Kapitel 05 - Fourth Children


Asuka und Rei hatten stillschweigend Waffenstillstand geschlossen, allerdings erst
nach einer Schlägerei, die bei Rei zu einen blauen Auge und bei Asuka zu einem ausge-
renkten Arm geführt hatte, und nicht zuletzt aufgrund von Hikaris und Shinjis Vermit-
teln. Überraschenderweise kamen sie in der Folge verhältnismäßig gut miteinander klar,
tatsächlich fragte Rei ihre Zimmergenossin, ob diese nicht mitkommen wollte, als
sich die Clique wieder einmal in Kuro-samas Billiardhalle traf.

Die anderen hatten sich mittlerweile daran gewöhnt, daß Shinji und Rei in der Regel
Arm in Arm erschienen, auch die raschen Küsse, die sie austauschten, wenn sie sich
unbeobachtet fühlten, erregten inzwischen kein Aufsehen mehr. Touji wurde nur nervös,
wenn Hikari ihn auf dieselbe Art und Weise ansah wie Rei Shinji. Seit einiger Zeit
machte sie ihm Essen für die Mittagspause, und natürlich konnte er eins und eins zu-
sammenzählen. Interessanterweise entdeckte er an sich Qualitäten, die er früher nie
wahrgenommen hätte, kurzum, Touji Suzuhara erwies sich als Gentleman, wenn auch nicht
als perfekter, aber für solche Momente hatte Hikari ja immer noch die zusammengeroll-
te Zeitung...

Mehrere Wochen war es ruhig gewesen, im Tagesablauf der Piloten hatte sich die Routi-
ne breitgemacht.

Rei lag mit geschlossenen Augen in ihrem Bett und lauschte Asukas Atemgeräuschen. Als
sie der Ansicht war, ihre Zimmergenossin schlafe tief und fest, stand sie leise auf
und huschte im Dunkeln zur Tür.

"Willst du wieder zu ihm?"

Rei zuckte zusammen, fühlte sich ertappt.
"Du bist wach?"

"Natürlich, sonst würde ich kaum mit dir reden, oder?"
Asuka knipste die Nachttischlampe an.
"Das ist jetzt das dritte Mal in dieser Woche."

Rei trat von der Tür zurück und blickte das rothaarige Mädchen an, das sich in seinem
Bett aufgesetzt hatte. Asuka trug ein viel zu großes gelbes T-Shirt und wie immer ih-
re weißen Handschuhe, die den halben Oberarm hinaufreichten.
"Du weißt...?"

"Ich schlafe nicht tief..."

"Bitte, verrate uns nicht."

"Das habe ich nicht vor. Ich wüßte nur gerne, was du an Shinji findest."

"Er ist für mich da..."

"Und... tut ihr es... miteinander?"

Rei wurde rot.
"Nein."

"Wirklich? Seit einem halben Jahr geht das schon so, was macht ihr die ganze Zeit
über?"

Rei ließ sich auf der Bettkante nieder.
"Wir... wir reden..."

"Nur reden?" Asuka grinste. "Da habe ich schon ganz andere Lippenaktivitäten beobach-
tet."

"Es ist... er ist für mich da... ich bin für ihn da... Seine Gegenwart lindert meine
Einsamkeit."

"Wie kannst du einsam sein? Ich meine, alle mögen dich, Hikari, Touji, Misato... wenn
du für wen anders als Shinji Augen hättest, würdest du bemerken, daß viele in der
Schule dir nachsehen. Und ich kann es irgendwie verstehen."

"Wirklich? Früher... es hat sich vieles geändert..."

"Anscheinend. Als ich hierherkam, hatte ich eine andere Vorstellung. Nach dem, was
ich über dich gehört hatte, hättest du ganz anders sein müssen. Vielleicht habe ich
mich deshalb etwas... unfair verhalten..."

"Unfair?"

"Ich habe von Anfang an eine Rivalin gesehen, den Berichten nach warst du... per-
fekt... Ich hatte erwartet, es mit einer Puppe zu tun zu bekommen..."

"Eine Puppe... vielleicht war ich das..." murmelte das blauhaarige Mädchen.

"Hm? Was hast du gesagt?"

"Nichts wichtiges... Heißt das, deine Wahrnehmung meiner Person hat sich geändert?"

"Ja."

"Also hat sich deine Version der Wahrheit geändert."

"Ah... Rei, keine philosophischen Diskussionen, ja? Also, ist Shinji ein guter Küsser?"

"Ich..." Sie schluckte. "Ich glaube schon."

"Tut mir leid, was damals passiert ist."

"Ja."

"Ich bin manchmal ein ganz schönes Miststück..."

"Warum sagst du das?"

"Weil... es gibt Tage, da hasse ich alles und jeden, auch mich selbst. Du und Shin-
ji, ihr habt Glück..."

"Warum suchst du dir nicht auch einen Freund?"

"Wen? Auf der Schule gibt es doch nur Mutanten, entweder Perverse wie Touji oder
Trottel wie Kensuke."

"Das stimmt nicht."

"Und wenn schon... Wie hast du gesagt... es ist meine Wahrheit. Ich stehe mehr auf
ältere Männer wie Kaji."

"Major Kaji ist mit Misato zusammen."

"Ja. Und so geht es mir schon immer. Jeden Menschen, den ich mag, verliere ich früher
oder später... wie meine Mutter..."

"Dir geht es wie Shinji... und wie mir... Wir haben alle nichts anderes."

"Ihr habt einander."

"Ja. Aber jedesmal, wenn ein Engel auftaucht, habe ich Angst, ihn zu verlieren... und
dann hätte ich nichts mehr..."

"Rei... heißt das, daß du ohne ihn nicht leben kannst?"

"Ich kann erst leben, seitdem ich ihn kenne... vorher habe ich nur für meine Aufgabe
als Pilotin existiert... und darauf gewartet, daß man mich nicht mehr braucht... daß
ich endlich gehen kann..."

"Du sprichst als ob... als ob du sterben wolltest..."

"Ja... Meine Existenz hatte keinen Sinn, außer gegen die Engel zu kämpfen. Ich ver-
spüre immer noch den Wunsch, alles zu beenden, aber ich habe jetzt einen Grund, wei-
terzuleben..., eine Möglichkeit, die Leere in mir zu füllen..."

"Wir sind uns ähnlicher, als ich geglaubt habe. Auch ich habe nichts anderes... Seit
zehn Jahren wurde ich darauf vorbereitet, EVA-02 zu steuern, es ist alles, was ich
kann und alles, was ich will... weil EVA-02 mich nie verlassen würde..."

"Ja. Wir sind uns ähnlich. Ich verstehe."

"Tust du das? Erst muß ich dir noch etwas zeigen..."
Damit streifte Asuka ihre Handschuhe ab und hielt Rei die Handgelenke entgegen. Sie
waren von tiefen Narben verunstaltet.
"Das ist das letzte Andenken an meine Mutter."

"Wie ist es geschehen?"

"Sie... sie hat sich umgebracht... und wollte mich mitnehmen... als man uns fand...
da... da war es für sie bereits zu spät..."

Rei wußte nicht warum, doch sie streckte die Hand aus und zog Asuka zu sich, nahm sie
in den Arm und ließ sie ihren Kopf auf ihrer Schulter ruhen.

"Warum tust du das? Ich will dein Mitleid nicht..."
Und dennoch macht Asuka keine Anstalten, sich von ihr zu lösen.

"..."

"Warum hast du Mitleid mit mir?"

"Hast du wirklich niemanden?"

"Ich bin bei Tante Ann und Onkel Wolf aufgewachsen... Sie sind nicht wirkliche Ver-
wandte, meine Mutter war eng mit ihnen befreundet... Tante Ann ist meine Patin. Onkel
Wolf gehört zu ODIN, er ist der Verbindungsmann zwischen NERV und dem UN-Geheim-
dienst... Er hat mir das Schießen beigebracht... und den Umgang mit dem Messer...
Taktiken und Strategie... eine tolle Art, seine Kindheit zu verbringen, nicht wahr?"

"Sprich nur."

"Es ist nicht so, daß sie keine guten Menschen sind... nur... Onkel Wolf ist meistens
unterwegs, er ist Sonderagent... Tante Ann ist vor meiner Abreise erkrankt, sie liegt
immer noch im Krankenhaus..."

"Du hast Angst um sie."

"Ja... Ich habe heute mit meinem Onkel telephoniert. Es geht ihr schlechter... Und
ich kann nicht zu ihr, weil jederzeit ein Engel kommen könnte... Ich konnte mich
nicht einmal von ihr verabschieden..."

"Ich verstehe. Es bereitet dir Schmerzen."

"Ja, verdammt."
Ein Schluchzen begleitete ihre Worte.
"Ich sage mir, daß ich hart sein muß, unnachgiebig wie Stein, und dennoch kommen die
Tränen."

"Tränen... ich habe erst einmal geweint... nachdem ich Shinji und dich gesehen ha-
be..."

"Wirklich? Das... wollte ich nicht... Du hast nie vorher geweint?"

"Oder gelacht..."

"Niemals?"

"Ich hatte keinen Grund. Es gab niemanden, der mich zum Lachen brachte, niemanden,
für den ich lachen wollte."

"Und er bringt dich zum Lachen?"

"Ja."

"Deine Kindheit muß noch trostloser gewesen sein als meine."

"Auch ich hatte nichts anderes als die Pflicht... als meine Aufgabe, einen EVANGELION
zu steuern... ich wurde dafür geboren..."

"Geboren?"

"Ja. Seit zehn Jahren gab es nur die EVAs in meiner Existenz... keine Eltern, keine
Freunde..."

"Und er gibt dir einen Sinn."

"Ja. Wenn... solange ich mich zurückerinnere, habe ich gefroren, als würde ein Teil
meiner Seele fehlen, als wäre ich nicht... komplett. Bei ihm ist mir nicht kalt..."

"Du sprichst von der Einsamkeit."

"Ja."

"Danke, Rei... Danke, daß du da warst, als ich einen Freund brauchte. Du solltest
jetzt gehen, er wartet auf dich."

Rei machte keine Anstalten, sie loszulassen.
"Du bist nicht allein. Kein Mensch kann völlig allein von anderen existieren."


***


"Meine Existenz... ich bezweifle ihren Sinn, den Sinn, den ihr der Kommandant gegeben
hat. Ich will leben... aber wozu...?"


***


Der Frieden dauerte nicht lange. Die MAGI gaben unvermittelt Alarm, ein blaues Muster
war festgestellt worden.

Über der Stadt schwebte eine schwarz-weiß gestreifte Kugel.

EVA-01 führte den Angriff an - und verschwand im Schatten des Engels.
Kurz bevor die Notenergie versiegte, brach EVA-01 aus, zerfetzte den Engel von innen
heraus.
Der Pilot des EVANGELION wurde bewußtlos geborgen und ins Lazarett gebracht.


***


Gendo Ikari stand in der Tür des Krankenzimmers und blickte mit unbewegtem Gesicht
auf die Szene, die sich ihm bot.

Sein Sohn lag schlafend auf dem Bett, er hatte keine körperlichen Schäden von dem
Aufenthalt im Inneren des Engels davongetragen. Neben dem Bett stand Rei und blickte
mit besorgter Miene auf den Jungen.

"Rei."

Sie drehte sich um.
"Kommandant Ikari."

"Wir müssen reden."

"Ja."
Sie trat mit ihm auf den Flur.

"Du hast dich während des letzten halben Jahres sehr verändert. Ich gehe davon aus,
daß es mit dem Aufenthalt bei Major Katsuragi zusammenhängt."

"..."

"Rei, Akagi hat mir versichert, daß deine Funktionsfähigkeit nicht gelitten, sondern
sich vielmehr verbessert hat."

"Ja."

"Dennoch weiß ich nicht, ob ich deine... Beziehung zu meinem Sohn gutheißen kann."

"Sie wird meine... Funktionsfähigkeit nicht beeinflussen."

"Gut."

"Ich werde ihn und Einheit-01 beschützen."

"Ja. Das Szenario darf nicht gestört werden."

Sie war versucht zu sagen, daß dies der einzige Sinn ihrer Existenz sei, doch etwas
in ihr sperrte sich gegen diese Lüge.
"Ich werde über ihn wachen, bis er zu sich kommt."

"Ist das nötig?"

"Er vertraut mir, es wird dem Vertrauen förderlich sein, wenn ich bei ihm bin, wenn
er aufwacht. Es wird seiner Funktionsweise nützlich sein. Und der Zusammenarbeit."

"Hm... gut."


***


"Der Kommandant... seine Freundlichkeit mir gegenüber ist nur eine Maske. Er meint
nicht mich, er meint jene, deren Gesicht ich trage. Ich bin nicht sie. Sein Herz ist
kalt... Lüge... Shinji... er lügt mich nicht an, ich würde es spüren... Ich habe den
Kommandanten angelogen, habe mich bemüht, so zu klingen, wie er, damit er ihn mir
nicht fortnimmt. Ich würde ihn nie anlügen... Seine Wärme... Ich sehe ihn an und ver-
spüre Verlangen... Ich will ihn nicht verlieren..."


***


Shinji erwachte, als eine Hand über seine Stirn strich. Seine Sicht war verschwommen,
er sah zuerst nur einen hellen Flecken, der von Blau umgeben war, dann sah er etwas
klarer.
"Rei...?"

"Ja. Willkommen zurück."
Sie saß auf der Bettkante. Vielleicht zum ersten Mal fiel ihm auf, wie sehr sie sich
in den letzten Monaten verändert hatte, als er ihren besorgten Blick wahrnahm.
"Wie fühlst du dich?"

"Müde... und froh..."

"Froh?"

"Daß jemand... daß du da bist."

"Ich... ich habe mir Sorgen gemacht."

"Ich... uhm... Rei-chan..."

"Rei-chan? Das... gefällt mir..."

"Ich wollte sagen... ich... es ist das erste Mal, daß mir jemand sagt, sie hätte sich
um mich Sorgen gemacht..."

"Ich habe es. Das ist Wahrheit."

Er ergriff ihre Hand, drückte sie.
"Danke."

"Als der Engel Einheit-01 verschlang... Ich hatte Angst..."

"Angst, Rei... Rei-chan? Du?"

"Ja. Angst, dich zu verlieren..."


***


Kurz darauf verließ sie das Zimmer wieder, Shinji war eingeschlafen. Draußen wartete
Asuka.

"Ist er in Ordnung?"

"Ja."

"Das freut mich." Sie wirkte erleichtert. Tatsächlich hatte sie sich fast genausosehr
um Shinji gesorgt wie Rei.

Rei nickte.
"Könntest du... könntest du hier warten, bis er wieder aufwacht und ihn dann nach
hause bringen?"

"Ich... ja, kann ich... Die Hausaufgaben kann ich auch hier machen... Aber warum
bleibst du nicht selbst?"

Rei lächelte auf ihre ganz eigene Art.
"Eine Überraschung. Nur... sag es ihm nicht, ja?"

Asuka grinste verschwörerisch.
"Alles klar."


***


Shinji war überrascht gewesen, bei seiner Entlassung aus dem Lazarett Asuka auf ihn
wartend vorzufinden, diese hatte ihm erklärt, daß Rei noch Tests hatte. Als er die
Absicht äußerte, das Testcenter aufsuchen zu wollen, mußte Asuka ihn fast mit Gewalt
davon abbringen. Ehe sie das NERV-HQ verließen, trennte sie sich kurz von Shinji un-
ter einem Vorwand und rief über ihr Handy bei Misato an, um Rei Bescheid zu geben,
daß sie kamen.


***


Die Küche glich einem Schlachtfeld. In der Spüle stapelten sich Töpfe und Näpfe, die
gekachelte Wand war von brauen Spritzern übersäat, Rei saß am Tisch, sie trug Shinjis
rosa Schürze, welche ähnliche Spritzer aufwies wie die Wand, und hatte den Kopf auf
die Arme gelegt. Sie schlief.
Vor ihr auf dem Tisch stand ein Schokoladenkuchen.

Asuka grinste bei dem Anblick, flüsterte: "Sie hat sich für dich ganz schön ins Zeug
geworfen."

"Uh... ja..."
Seine Wangen glänzten rot, mit liebevollem Blick sah er Rei an.

Das schlafende Mädchen rührte sich, öffnete langsam die Augen.
"Oh..."

"Hi, Rei!" rief Asuka und schupperte am Kuchen. "Hm, riecht gut!"

"Ich muß eingeschlafen sein", murmelte Rei, streckte sich und stand auf.

Shinji nahm ihr die Schürze ab, ließ Abwaschwasser ein.
"Der... der Kuchen sieht gut aus. Du hast ihn ganz... allein gebacken?"

"Ja. Für dich."

"Ich... uhm... wollen wir noch auf Misato warten?"

"Spinnst du?" rief Asuka und zog ein Messer aus der Schublade. "Bis Misato da ist,
ist es Nacht!" Sie drückte Rei das Messer in die Hand, holte Teller und Gabeln.

Rei schnitt den Kuchen an, legte still Stücken auf die Teller, während Shinji noch
abwusch.

Asuka verdrehte die Augen.
"Argh, Shinji! Komm endlich her! Rei reißt sich den... Hintern auf, um dir eine Freu-
de zu machen, und du weißt das gar nicht zu würdigen!"

"Doch... das weiß ich..."

Als er sich umdrehte, konnten sie sehen, daß eine einsame Träne seine Wange hinab-
lief.

Reis Augen weiteten sich, im nächsten Moment war sie bei ihm und trocknete die Träne
mit einem Handtuch.
"Warum weinst du?" fragte sie leise.

"Soetwas hat noch niemand für mich getan... Früher hat sich niemand gefreut, wenn ich
heimkam, es wurde einfach zur Kenntnis genommen..."

Asuka hörte die Worte und schloß die Augen.
Niemand... allein... Einsamkeit... Ich hatte jemanden, die sich um mich gekümmert
haben, doch ich wußte es nicht zu schätzen... Mama, warum, warum hast du mich verlas-
sen? Und... Tante Ann, es tut mir leid, daß ich dich nicht im Krankenhaus besucht ha-
be... Alles hat mich an Mama erinnert...

Rei nahm Shinji wortlos in den Arm und streichelte seine Wange.

"Danke, Rei."

"Wofür?"
Sie wußte, daß er nicht den Kuchen meinen konnte.

"Daß du da bist." Er lächelte schief. "Wenn ich weiß, daß du auf mich wartest, kann
mich kein Engel aufhalten... Ich liebe dich..."

"Shhh."

Vom Tisch her kam lautes Schmatzen.

"Oh, der Kuchen ist gut!" erklärte Asuka zwischen zwei Bissen.

Die Tür des einen Kühlschrankes wurde geöffnet, der Kopf des Pinguins lukte ins Freie.
Er sah den Kuchen, deutete auf seinen Napf.
"Wark!"


***


Etwa zeitgleich wurde Touji Suzuhara als Pilot für EVA-03 ausgewählt, nachdem der
US-amerikanische Zweig von NERV bei einem Testlauf der S2-Maschine mitsamt EVA-04
ausgelöscht worden war. Toujis Ausbildung fand größtensteils in der NERV-Anlage von
Matsushiro statt, fern von den anderen Piloten. Dennoch sickerte die Identität des
neuen Piloten relativ schnell durch, Rei war ohnehin nicht zuletzt aufgrund ihrer
hohen Sicherheitsstufe über die meisten Vorgänge informiert, während Asuka es durch
einen eher unbeabsichtigten Blick in Ryoji Kajis Unterlagen erfuhr. Nur Shinji blieb
unwissend. Am Abend vor dem ersten Testlauf von Einheit-03 unterhielten sich die bei-
den Zimmergenossinnen, ob sie es ihm nicht verraten sollten, wobei Asuka die Ansicht
vertrat, die Überraschung ruhig noch etwas aufzuschieben.
Während des Tests kam es jedoch zu einem unvorhersehbaren Zwischenfall - EVA-03 wurde
von dem Engel Bardiel übernommen, welcher die Testanlage verwüstete und sich dann
Tokio-03 zuwandte. Ritsuko Akagi, wie auch der taktische Offizier von NERV, Misato
Katsuragi, wurden vermißt, weshalb Gendo Ikari erstmals direkt das Kommando über ei-
nen Kampfeinsatz übernahm. Alle drei EVAs wurden ausgeschickt, Einheit-03 abzufangen. Ikaris erste Anwei-sung war es, EVA-03 fortan bis zur Vernichtung des Engels als Ziel zu führen.


***


Rei hatte als erste Kontakt mit Bardiel. Die schwarze dämonische Gestalt des übernom-
menen EVAs tauchte zwischen den Hügeln auf, näherte sich ihr rasch.
EVA-00 befand sich mit dem Scharfschützengewehr mitten auf einer Straßenkreuzung,
kniete mit dem Gewehr im Anschlag auf dem Aspalt.
Sie konnte das Ziel genau durch den Sucher wahrnehmen.

Ein Schuß würde genügen, um den EVA auszuschalten, um seinen Kern zu zerstören.

Ein Schuß nur...

Und doch zögerte sie.

"Rei, warum schießt du nicht?" fragte Gendo Ikari über Funk.

"Ich..."
Im anderen EVANGELION befand sich ein Mensch, ein Mensch, den sie kannte, den sie in
gewisser Weise zu ihren Freunden zählte.
Was, wenn die Vernichtung des Kerns die Selbstzerstörung des EVAs auslöste?
Sie sah auf ihre Hände hinab, in ihrer Vorstellung waren sie blutgetränkt.
Ihr wurde übel.
Zugleich erfaßte sie Zorn, weshalb schickte der Kommandant, der ihr mehr bedeutete
als fast jeder andere Mensch, sie in den Kampf gegen einen anderen Menschen...
Warum tat er das? Wollte er, daß sie tötete...?

Da war EVA-03 schon heran.

Rei schrie auf, als die Schmerzen begannen...


***


Der Schrei des blauhaarigen Mädchens hallte aus den Lautsprechern.

"Rei!" fiel Ikaris Stimme in den Schrei ein.

Shinji schrie ihren Namen, drehte sich dann EVA-02 zu.
"Der Engel gehört mir..."
EVA-01 rannte los, dem schwarzen EVANGELION entgegen, gefolgt von EVA-02.

EVA-03 ließ den schlaffen EVA-00 los. Der Kopf der Einheit baumelte kraftlos in einem
unnatürlichen Winkel.

Shinji riß die Augen auf, als ihm klar wurde, daß der besessene EVANGELION EVA-00 das
Genick gebrochen hatte.
"Nein! Rei!"

Wuchtig rammte EVA-01 die andere Einheit, schleuderte sie zu Boden.
Sie hatte gewagt, seine Rei-chan zu verletzten...!
Anstatt nachzusetzen, verharrte EVA-01.
Rei war verletzt...!
Shinji blickte zu EVA-00.
"Rei-chan, hörst du mich?"

Statt ihrer antwortete sein Vater:
"Wir bekommen stabile Lebenszeichen von ihr. Kümmere dich um den Engel."

"Ja, Vater..."
Shinji ließ EVA-01 sich langsam dem anderen EVANGELION zuwenden, doch er zögerte.

"Was ist, Shinji?"

"Es ist ein EVA... Ich kann den Entry-Plug sehen... Das heißt, es befindet sich je-
mand an Bord, ein Kind wie ich..."

"Shinji, schalte das Ziel aus!"

EVA-03 kam langsam wieder auf die Beine. EVA-01 zog sein PROG-Messer.

"Vater... ich kann es nicht... ich kann nicht gegen einen anderen Menschen kämpfen!"

"Du mußt, ich befehle es dir!"

"Vater!"

Die Arme von EVA-03 schossen vor, schnellten wie Gummibänder auf EVA-01 zu und schlu-
gen so hart gegen seine Brustpanzerung, daß einzelne Elemente abgesprengt wurden.

Shinji biß die Zähne zusammen, bemühte sich auszuweichen.
Der nächste Schlag traf ihn an der Schulter. Taubheit breitete sich in seinem Arm aus.

"Kämpfe, verdammt!"
Da war etwas in Gendo Ikaris Stimme... soetwas wie... Sorge...

Er konnte es nicht. Der Pilot der anderen Einheit hatte in seiner Vorstellung kein
Gesicht, doch vor Shinjis geistigem Auge erlebte er Qualen.
"Ich kann nicht..." flüsterte der Junge. "Ich kann nicht..."

EVA-03 stürmte auf ihn zu, seine Augen glühten in dämonischem Feuer...

Ein Schuß peitschte.

EVA-03 hielt inne, preßte eine Hand gegen den Kopf, gegen das linke Auge.

Ein weiterer Schuß...

EVA-03 schrie auf, stieß ein schmerzerfülltes Heulen aus, als sich das Geschoß in
seine Schulter bohrte, dort explodierte und den Arm abriß.

"Shinji, steh nicht rum wie festgefroren! Halt ihn fest!" schrie Asuka. "Ich will
nicht noch mehr Schaden anrichten!"

Shinji sah zur Seite.

Der rote EVA-02 stand in einiger Entfernung, seinen Positronen-Colt im Beidhandan-
schlag.

"Asuka..."

"Los! Dann können wir Touji ´rausholen!"

Entsetzen erfaßte ihn.
"Touji?"

"Ja, er ist der Pilot! Jetzt tu´ was, oder..."

"Ja, gut."
EVA-01 packte den Arm von Einheit-03, schleuderte den schwarzen EVANGELION aus den
Rücken, kniete sich in sein Kreuz, den Arm immer noch im Griff.
Der Entry-Plug war von einer spinnenwebartigen Substanz bedeckt.
"Das muß der Engel sein! Asuka, komm mit deinem Messer!"

"Unterwegs!"

"Schneid´ den Plug frei, ganz vorsichtig!"

"Hey, ich bin Profi."

Die Klinge des PROG-Messers kam mit dem Engel in Kontakt. Die weißen Fäden verfärbten
sich, liefen schwarz an, zogen sich zusammen. Der EVA begann wild zu zucken, doch
EVA-01 hielt ihn fest, während EVA-02 mit der Operation fortfuhr.

Der Entry-Plug lag frei. Shinji entfernte die mechanischen Sperren, ließ EVA-01 den
herausschießenden Plug ergreifen.
"Touji, hörst du mich?"

Keine Antwort.

"Ziel erloschen." erklärte Gendo über Funk. "Medizinische Teams sind unterwegs.
Shinji, wegen deiner Befehlsverweigerung reden wir, wenn du zurück bist."
Es knackte in der Leitung.

Shinji legte den Entry-Plug vorsichtig ab, stellte eine Verbindung zu EVA-02 her.
"Asuka, kannst du nach ihm sehen?"

"Ja."
Ihr Gesicht war blaß.
"Kümmere du dich um Rei."

Er nickte, unterbrach den Kontakt.

Wenige Augenblicke später stand er vor Reis Entry-Plug, den er genauso wie nach dem
Kampf gegen Ramiel entfernt hatte, doch diesesmal benutzte er einen Schraubenschlüs-
sel, um das Türrad zu betätigen.
"Rei-chan?"

"Shinji?"
Ihre Stimme war nur ein leises Stöhnen, als sie sich im Pilotensitz aufsetzen und ihn
ansah.

Er atmete tief durch.
"Du lebst... gottseidank..."
Shinji kletterte in den Plug hinein, ging neben ihr in die Knie, fuhr mit der Hand
über ihre Stirn, umarmte sie spontan.

Und ebenso spontan erwiderte sie seine Umarmung, wenn auch nur schwach, da ihre Arme
Tonnen zu wiegen schienen. Und endlich schaffte sie es, die Worte zu flüstern, die
auszusprechen sie seit Tagen nicht gewagt hatte.
"Ich liebe dich."

Seine Reaktion bestand darin, sie noch fester an sich zu drücken, als wollte er sie
nie wieder gehen lassen.

Einen Moment lang genoß sie seine Nähe, konzentrierte sich ganz auf das heftige Häm-
mern seines Herzens. Dann wurde sie wieder von der Realität eingeholt.
"Was ist mit Touji?"

"Ich weiß nicht... wir haben den Engel vernichtet und EVA-03 gestoppt... Asuka öffnet
gerade den Entry-Plug..."

"Hilf mir, bitte."
Sie streckte die Hand aus.

"Du wußtest es auch?"

"Ja... wir... wir wollten nicht, daß du dir um ihn Sorgen machst... es sollte ein ge-
wöhnlicher Aktivierungstest sein."

Shinji preßte die Lippen zusammen.
"Ihr hättet es mir sagen müssen."

"Bitte, verzeih..."

Dem Blick ihrer Augen nach war sie den Tränen nah.

Shinji wußte, daß er fast alles zu ertragen imstande gewesen wäre, nur nicht sie noch
einmal weinen zu sehen.
"Es... es hätte wohl keinen Unterschied gemacht... Komm."
Er half ihr auf die Beine, legte ihren Arm um seine Schultern, zögerte kurz, hob sie
dann kurzentschlossen hoch und trug sie ins Freie. Rei protestierte nicht. Sie war
leicht, fast wie eine Feder, auf der anderen Seite wurde ihm bewußt, daß er in den
letzten Monaten kräftiger geworden war, das ständige Training zahlte sich aus. Er
spürte ihren Kopf an seiner Schulter, war aber mehr damit beschäftigt, sich auf das
vorzubereiten, was Asuka möglicherweise im anderen Entry-Plug gefunden hatte.

Seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht, jedenfalls nicht ganz.
Asuka stand in der Einstiegsöffnung und winkte ihm zu.
"Komm schnell ´rüber! Er braucht Hilfe!"

"Rei..."

"Ja, setz mich einfach ab."

Sanft setzte er sie auf den Boden, lächelte ihr noch einmal verkrampft zu, ehe er
losrannte.

Das Innere des Entry-Plugs von EVA-03 war blutverschmiert. Touji Suzuhara lag reglos
im Pilotensitz, sein Gesicht war voller Blut, der linke Arm war aus dem Gelenk geris-
sen. Asuka hatte bereits einen Druckverband angelegt, auch sie war voller Blut.
"Kümmere dich um sein Auge."

"Wie denn?"

"Einfach verbinden, mehr können wir ohnehin nicht tun." Ihr Gesicht hatte einen ver-
bissenen Ausdruck, während sie den Schulterverband überprüfte. "Zum Glück hat Onkel
Wolf mir soetwas auch beigebracht... Er hat viel Blut verloren... Verdammt, verdammt,
verdammt!" Mit jedem Wort wurde ihre Stimme lauter, nach dem letzten Wort brach sie
zusammen, fing an zu schluchzen.
"Wenn ich gewußt hätte, daß er diesselben Verletzungen erleidet... ich hätte doch
niemals... verdammt..."

"Asuka..."
Er wußte nicht, was er sagen sollte, was er sagen konnte.

Der Druckverband war schnell blutgetränkt. Mechanisch legte Asuka weitere Verbände an.
"Er muß überleben... oh, nein, Suzuhara, du stirbst mir nicht unter den Fingern weg...
Hikari würde mich sonst fertigmachen..."

Endlich trafen Ärzte und Sanitäter ein, mit ihnen erschien Misato, ihr rechter Arm
befand sich in einer Schlinge und sie hatte mehrere Schürfwunden im Gesicht.
Während Touji abtransportiert und Rei vor Ort untersucht wurde, kümmerte Misato sich
um Asuka, bis diese sich wieder gefangen hatte.

Als nächstes rückten die Aufräumkommandos an, Schwersttransporter luden die EVAs auf
und brachten sie zum Hauptquartier, die Sondereinheit sicherte die Überreste des En-
gels.

Shinji stand mitten auf der Straßenkreuzug, doch ihm war, als wäre all das, was um
ihn herum geschah, nicht real. Er konnte das Bild von Toujis Gesicht nicht aus seinen
Gedanken verdrängen, immer wieder war ihm, als blickte er in die leere blutige Augen-
höhle...

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Die Berührung holte ihn in die Realität zu-
rück.
"Rei-chan..."

Sie umarmte ihn wortlos.


***


"Rei-chan... Seine Stimme, die meinen Namen sagt, so voller Liebe, hallt in meinem
Kopf wieder."


***


Er wanderte seit Tagen durch die Straßen der Stadt, scheinbar ziellos, folgte in
Wirklichkeit den Drachenpfaden, deren pulsierende Energien an den verschiedensten
Stellen in der Tiefe verschwanden.

Den Angriff des lebenden Schattens hatte er aus nächster Nähe miterlebt, gehüllt in
Schilde jenseits des menschlichen Verständnisses, geschützt von den Mächten der Nacht
selbst.
Das Erscheinen von EVA-01 hatte in ihm etwas ausgelöst - Aufregung.
Der Riesenroboter war ganz klar ein Konstrukt, ein Geschöpf der Söhne des Äther, ein
Golem.
Sollte er die verlorene Tradition, die letzten Technomanten außerhalb der Technokra-
tie wiedergefunden haben?
Die Antwort lag in dem abgeschirmten unterirdischen Bereich unter der Stadt, in der
Geofront...