Habt ihr eine Party gefeiert?"
"Naja, eine kleine Siegesfeier, aber nur eine klitzekleine..."
"Und du hast Rei mit Bier abgefüllt?"
"Ich... nein... ja, aber es war nur ganz wenig..."
"Misato, weißt du eigentlich, was für ein Glück du hast? Rei verträgt absolut keinen Alkohol.
Ihr Körper ist nicht imstande, ihn abzubauen, ebensowenig wie sie in der Lage ist, tierische
Fette zu verdauen. Du hättest sie vergiften können."
Misato wurde kreidebleich.
"Das wußte ich nicht..."
"Liest du nicht die medizinischen Berichte? Shinji zum Beispiel verträgt keine Mandeln, sie
lösen bei ihm schwere allergische Reaktionen aus."
"Ich dachte... Rei hat eine Kondition wie ein Pferd, und..."
"Ich werde es nicht weitermelden, weil die Lage unter Kontrolle ist."
"Danke, Ritsuko."
"Ich tue das nicht für dich, sondern für Rei. Kommandant Ikari würde sie persönlich hier
wegholen und wieder in dieses heruntergekommene Loch stecken, in dem er sie damals
schon einquartiert hat."
"Danke, Doktor Akagi." kam es leise von Rei, die in die Bettdecke gewickelt auf dem Bett saß.
Ritsuko blinzelte.
"Kein Problem. Aber, Rei, du wirst nie wieder ein Bier oder andere alkoholhaltige Geträn-
ke auch nur anfassen, verstanden?"
"Ja."
"Das ist ein Befehl vom medizinischen Offizier von NERV - und du weißt, daß solche Befehle
allen anderen überrangig sind."
"Ja."
"Gut. Und jetzt ´was anderes: Weshalb bist du zu Shinji ins Bett gekrochen?"
"Soryu schnarcht."
"Hm." Akagi blickte Misato an. "Das erinnert mich an unsere gemeinsame Zeit auf der Uni.
Ich habe mir auch oft gewünscht, irgendwohin verschwinden zu können, wenn meine liebe Mit-
bewohnerin mal wieder abgefüllt war."
Misato wurde rot, senkte den Blick.
Von Rei kam ein leises Kichern.
Ritsuko sah das blauhaarige Mädchen mit gerunzelter Stirn an.
"Entschuldigung."
"Nein, Rei, es ist gut. Wenn wir unsere Gefühle zu sehr unterdrücken, können sie uns eines
Tages überwältigen. Balance ist wichtig, aber ein Mensch muß auch lachen oder weinen kön-
nen. Was empfindest du für Shinji?"
"Ich... mag ihn."
"Wie einen Bruder? Wie einen Kampfgefährten? Einen Mitbewohner? Einen Freund?"
"Nein... mehr..." sagte Rei zögerlich und zugleich voller Wärme.
"Ich verstehe..." Ritsuko wußte Reis Blick richtig zu deuten und seufzte. "Misato, ist Shin-
ji schon... du weißt schon, aufgeklärt?"
Misato zuckte zusammen.
"Ich glaube nicht, obwohl heutzutage..."
"Normalerweise wäre es Sache seines Vaters, aber ich kann mir nur schlecht vorstellen, daß er
sich dafür die Zeit nimmt. Du solltest dich darum kümmern."
"Ja." Misato lächelte säuerlich. "Das gehört wohl auch zum Job."
"Ich werde es Rei erklären."
"Danke."
"Ja. Hm, ich habe keine Ahnung, ob die beiden zu betrunken gewesen waren, um etwas anzu-
stellen, oder ob Shinji die Lage nicht ausnutzen wollte... oder ob er einfach zu verklemmt dazu
ist..."
"Shinji ist zuverlässig, er will es nur selber nicht wahrhaben."
"Gut. Vielleicht solltest du dich um deine Gäste kümmern."
***
Touji und Kensuke waren von Misato freundlich aber bestimmt vor die Tür gesetzt worden.
Die beiden waren sich einig, daß Shinji, selbst wenn nichts zwischen ihm und Rei geschehen
war, es dennoch faustdick hinter den Ohren haben mußte, schließlich hatte sich ein nacktes
Mädchen in seinem Bett befunden - und auch noch freiwillig...
Auch Kaji hatte die Wohnung verlassen, saß in seinem Wagen und lachte. Nach einigen
Überlegungen entschied er sich, die Sache nicht bis zu Shinjis Vater vordringen zu lassen,
auch wenn er diesem die Störung seines Szenarios gegönnt hätte...
Asuka saß auf ihrem Bett und überlegte, wie sie sich bei Rei für deren Schminkeinlage revan-
chieren konnte.
***
Nachdem auch Ritsuko wieder gegangen war, wies Misato Rei an, sich anzuziehen, dann
ging sie in die Küche, ohne Shinji anzusehen, öffnete den Kühlschrank und holte sich ein
Bier. Sie wollte die Dose gerade öffnen, als sie innehielt und die Dose auf Augenhöhe hielt.
"Shinji..."
"Ja, Misato?"
Seine Stimme klang nervös.
"Komm her und hilf mir."
Sie öffnete die Dose und goß den Inhalt in den Ausfluß.
"Misato, was..."
"Ohne das Zeug wäre ich nie auf die Idee gekommen, ihr könntet auch mal einen Schluck
vertragen. Weg damit."
"Und du?"
Sie lächelte.
"Ich werde es erstmal mit Kaffee versuchen. Kannst du welchen kochen?"
"Ja, Misato."
Er erwiderte ihr Lächeln
"Shinji, wieviel hattest du intus?"
"Nichts."
Sie war nicht überrascht.
"Tut mir leid, daß ich dich so angeschrien habe."
"Uhm..."
"Ich muß dir nachher ein paar Dinge erklären... über Männer und... Frauen..."
*gulp*
***
"Die Erinnerung an die Nacht ist etwas verschwommen... Ich erinnere mich seine Hand, die
mein Haar streichelt... Sein Herzschlag... Wärme... Ich glaube, seine Lippen haben meine Stirn
berührt... Es war... angenehm..."
***
Die nächste Woche brachte den Angriff Tzachqiels, der jedoch durch den Einsatz aller drei
EVAs aufgehalten werden konnte.
Rei fand am Tag nach dem Kampf einen Laubfrosch in ihrem Bett.
Asuka saß auf ihrem Bett und grinste breit in Erwartung eines Entsetzensschreies, doch ihr
Grinsen erstarb, als Rei den Frosch vorsichtig hochnahm und sie fragte, woher er kam.
"Ekelt er dich gar nicht an, so grün und schleimig, wie er ist?"
"Nein, warum sollte er, Soryu?"
"Ah, jetzt sehe ich, warum du und Shinji..."
"Second Children, ich bitte dich, Shinji-kun aus dem Spiel zu lassen. Und ich werde dich nur
einmal bitten."
Reis Blick war hart, ihre Stimme fest, als sie mit Asuka auf eine Weise sprach, die Gendo Ikari
Luftsprünge vor Freude hätte machen lassen, wäre er Zeuge gewesen. Das blauhaarige Mäd-
chen lieferte eine nahezu perfekte Imitation des Kommandanten.
"Oh, Wondergirl, bist du etwa verliebt? In Shinji-ohne-Rückgrat?"
Rei verließ wortlos das Zimmer, um den Frosch im nahegelegenen Park auszusetzen.
"Hm, na warte, dich kriege ich noch", murmelte Asuka.
***
In der Nacht schlich sie sich mit einem Eimer warmen Wassers an Reis Bett. Das andere
Mädchen lag genau richtig, Asuka mußte nur ihren Arm vorsichtig nehmen, um sie nicht
aufzuwecken, und ihre Hand ins Wasser halten.
"Mal sehen, ob dich immer noch alle für perfekt halten, wenn herauskommt, daß du noch ins
Bett machst, Wondergirl", grinste Asuka.
Rei lag auf der Seite mit dem Rücken zur Wand, eine Hand unter dem Kissen.
Asuka griff nach Reis Handgelenk. Und blinzelte. Der Arm ließ sich nicht bewegen. Rasch
vergewisserte sie sich, daß Rei noch immer schlief, ehe sie einen zweiten Versuch startete.
Wieder ließ sich Reis Hand keinen Millimeter bewegen.
Plötzlich flüsterte Rei ein Wort, einen Namen: "Shinji..."
Asuka sprang zurück, riß fast den Eimer um.
***
Sie blickte in den Spiegel, während sie ihr Haar kämmte.
Wer bist du?
"Rei Ayanami, ich bin Rei Ayanami."
Was tust du?
"Ich lebe."
Warum lebst du?
"Um EVA-00 zu steuern."
Wofür lebst du?
"Um die Engel zu bekämpfen."
Ist das alles?
"Nein..."
Wofür lebst du?
"Ich will leben... für ihn..."
***
Shinji spielte auf seinem Cello, er hatte seine Übungen in der letzten Zeit arg vernachläs-
sigt. Er spielte nicht, weil es ihm Spaß machte, oder er Gefallen an der Musik fand, sondern
weil man es ihm gesagt hatte, weil seine Pflegeeltern ihm das Cello gekauft und nie gesagt
hatten, er sollte mit dem Spielen aufhören.
Dennoch, wer ihn hörte, kam nicht umhin, ihm großes Talent zu bescheinigen.
Einen Vorteil hatte es jedoch für ihn, wenn er spielte, dann ging er ganz darin auf und ver-
gaß seine Umgebung. So bemerkte er auch nicht, daß Rei, welche von einem Nachmittag
voller Synchronisationstests kam, an der offenen Tür seines Zimmers stand und lauschte,
ehe sie im anderen Zimmer verschwand.
Kurz darauf erklangen aus dem Nachbarzimmer die Töne einer Viola in derselben Melodie,
die auch Shinji spielte...
***
Die Nacht darauf wurde Shinji geweckt, als ihn eine Hand an der Schulter berührte.
"Hm?"
Rei stand über ihn gebeugt.
"Darf ich dich stören?"
"Was denn?"
Er rieb sich die Augen, sah zur Uhr. Kurz nach Mitternacht.
"Asuka schnarcht wieder."
"Halt ihr die Nase zu."
"Nein. Kann ich hierbleiben?"
"Rei, Misato hat gesagt..."
"Sie muß es nicht erfahren. Ich möchte nur... ich möchte nur bei dir sein..."
Im fahlen Mondlicht sah er den flehenden Ausdruck ihrer Augen.
"Rei, was ist mit dir?"
"Es ist... Einsamkeit..."
Er schluckte, rutschte dann zur Seite, unfähig, ihr ihren Wunsch abzuschlagen, nachdem er
ihr in die Augen gesehen hatte.
"Und Misato?"
"Ich bin wieder im anderen Zimmer, ehe sie aufsteht, versprochen."
"Uhm..."
"Ich möchte nicht, daß du wegen mir Schwierigkeiten bekommst."
"Rei, ich möchte auch nicht, daß du Ärger bekommst."
"Dann halt mich einfach fest."
Sie schlüpfte unter die Decke und schmiegte sich an ihn.
"Iiek. Du hast kalte Füße."
Sie kicherte.
"Tut mir leid."
Shinji fuhr mit den Fingern durch ihr weiches Haar.
"Rei, wenn du bei mir bist, habe ich keine Albträume", flüsterte er.
"Wenn du bei mir bist, kann ich träumen... Shinji, bitte, lauf nicht mehr weg."
"Ich... ich werde nicht mehr weglaufen, nie wieder."
***
Am darauffolgenden Tag befanden sich alle drei, Shinji, Rei und Asuka, in der Schwimmhal-
le, welche zum NERV-eigenen Fitnesscenter gehörte.
Shinji saß an einem der Tische und machte seine Hausarbeiten, seit er mit Rei zusammen die
Arbeiten erledigte, ging es ihm viel leichter von der Hand, als würde sie ihn inspirieren.
Rei zog im Becken mit starken gleichmäßigen Schwimmstößen ihre Bahnen, sie wirkte wie in
ihrem Element, vermittelte einen entspannten Eindruck wie selten.
"Shinji?"
"Hm?"
Er sah auf.
Asuka stand vorgebeugt neben ihm. Sie trug einen weiß-rot gestreiften zweiteiligen Badean-
zug, ihre Oberweite war beeindruckend. Selbst jetzt trug sie Handschuhe, welche den hal-
ben Unterarm bedeckten.
"Was machst du da?"
"Uhm..."
Er wandte den Blick ab, war plötzlich äußerst nervös.
"Physik."
Um genau zu sein, hatte er sich die Physikaufgaben bis zuletzt aufgehoben, es war immer
noch das Fach, mit dem er am wenigsten zurechtkam.
"Ja? Ich kenne mich da aus... Hm, mit euren Schriftzeichen habe ich noch Probleme... Ah,
Thermodynamik. Ausdehnung..."
"Öh, ja."
"Und damit hast du Probleme? Paß auf, ein Beispiel..."
Rei hörte mit ihren Schwimmzügen auf, befand sich nun wassertretend mitten im Becken
und beobachtete, wie Asuka die Hände auf ihr Oberteil legte und Shinji fast die Augen aus
dem Kopf traten. Sie entschied sich, einzuschreiten - natürlich nur, um bleibende Schäden
bei ihrem Mitbewohner zu vermeiden, wie sie sich selbst einzureden versuchte.
"Shinji, könntest du mal kommen?"
"Uh, ja, sofort."
Er riß sich von dem Anblick der... körperlichen Vorzüge Asukas los und ging zum Becken-
rand, zu dem Rei mit kräftigen Zügen hinschwamm.
"Warum kommst du nicht auch rein?" fragte sie lächelnd.
Er grinste verlegen.
"Ich kann nicht schwimmen."
"Oh."
"Ja. Es tut mir leid."
"Das muß es nicht. Was für Probleme hast du mit den Aufgaben?"
Von Asuka kam ein abfälliges ´Hrumpf´, dann sprang sie ins Becken, als Resultat fand Shin-
ji sich komplett durchnäßt.
Rei sah mit gerunzelter Stirn in Asukas Richtung, die Augen leicht zusammengekniffen.
"Das tut mir leid."
Er kauerte sich an den Beckenrand, streckte zögernd die Hand aus und strich über ihr nas-
ses Haar. Die Berührung sandte ein angenehmes Schaudern durch ihren Körper.
"Das macht nichts, Rei."
***
Für den übernächsten Tag stand Synchrontraining an.
Als die Auswertung abgeschlossen war, gab Ritsuko bekannt, daß Rei Shinji fast eingeholt
hatte. Asuka führte knapp. Sie nahm die Tatsache, daß ihr Vorsprung in den letzten Tagen
kontinuierlich geschrumpft war, mit säuerlicher Miene zur Kenntnis.
Für Ritsuko waren diese Ergebnisse ein Anlaß, leichten Triumpf zu verspüren, zeigten sie
doch, daß der Plan aufging - zugleich besaß sie ein Argument, falls der Kommandant sich
doch noch entscheiden sollte, etwas an den Wohnverhältnissen der Piloten zu ändern.
- Und sie mußte nicht einmal an den Zahlen manipulieren...
Die drei EVA-Piloten hatten ihre Entry-Plugs verlassen und waren auf dem Weg zu den Um-
kleidekabinen, als plötzlich das Licht erlosch.
"Ein Stromausfall?" vermutete Shinji und tastete nach der Wand, um das Gefühl, sich mitten
im Nichts zu befinden, zu verscheuchen.
"Dann müßte längst auf Notstrom umgeschaltet worden sein." kam Reis Stimme aus der Dun-
kelheit.
Asuka zuckte zusammen, Rei stand direkt hinter ihr.
"Mußt du so im Dunkeln herumflüstern und mich erschrecken?"
Rei ignorierte ihre Worte, so wie sie sich bemühte, Asuka selbst nach besten Kräften zu igno-
rieren.
"Vielleicht hat es einen Unfall gegeben. Wir sollten die Zentrale aufsuchen."
"Wer hat dich zum Chef gemacht?"
"Streit nützt nichts." kam es von Shinji. "Außerdem hat sie recht."
Er folgte ihren Schritten.
"War ja klar, daß du dich auf ihre Seite schlagen würdest. - Hey, laßt mich hier nicht allein
im Dunkeln stehen!"
Sie beeilte sich aufzuschließen.
"Wondergirl, renn nicht so!"
Die Schritte vor ihnen wurden langsamer, kurz glaubte Asuka, ein paar roter Augen in der
Finsternis zu sehen.
"Tut mir leid. Ich kenne diesen Bau in- und auswendig, daher..."
"Das interessiert mich nicht die Bohne!"
"Rei, wo bist du?" fragte Shinji.
"Hier, nimm meine Hand."
"Oh..., ja... danke."
"Nimm meine Hand, nimm meine Hand", äffte Asuka nach. "Wondergirl und Loverboy, pah!"
Sie trottete weiter durch die Dunkelheit.
An der nächsten Ecke liefen sie in Makoto Hyuga, der sie im Auftrag Akagis gesucht hatte
und nun in die Zentrale brachte. Dort erfuhren sie, daß Misato und Kaji vermißt worden.
"Ich gehe sie suchen!" erklärte Asuka. "Wondergirl, du kommst mit, du kennst dich hier aus."
Rei zeigte es nicht, aber sie war ziemlich genervt von Asukas Verhalten.
"Was geht mich das an?"
"Dann eben nicht. - Shinji, wir gehen alleine!"
Sprach´s, nahm Hyuga die Taschenlampe ab und schleppte den Jungen mit sich, Akagis
Proteste ignorierend.
Ritsuko wandte sich an Rei, die wie erstarrt dastand.
"Du läßt das zu?"
"Was meinen Sie?"
"Ich dachte, Shinji ist dein Freund."
"Ja."
"Warum läßt du ihn dann mit ihr gehen?"
"Ich... Bitte um Erlaubnis, mich der Suchexpedition anschließen zu dürfen."
"Geh nur."
Ritsuko lächelte in sich hinein. Je weiter Rei ihre Emotionen entdeckte, umso mehr wurde
sie Gendo Ikari entfremdet, umso weniger mußte sie in ihr eine Rivalin um seine Gunst sehen,
umso eher konnte sie Sympathie für das Mädchen empfinden...
***
Shinji und Asuka fanden sich in einer Sackgasse wieder, vor ihnen waren die Türen eines
Aufzuges, die sich nicht öffneten.
"Verdammt!" schimpfte Asuka.
"War ja auch idiotisch, einfach loszugehen", murmelte Shinji.
"Halt den Mund, wenn mich deine Meinung interessieren würde, hätte ich dich gefragt."
"Wo kommt nur dein fieser Charakter her?"
"Und wo kommt plötzlich dein Rückgrat her?"
"Ich... uhm..."
"Ah ja, ich sehe."
Sie seufzte.
"Aber wir hätten uns vorher einen Plan besorgen sollen."
Shinji stimmte in den Seufzer ein.
"Wohin jetzt? Wieder zurück?"
"Weiß nicht. Wir sind schon zwei Helden..."
"Wenn jetzt ein Engel auftaucht..."
"Beschrei es nicht, ja?"
"Ja."
"Sag mal, Shinji... haben Rei und du..."
"Was?" fragte er erschrocken.
"Habt ihr euch schon geküßt?"
"Uhm... wir..."
"Sicher habt ihr schon, so nah wie ihr euch steht."
"Nein..." flüsterte er.
"Was? Nicht?"
Sie war sichtlich überrascht. Dann grinste sie.
"Möchtest du... es üben? Mit mir?"
"Was soll das denn jetzt?"
"Ha, dachte ich es mir doch, du bist ein Feigling, stimmt´s? Selbst wenn Rei über ihren
Schatten springen würde, könntest du immer noch nicht den Mut aufbringen."
"Das stimmt nicht!"
"Was, hast du keine Angst?"
"Nein."
Er schluckte, stellte sich mit gespitzten Lippen in Positur. Niemand sollte ihn mehr einen
Feigling nennen...
Asuka zögerte einen Moment, dann spitzte auch sie die Lippen und beugte sich vor,
stellte sich der Herausforderung...
In diesem Moment ging das Licht wieder an.
Die Türen des Aufzuges öffneten sich und Misato und Kaji, die beide in der Kabine ein-
gesperrt gewesen waren, bot sich ein interessanter Anblick. Das gleiche galt für Rei, die
gerade in den Korridor einbog und stehenblieb, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen.
Der Anblick ließ etwas in ihr zerbrechen...
Shinji riß die Augen auf, stolperte zurück.
"Ah..."
Asuka errötete.
"Kaji, es ist nicht so..."
Shinji sah Rei, sah, daß eine Träne über ihre Wange lief, ehe sie sich herumwarf und davon-
rannte...
***
"Warum? Warum? Warum? Ich weine... Dieses Miststück... Wut... ich bin wütend... Ent-
täuschung... ich bin enttäuscht... warum mußte er mein Herz berühren? Warum habe ich es
zugelassen? Warum lebe ich überhaupt?"
***
Als Shinji, Asuka und Misato in die gemeinsame Wohnung zurückkehrten, stellten sie fest,
daß die meisten von Reis Sachen fort waren, auf dem Tisch lag eine kurze Nachricht, aus
der hervorging, daß Rei in ihr altes Apartment zurückgekehrt war.
"Wer hätte gedacht, daß das Wondergirl so zu Herzen geht?" sprach Asuka ihre Gedanken
aus.
"Sei still!" schrie Shinji. "Sei still!" Er rannte aus dem Apartment.
Vor dem Haus stieß er fast mit Kaji zusammen, der Misatos Jacke bei sich hatte, welche sie
im Aufzug zurückgelassen hatte.
"Shinji, was ist denn los?"
Er beichtete Kaji die ganze Geschichte.
"Oh je, ich glaube zu verstehen."
"Was soll ich jetzt tun, Kaji-san?"
"Hm, tja... Weißt du, mit Frauen ist das so eine Sache. Wir Menschen verstehen uns mei-
stens selbst nicht, wie könnten da glauben, andere zu verstehen?! Und Frauen kommen
mir manchmal vor wie eine ganz eigene Spezies."
"Heißt das, Sie wissen es auch nicht?"
"Ah... Ich habe einige Erfahrungen. Paß auf, egal, was Asuka und du getan habt, für Rei sah
es aus, als würdest du sie hintergehen, als könnte sie dir nicht vertrauen, verstehst du?"
"Ja."
Shinji blickte zu Boden.
"Und das heißt, ehe du überhaupt versuchen kannst, ihr deine Version der Geschichte nä-
herzubringen, mußt du dich erst bei ihr entschuldigen."
"Aber ich..."
"Shinji, es ist egal, ob Asuka und du euch geküßt habt, oder kurz davor standet oder
wie auch immer, ob du oder sie die ganze Sache angeleiert hat, der Eindruck ist da."
"Ja, aber was kann ich tun, damit sie mir zuhört?"
"Bring ihr Blumen, kauf ihr Schokolade... und wenn das alles nichts nützt, kannst du
immer noch vor ihr auf die Knie fallen. Aber das nur, wenn du es wirklich ernst meinst
- du wärst sonst ziemlich wehrlos..."
"Ja, danke, Kaji-san."
***
"Blumen... Schokolade... ich weiß nicht einmal, was für Blumen ihr gefallen... oder ob sie
überhaupt Schokolade ißt..."
Shinji stand vor dem heruntergekommenen Apartmentgebäude, in dem Rei wohnte. In
der Nähe befanden sich mehrere Baustellen, der Lärm war allgegenwärtig. Die Haustür
war nicht geschlossen, er trat ein, lief die Treppen hinauf, blieb vor ihrer Tür stehen,
klingelte.
Drinnen blieb es still, die Klingel war immer noch defekt.
Er klopfte, mehrfach.
Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet.
"Oh, du... Was willst du?" fragte Rei monoton. Ihre Augen waren verweint.
Eine kalte Hand schien sich bei dem Anblick um sein Herz zu legen, plötzlich fühlte
er sich noch elendiger als zuvor, weil sie wegen ihm gelitten hatte.
"Rei... ich... bitte, darf ich hereinkommen?"
Sie trat von der Tür weg, er folgte ihr.
"Also, sag, was du zu sagen hast."
"Rei, es tut mir leid..."
"Es tut dir leid? Was tut dir leid? Daß du mit mir und meinen Gefühlen gespielt hast, oder
daß ich euch beide erwischt habe?"
Immer noch sprach sie mit ihrer tonlosen Stimme.
"Nein..."
Er sank auf die Knie.
"Es tut mir leid, daß ich so schwach bin..."
Sie blickte ihn an, blinzelte.
Tränen über seine Wanken. Er schniefte.
"Bitte, Rei, verzeih mir. Für Asuka war es nur ein Spaß, aber ich, ich hätte es besser
wissen müssen..."
"Steh auf."
Ihre Stimme war sanft, als sie ihm die Hände reichte, in die Höhe zog und in die Arme
nahm.
"Versprich mir nur, daß es nie wieder soweit kommt."
"Ja, du hast mein Wort." flüsterte er, das Gesicht in ihr kurzes weiches Haar vergra-
ben.
"Gut."
Sie hielt ihn fest, schloß die Augen und ließ ihr Gesicht auf seiner Schulter ruhen.
Zeit verging...
"Rei?"
"Ja?"
"Darf ich... kann ich..."
"Was?"
"... dich küssen?"
Für einen Moment versteifte sie sich. Sie sah ihm ins Gesicht.
"Warum?"
"Weil ich meinen ersten Kuß mit dir erleben möchte... ah... mit dem Menschen, den ich
liebe..."
"Oh..."
Wieder schien eine Ewigkeit zu vergehen, ehe Rei die Augen schloß und ihre Lippen
an die seinen brachte...
Das Wasserglas auf dem Schränkchen neben dem Fenster war fast voll.
***
"Wie verletzlich er ist, als er in meinen Armen schläft... ich glaube ihm... Ich kann ihm
vergeben... ich liebe ihn... ich brauche ihn... er macht mich komplett..."
***
Misato blickte am nächsten Morgen besorgt in Shinjis Zimmer. Das Bett war unbenutzt.
"Ich habe als sein Vormund versagt..."
In diesem Moment wurde die Wohnungstür geöffnet.
Misato fuhr herum.
Aus der Schwelle standen Shinji und Rei, beide trugen je eine Tasche mit Reis Sachen.
Misato atmete auf.
"Ihr seid zurück."
Rei trat ihr entgegen, verbeugte sich.
"Es tut mir leid, wenn Sie sich Sorgen gemacht haben."
"Schon gut, Rei. Und hör auf, mich zu siezen, da fühle ich mich immer so alt."
"Ja... Misato."
Rei lächelte.
"Willkommen zurück."
***
Drei weitere Engel kamen und wurden besiegt. Sandarphone sollte von EVA-02 aus
einem Vulkan geborgen werden, erwachte aber gerade im Moment des Abschlusses der
Bergungsoperation. Asuka konnte ihn vernichten, mußte aber ihrerseits von EVA-01
gerettet werden, ehe EVA-02 in der Magma versank. Der nächste Engel blieb von den
Piloten unbemerkt, er versuchte, in der Maske eines Computerviruses die MAGI-
Rechner zu übernehmen, konnte aber im letzten Moment gestoppt werden. Unmit-
telbar darauf griff der spinnenartige Matriel an. Zu diesem Zeitpunkt waren noch
nicht alle Folgen des Virenangriffes überstanden, die MAGI befanden sich in einem
ausgedehnten Systemcheck- und Rebootmodus, so daß die EVAs manuell bereitge-
macht werden mußten. Durch Teamwork gelang es den drei Piloten, Matriel aufzuhalten.
***
Nach dem Kampf saßen Shinji und Rei in einem leicht abgedunkelten Raum irgendwo
im Hauptquartier auf einem Sofa, das heißt, Rei saß auf Shinjis Schoß und er hatte
die Arme um sie geschlungen.
In seinem Büro beobachtete Ryoji Kaji, wie die beiden Teenager lange Küsse aus-
tauschten, schaltete dann grinsend auf eine andere der vielen Kameras um, die er heim-
lich im HQ instal-liert hatte, und sorgte dafür, daß die reguläre Überwachungskamera
ein Standbild eines leeren Raumes zeigte.
***
Mit Einbruch der Nacht schoben sich die Hochhäuser der Stadt aus dem Boden, erwach-
te Tokio-03 zu wahrem Leben, als Lichter die Dunkelheit erhellten.
Der Weißhaarige beobachtete das Spektakel von einem Aussichtspunkt auf einer Anhö-
he, den Raben auf der Schulter, doch er sah noch mehr. Geschulte Augen und Sinne er-
kannten die Kraftströme an Chi-Energie, die aus dem ganzen Land zu diesem Ort flossen,
spürten den mächtigen Knoten in der Tiefe, wo sich die Drachenpfade kreuzten.
"Siehst du es auch, Tymael? Dieser Ort verschlingt die Kraft wie ein bodenloser Abgrund.
Etwas dort unten muß all die Quintessenz benötigen."
Der Rabe gab ein Krächzen von sich.
"Ich weiß nicht. Wenn die Söhne des Äther dort ihre Werkstätten hätten, wüßten wir es.
Ich hoffe nur, daß es kein Konstrukt der Technokratie ist, sonst könnte LaRochelle sich
wiederholen..."
Er erzitterte, als die Erinnerung an den letzten Kampf in ihm hochstieg, den Kampf, bei
dem der Orden und die westlichen Zweige der Traditionen alles in die Waagschale gewor-
fen hatten, um zu vereiteln, daß die Technokraten die Magie in der westlichen Hemisphäre
völlig unter ihre Kontrolle brachten. Sie hatten den entscheidenden Kampf verloren, er war
der einzige Überlebende der Streitmacht gewesen, fortgeschickt durch das Opfer seiner
Geliebten. Doch der Gegner hatte seinen Sieg nicht auskosten können, denn der Second
Impact hatte die Pläne der Technokratie, die Welt zu beherrschen, ebenso hinweggefegt,
wie LaRochelle und die meisten anderen Konstrukte, ebenso wie die Festungen der Tradi-
tionen, als der Avatarsturm losbrach...
Plötzlich lachte er, als ihm klarwurde, daß er nicht mehr lebend nach Vardian, den Aus-
gangspunkt seiner Reise, zurückkehren würde...
