Kapitel 06 - Yui


[Musik: Dire Straits - Brothers in Arms]

Zwei Tage waren vergangen.

Shinji hatte sich von seinem Vater eine lange Strafpredigt anhören müssen, er
war mehrmals nahe darangewesen, alles hinzuwerfen und Gendo zu erklären,
wo er sich die EVAs seiner Ansicht nach hinstecken konnte, doch dann erinner-
te er sich an das Versprechen, welches er Rei - und eigentlich auch sich selbst -
gegeben hatte, das Versprechen, nie mehr wegzulaufen.
Und selbst die längste Strafpredigt war irgendwann zu Ende. Gendo Ikaris
Maßnahmen bestan-den aus zusätzlichem Training für Shinji, sowie einer Ge-
haltskürzung für die nächsten vier Wochen - die Piloten wurden tatsächlich
bezahlt, das Geld ging allerdings zu guten Teilen auf Sparkonten, der Rest wur-
de auf Misatos Konto als Haushaltsgeld überwiesen, welche widerum nach eige-
nem Ermessen Taschengeld ausgab, aber das war eine andere Geschichte. Die
Bestrafung berührte Shinji nicht sonderlich, für ihn wäre es schlimmer gewesen,
hätte sein Vater entschieden, die Wohnverhältnisse der Piloten zu ändern...

Rei hatte von dem Kampf mehrere Prellungen und ein leichtes Schleudertrauma da-
vongetragen. Shinji ließ es sich nicht nehmen, nahezu rund um die Uhr bereitzuste-
hen und ihr alle Wünsche von den Augen abzulesen, während der Nacht ließ er so-
gar die Zimmertüren offen, damit sie ihn notfalls rufen konnte, nachdem Misato ihm
mit sanfter Deutlichkeit untersagt hatte, auf dem Flur zu nächtigen.

Am zweiten Tag erwachte Touji aus seinem Koma. Asuka, die vor der Tür
seines Zimmers ge-wacht hatte, rief zuerst Shinji an, da sie sich nicht traute,
Touji allein unter die Augen zu treten, dann informierte sie Hikari, wie von
dieser gewünscht.

Shinji betrat das Krankenzimmer seines Freundes als erster, Asuka schlich
regelrecht in seinem Schatten hinterher.

"Touji?"

"Hey", flüsterte der Junge im Bett. Er war bis zum Hals zugedeckt, unter der
Decke zeichneten sich die Konturen seines Körpers ab, an seiner linken Sei-
te lag die Decke direkt am Torso an, zerstörte Asukas heimliche Hoffnung,
daß die Ärzte den Arm vielleicht wieder hatten ansetzen können. Sein Kopf
war bandagiert, sein Gesicht wies zahlreiche Prellungen auf, schimmerte in
ziemlich allen denkbaren Farben.

Shinji trat bis an die Bettkante heran, während Asuka bei der Tür zurückblieb.
"Touji... wie geht es dir?"

Der andere lachte leise.
"Richtig beschissen. Aber ich lebe."

"Es tut mir leid..."

"Schon gut. Habt ihr es dem Engel wenigstens so richtig gegeben?"

"Er sieht schlimmer aus als du."

"Das habe ich auch gehofft. Es war furchtbar, ich saß kaum in EVA-03, als
dieses Ding plötzlich die Kontrolle übernahm. Und es ließ mich zusehen, wie
es die Testanlage zerlegte. Ich konnte überhaupt nichts tun... Es ist gut, daß
ihr ihn gestoppt habt."

"Trotzdem... wenn es einen anderen Weg gegeben hätte..."

"Was ist mit Ayanami? Geht es ihr gut?"

"Ja. Sie läßt dich grüßen, wenn sie es schafft, kommt sie nachher auch noch
vorbei."

"Schön... Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal von einem Mädchen im Kran-
kenhaus besucht werden würde - oder von mehreren... Ich bin froh, daß sie
in Ordnung ist. Als EVA-03 ihrem EVA das Genick gebrochen hat, hätte ich
alles gegeben, um an ihrer Stelle zu sein, anstatt im Inneren dieses... Monsters..."

"Warum hast du EVA-03 gesteuert?"

"Ja, warum... Wo ich doch verstehe, wie sehr du leidest, wenn du EVA-01
steuerst... wo ich doch weiß, wieviel Schmerz die EVANGELIONs bringen
können... - Es war für meine Schwe-ster."

"Deine Schwester? Was hat Mari damit zu tun?"

"NERV hat versprochen, ihre Behandlung zu übernehmen... damit sie wieder lau-
fen kann... Und dafür war mir dieses Opfer nicht zu groß. Und das ist es immer
noch nicht."

"Oh, Touji..."

"Und du? Hast du ´was abbekommen?"

"Ein paar blaue Flecken, nicht der Rede wert. Es tut mir so leid."

"Das hast du schon gesagt. Und habe ich nicht gesagt, daß es dir nicht leid zu
tun braucht, ja?! Ah, Soryu, was ist mit dir? Möchtest du nicht etwas näher-
kommen? Ich kann dich kaum sehen, sie haben mich so mit Schmerzmitteln
vollgepumpt, daß ich mich kaum rühren kann."

Asuka trat neben Shinji, ihre Augen waren gerötet.
"Suzuhara... Touji... Ich... Shinji sagt, es täte ihm leid, dabei muß es mir leid
tun..."

"Warum?"

"Ich habe EVA-03 die Verletzungen zugefügt, die du auch hast. Ich habe sein
Auge herausgeschossen und..."

"Ah, Soryu, fang nicht an zu weinen, das paßt nicht zu dir."

"Woher willst du wissen, was zu mir paßt?"

"Hör zu, ich werde einen künstlichen Arm erhalten, sie haben schon die Maße
genommen. Und das Auge... vielleicht kommen Piraten wieder in Mode... mit
einer Augenklappe sehe ich sicher cool aus."

"In deinen Träumen, Suzuhara."

"Schon besser, Soryu. Wichtig ist nur, daß der Engel gestoppt wurde... naja,
und daß ich noch am Leben bin. Wird zwar etwas schwer, einarmig Basket-
ball zu spielen, falls das mit der Pro-these nicht klappt, aber es könnte
schlimmer kommen."

"Touji..."

"Ja, Soryu?"

"Ich muß mich bei dir entschuldigen."

"Ich sagte doch..."

"Nicht deswegen. Sondern weil ich dich für einen Trottel gehalten habe. Du
bist ein besserer Mensch als ich."

Touji schloß die Augen.
"Oh je. Jetzt weiß ich es - ich bin gestorben und im Himmel gelandet, an kei-
nem anderen Ort würde Asuka Soryu Langley zugeben, sich geirrt zu haben."
Er lachte.

"Argh! Sei froh, daß ich keine Kranken schlage. Deine Medikamentendosis
ist viel zu hoch, falls du mich fragst!"

Es klopfte.

"Immer herein!" rief Touji mit schwacher Stimme.

Es war Hikari. Als sie sah, daß Touji bereits zwei Besucher hatte, errötete sie stark.
"Suzuhara-kun..."

"Klassensprecherin. Komm doch bitte herein."

"Uhm, wir wollten ohnehin gerade gehen", erklärte Shinji und stieß Asuka an.
"Also, Touji, ich komme morgen nachmittag wieder vorbei, soll ich dir etwas mit-
bringen? Einen Film aus der Videothek vielleicht?"

"Hm, ja, etwas lustiges wäre schön."

"Ich sehe, was ich finden kann."

Sie verließen das Zimmer. Draußen lehnte sich Asuka gegen die Wand.
"Ich wollte das nicht... Ich wollte es wirklich nicht."

"Ich weiß. Und er weiß es auch, das ist es, was wichtig ist. Touji ist niemand,
der lange Groll hält, würde er es dir nachtragen, hätte er schon versucht,
dich zu erwürgen."

"Du versuchst, mich aufzuheitern, oder?"

"Uhm..."

"Schon gut. Danke. Aber mir ist momentan nicht danach zumute."

"Ja."

"Wenn soetwas einem von uns passieren kann, kann es jedem passieren. Was
kommt als nächstes? Ich habe mich immer als Heldin gesehen... die große
Asuka Soryu Langley, die mit ihrem roten EVANGELION die Menschheit vor
den Engeln beschützt... Im Augenblick wünschte ich mir, niemals mit den EVAs
in Kontakt gekommen zu sein..."

"Ich verstehe dich."

"Wirklich?"

"Ja. Bei meinen ersten Kämpfen fühlte ich mich genauso... Ich habe nie EVA-01
steuern wollen, mein Vater hat mich dazu gezwungen... ich oder Rei, die da-
mals schwer verletzt gewesen war..."

"Dieser Mistkerl... dieser gottverdammte Arsch..."

Shinji lächelte schwach.
"Ja. Die ersten beiden Male wurde EVA-01 zum Berserker, wodurch er mir
das Leben rettete. Ich habe eine Seite an mir entdeckt, die ich lieber nicht ge-
sehen hätte, eine häßliche dunkle Seite, die nach Blut giert... Erst der Kontakt
mit EVA-01 hat mir das gezeigt, vielleicht waren es aber auch Emotionen, die
aus dem EVANGELION gekommen sind..."

"Glaubst du etwa, die EVAs hätten Gefühle?"

"Ich weiß nicht, ob es Gefühle sind, oder nur Instinkte... Bei EVA-01 habe ich
immer das Gefühl, da wäre ein Echo... Die EVAs sind nach dem Vorbild des
Menschen erschaffen worden, es wurde menschliche DNA verwandt... und die
DNA eines Engels..., warum sollten sie keine Seelen oder Gefühle haben?"

"Shinji, darüber habe ich nie nachgedacht. Ich weiß jetzt nur, daß wenn wir
nicht aufeinander acht geben, es sonst niemand tut. Wer weiß, welche Hinter-
list der nächste Engel besitzen wird, oder womit wir als nächstes konfrontiert
werden."

"Zusammen halten wir stand, getrennt fallen wir."

"Ja. Rei, du und ich... Einer für alle und alle für einen."


***


Der Rest des Tages verlief ereignislos. Shinji hatte am Nachmittag Synchronisa-
tionstraining, während Rei den geplanten Krankenbesuch machte und sowohl
Hikari wie auch Kensuke bei Touji antraf. Asuka lag derweil in ihrem Zimmer
auf ihrem Bett und hing ihren Gedanken nach, entsprechend schlecht war ihre
Laune beim gemeinsamen Abendessen, nachdem Misato das Gespräch auf
Touji gebracht hatte, indem sie sich erkundigte, wie es ihm ging.

Rei hatte Shinji und Misato mit dem Abwasch geholfen - Shinji hatte abgewa-
schen, Rei abgetrocknet und Misato das Geschirr weggeräumt -, nachdem
Asuka in ihrem gemeinsamen Zim-mer verschwunden war. Dann hatte sie Shin-
ji einen kurzen Gute-Nacht-Kuß gegeben, den Misato zu ignorieren vorgab, wäh-
rend sie still in sich hineingrinste, und war Asuka gefolgt.
Das rothaarige Mädchen lag wieder auf seinem Bett, den Blick zur Decke gerich-
tet.

"Asuka?"

"Laß mich in Ruhe."

Rei zog sich rasch um, setzte sich auf ihr Bett und sah Asuka unverwandt an.

"Warum starrst du mich so an?"

"Du leidest."

"Ja... Aber nicht genug."

"Warum? Warum willst du leiden?"

"Für das, was ich Touji angetan habe."

"Ich verstehe."

Ruckartig setzte Asuka sich auf.
"Du verstehst gar nichts!" schrie sie. "Er hätte tot sein können! Ich hätte sein
Blut an meinen Händen haben können."

"Doch. Ich verstehe. Derselbe Gedanke ließ mich zögern."

Asuka sah sie an.
"Auf soetwas wurde keiner von uns vorbereitet... EVA-03 hätte an unserer
Seite kämpfen sollen, nicht gegen uns."

"Ja. Keiner von uns war fähig, gegen den Menschen in EVA-03 vorzugehen."

"Keiner außer mir..."

"Du konntest nicht wissen, was geschehen würde."

"Schöner Trost, sag das Touji."

"Er weiß es."

"Ja. Und ich habe mich wie ein Idiot gefühlt. Ich hätte in dem Krankenbett lie-
gen müssen, nicht er. Ah... Er hat es getan, damit die NERV-Ärzte seiner
kleinen Schwester helfen, wieder gehen zu können... das ist so verdammt hel-
denhaft... er setzt sich in einen EVA, sich des Risikos bewußt, im Kampf gegen
einen Engel verletzt oder getötet zu werden, damit seine Schwester eine Chance
hat. Und dann wird er durch diejenigen schwer verletzt, die eigentlich auf dersel-
ben Seite stehen... durch mich... ich bin kein Held, ich bin nur einer Illusion gefolgt.
Shinji hat recht, die EVAs bringen Schmerz und Leid."

"Aber ohne sie hätte schon der erste Engel das Ende der Menschheit bedeutet..."

"Ja. Und du hättest keine Aufgabe gehabt, ich weiß. Rei, könntest du... könntest
du mich allein lassen? Ich glaube, ich muß heulen und ich möchte nicht, daß mir
jemand dabei zusieht."

"Ich respektiere deinen Wunsch."
Rei stand auf, ging zur Tür, verharrte doch.
"Asuka, ich... ich bin für dich da."

"Ich weiß. Nur zusammen sind wir stark."

"Korrekt."

"Ich werde schon keine Dummheiten begehen, falls du dir deshalb Sorgen
machst."

"Gut."

"Selbstmord ist etwas für die, die keinen Ausweg mehr sehen. Ich bin zwar ver-
zweifelt, aber nicht so verzweifelt. Um ehrlich zu sein, wünsche ich mir fast, ein
Engel möge auftauchen, damit ich ihn mir vornehmen kann. Was meinst du, ob
ein paar Extrarunden im Simulator morgen etwas helfen würden?"

"Vielleicht."

"Ja, vielleicht... Verdammt, warum mußte das passieren... und erst einen Tag vor-
her hat Hikari mir erzählt, daß sie Touji mag, sehr mag... warum kann ich nur zer-
stören?"
Sie schluchzte.
"Rei, geh bitte, ja?"

"Wenn du jemanden brauchst, dann rufe."

"Das werde ich. Rei... wenn ich eins heute gelernt habe, dann daß man nie ei-
ne Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen sollte. Wir könnten jederzeit im
Kampf sterben... oder in einem Verkehrsunfall... oder an etwas anderem...
wenn du etwas willst, dann tu es, wer weiß, ob sich später noch einmal die
Chance ergibt..."

Rei blinzelte, ehe sie antwortete.
"Ja."

"Danke, daß du meine Freundin bist."

Sie nickte nur, ehe sie das Zimmer verließ, in den Korridor trat und die Tür hinter
sich schloß.

Asuka konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten...


***


Unter Shinjis Tür drang ein schwacher Lichtschein hindurch, er war also noch wach.

Rei atmete tief durch. Asukas gedämpftes Weinen drang an ihr Ohr, machte ih-
ren Entschluß fast zunichte, als sie versucht war, umzudrehen und ihre Mitbe-
wohnerin auch gegen deren Willen zu trösten.
... wenn du etwas willst, dann tu es, wer weiß, ob sich später noch einmal die
Chance ergibt..., hallten Asukas Worte in ihrem Geist wieder.
Sie nickte gedankenverloren, dann tat sie den Schritt in Richtung seiner Tür,
klopfte leise, erst zweimal schnell hinter einander, dann noch dreimal nach einer
kurzen Pause, ehe sie eintrat.
Sie wußte, was sie wollte...


***


Shinji setzte sich in seinem Bett auf, als sie an der Tür verharrte, statt zu ihm un-
ter die Decke zu schlüpfen, wie es in den letzten Wochen so oft geschehen war.
Sie hatten nebeneinandergelegen, häufig aneinandergekuschelt, einander umar-
mend, in letzter Zeit einander küssend, Kraft aus der Gegenwart des jeweils an-
deren ziehend, sich leise unterhaltend.
"Rei-chan, was hast du?" flüsterte er, als er die feine Röte auf ihren Wangen be-
merkte.

Sie stand nur da, barfuß, in ihrem knapp knieelangen Nachthemd mit den dünnen
Trägern einen wahren Engel so ähnlich wie nie zuvor, und lehnte sich gegen die
Tür, sah ihn musternd an.

Er legte das Buch, in dem er gelesen hatte, auf den Tisch und stand auf, wegen
des warmen Klimas trug er nur Boxershorts, es war nichts, dessen er sich in ih-
rer Gegenwart schämte. Zögernd überwand er den Schritt Distanz, der ihn von
Rei trennte, hob die Hand, streichelte zärtlich ihre Wange. Ihre Haut war heiß.
"Was hast du?" wiederholte er, in ersten Moment fürchtend, sie könnte krank
sein.

Als Antwort drängte sie sich gegen ihn, zog seinen Kopf zu sich, preßte ihre Lip-
pen auf die seinen in einem hungrigen, verzweifelten Kuß


***


Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, lag Rei in Shinjis Armen.

Ein Vogel landete auf der Bank vor seinem Fenster und begann zu zwitschern.

Ein vereinzelter Sonnenstrahl kitzelte ihre Nase, sodaß sie schließlich erwachte
und zur Uhr schielte.
"Oh..."

"Hm?" machte Shinji. "Rei-chan, was ist?"

"Wir hätten nicht einschlafen dürfen."

Er lächelte entspannt.
"Nachdem, was wir getan haben, war das, glaube ich, verständlich."

"Ja." hauchte sie und streichelte seine Wange. Als Antwort zog er sie wieder
an sich und schloß sie in seine Arme.

"Wenn dieser Moment nur ewig anhalten könnte... Rei-chan, bist du glücklich?"

Sie überlegte einen Moment lang, kam zu dem Schluß, daß das, was sie em-
pfand durchaus als Glücksgefühl bezeichnet werden konnte.
"Ja."

"Ich auch."
Er küßte sie sanft auf die Lippen.
"Ich möchte dich nicht verlieren... niemals... das wußte ich schon nach dem
Kampf gegen Ramiel."

"Ich weiß... Wahrheit..."

"Du weißt?"

"Ich erinnere mich... an deine Lippen, als du mich zurückgeholt hast... und an
deine Worte..."

"Ah... du hast nie etwas davon gesagt."

"Es gab keinen Grund; warum das Offensichtliche ansprechen? Aber du hast
dich geirrt."

"Worin?"

"Du brauchtest meine Stärke nicht. Deine Stärke kommt von hier."
Sie legte die flache Hand auf die Brust über seinem Herzen.
"Mit dieser Stärke könntest du die Welt formen."
Rei löste sich aus seiner Umarmung schwang die Beine über die Bettkante und
setzte sich auf, sie angelte nach ihrem Nachthemd und streifte es sich über.

Shinji versuchte, sie zurückzuziehen, küßte zärtlich ihren Nacken, legte einen
Arm von hinten um ihre Leibesmitte.

Sie löste sich aus der Umarmung, schüttelte bedauernd den Kopf.
"Ich muß nach Asuka sehen, sie war gestern ziemlich fertig."

"Es ging ihr nicht gut?"
Shinji setzte sich auf.

"Nein, aber sie wollte allein sein."

Er erinnerte sich an die Momente direkt im Anschluß nach seinen ersten Käm-
pfen mit EVA-01, wenn der Gegener besiegt war und das Herz wieder lang-
samer schlug, erinnerte sich, wie sehr es ihn gequält hatte. Auch er hatte nie-
manden an sich herangelassen, hatte alleinsein wollen.
"Ich kann sie verstehen. Warte, ich komme mit."

"Nein, das ist nicht nötig. Ruh´ dich noch etwas aus... es war eine lange Nacht."
Sie zwinkerte ihm zu.

"Aber hol´ mich, falls etwas sein sollte."

"Ja. Vergiß nicht - heute nachmittag sind wieder Tests." Sie beugte sich noch
einmal über ihn und gab ihm einen langen Kuß, ehe sie aufstand und das Zim-
mer verließ. Sie sah nur kurz in den Raum, den sie mit Asuka teilte, diese lag
mit angezogenen Knien in ihrem Bett, die Arme um die Knie geschlungen,
und schlief hörbar, bevor sie ins Bad ging.
Als sie zurückkam, hatte Asuka sich auf die andere Seite gewälzt. Geräuschlos
durchquerte sie den Raum und legte sich auf ihr Bett, den Blick in die Ferne
gerichtet, ein stilles Lächeln auf den Lippen.

Am Mittag dieses Tages griff Zeruel an, der Engel der Macht. Und alles sollte
sich ändern...


***


Der Engel war plötzlich am Himmel aufgetaucht, hatte die Verteidigungslinien
durchbrochen und sich mit wuchtigen Schlägen einen Weg in die Geofront ge-
bahnt, dabei die Panzerschotten des Hauptzugangsschachtes zur Geofront zu
mehreren auf einmal knackend.

Zu diesem Zeitpunkt waren nur Rei und Asuka im Hauptquartier präsent, wäh-
rend Shinji sich im Krankenhaus aufhielt und Touji einen Besuch abstattete,
natürlich machte er sich sofort auf den Weg, als die Alarmsirenen aufheulten.

Misato entschied, den Engel in der Geofront am Boden des Schachtes abzu-
fangen. EVA-00 war immer noch beschädigt, der Schaden, den Bardiel ihm
zugefügt hatte, lag jenseits der Hayflick-Grenze und damit außerhalb der na-
türlichen Regenerationskraft des EVANGELIONs. Gendo wies Rei an,
EVA-01 zu übernehmen, die Zeit war knapp und er konnte es sich nicht lei-
sten, auf seinen Sohn zu warten.

Asuka befand sich in einem furchtbaren Zustand nach einer größtenteils
schlaflosen Nacht. Und die paar Stunden, die sie tatsächlich geschlafen hat-
te, waren von Albträumen erfüllt gewesen.
Ihre Synchronrate fiel entsprechend aus, EVA-02 gehorchte ihr nur mit Ver-
zögerung und be-wegte sich ausgesprochen hölzern.

Major Katsuragi, die dies erkannte, änderte ihren Plan entsprechend, indem
sie Asuka in der Deckung eines künstlichen Hügels positionierte und alles zu
ihr bringen ließ, was das Arsenal hergab.

Der rote EVA wartete in seiner Schützenstellung auf den Feind, während seine
Pilotin über ihre eigene Schwäche vor sich hin fluchte.

Derweil lief die Synchronisation zwischen Rei und EVA-01 an.

"Reis Entry-Plug wird in Einheit-01 eingeführt. LCL eingeleitet." berichtete
Maya Ibuki.

"A10 Nervenverbindungen schließen!" wies Akagi die Operatoren an.

Die Monitorübertragung aus dem Inneren des Entry-Plug zeigte, daß Rei sich
plötzlich zusammenkrümmte, als litte sie unter Magenschmerzen.

"Puls umgekehrt. Einheit-01 verweigert die Neuralverbindung!"

"Ich glaube es nicht..." murmelte Ritsuko.

Im Leitstand sah Fuyutsuki Gendo von der Seite her an.
"Ikari..."

"Ja. Sie lehnt mich ab..." Er versteifte sich. "Startsequenz abbrechen und neu
beginnen, zusätzlich einen Dummy-Plug vorbereiten. Einheit-01 muß einsatz-
bereit gemacht werden, auf
die eine oder andere Weise." Gendo nickte seinem Stellvertreter zu. "Sie ha-
ben das Kommando, ich bin im Hangar."

Im Entry-Plug von EVA-01 sammelte Rei all ihre Kraft. Bei ersten Versuch
der Startsequenz hatte sie den Eindruck gehabt, gegen eine Mauer zu laufen.
Der EVA hatte ihre Gedankenbe-fehle nicht nur ignoriert, sondern regelrecht
abgeblockt und zurückgeschleudert. Endlich hatte sich ihr Puls beruhigt.

Akagi kündigte einen weiteren Versuch an.

"Bereit." bestätigte Rei.
Erneut tastete sie nach dem Bewußtsein des EVANGELIONs, versuchte mit
ihren Gedanken die Nervenzentren des Giganten zu erreichen, ihn zur Bewe-
gung zu animieren.

Eine Welle von Ablehnung schlug ihr entgegen.

Sie schnappte nach Luft, glaubte, ihr Herz würde explodieren, so schnell
schlug es plötzlich.
"Warum?" flüsterte Rei.

"Rei, ich breche ab", erklärte Ritsuko.

"Nein. Ich muß es schaffen", flüsterte sie und unterbrach die Funkverbindung,
konzentrierte sich erneut, indem sie das Bild eines lächelnden Shinji Ikari vor
ihrem geistigen Auge projizier-te.

Es funktionierte, der Widerstand ließ nach.

Warum? hallte es aus den Tiefen des EVANGELION-Bewußtseins.

Zuerst glaubte sie an ein Echo ihrer eigenen Gedanken, dann überschwemmte
sie eine wahre Flut von Emotionen, riß sie mit sich...


***


Mit einem letzten Krachen brach der Engel in die Geofront.

Asuka feuerte das Positronengewehr ab, jagte das ganze Magazin in das AT-
Feld Zeruels, oh-ne es zu durchbrechen. Achtlos ließ sie das Gewehr fallen,
griff nach dem nächsten, wiederhol-te die Aktion, hatte erneut keinen Erfolg.

"Das passive AT-Feld ist zu stark für die Positronenladungen!" erklärte Misato.

"Ja, das sehe ich auch - jetzt!"
Sie schulterte einen Raketenwerfer, der Einschlag brachte den Giganten wenig-
stens etwas aus dem Gleichgewicht.
"Verdammter Mistkerl!"

Mit dem letzten Treffer hatte sie Zeruels Aufmerksamkeit erregt. Im nächsten
Moment war er über ihr. EVA-02 war viel zu langsam. Die papierdünnen Peit-
schenarme jagten auf den roten EVA zu, rissen ihm die Arme ab.
Einen Moment lang verspürte Asuka furchtbare Schmerzen, dann wurde die
Synchronverbindung unterbrochen. Das letzte, was sie wahrnahm, bevor sie das
Bewußtsein verlor, war, daß der Entry-Plug notevakuiert wurde.


***


Gendo stand auf dem Laufsteg neben Einheit-01 und starrte durch die dunk-
len Gläser seiner Brille in ihre Augen.

"Vater!"

Der ältere Ikari drehte sich um, sich seinen Sohn die Leiter hinaufklettern,
noch in seiner Zivil-kleidung und außer Atem.

"Du kommst spät."

"Ja..." Shinji blieb keuchend stehen, sah zu EVA-01 hinüber. "Wer... ist im
Entry-Plug...?"

"Rei." Gendo wandte sich dem Sprechgerät in der Wand hinter ihm zu.
"Akagi, unterbrechen Sie den Start. Shinji ist eingetroffen."

"Keine Reaktion. EVA-01 verweigert alle Signale."

"Was?"

Misato schaltete sich ein.
"Der Engel hat EVA-02 besiegt."

"Asuka!" entfuhr es Shinji.

"Pilot wurde notevakuiert."

"Das ist jetzt egal!" herrschte Gendo sie an. "Was ist mit Rei?"

"Kein Kontakt. - Kommandant, verlassen Sie den Hangar, der Engel..."

In diesem Moment durchbrach Zeruel die Außenwand, verharrte kurz, ehe
er mit langsamen Schritten auf die Käfige der EVAs zumarschierte.

Shinji starrte den Giganten an, der sich langsam näherte.

Gendo schrie EVA-01 an:
"Handle! Tu endlich etwas!"

Von der Decke stürzten Trümmerstücke. Shinji blickte nach oben, sah, daß
ein Teil der Trägerkonstruktion nachgab.
"Vater, zur Seite!" brüllte er und warf sich auf Gendo, stieß ihn zur Seite,
schlug selbst auf den Steg. Das letzte, was er sah, waren auf ihn herabstürzende
Trümmer...


***


Gendo Ikari fing sich am Geländer ab, ein Metallteil hatte seine Schulter ge-
streift, in seinem Arm breitete sich Taubheit aus.
"Danke..." murmelte er, noch während er sich umdrehte.
Seine Augen weiteten sich.

Shinji war unter einem Berg von Trümmern verschwunden, nur eine zuckende
Hand ragte der Hügel an Metallstreben und Deckenelementen hervor.

"Nein... Shinji!"
Etwas in ihm setzte aus. Der Engel schien nicht mehr zu existieren, als er damit
begann, seinen Sohn freizugraben.
Dann warf er den Kopf herum, brüllte EVA-01 an.
"Bist du jetzt zufrieden?"

Und EVA-01 antwortete mit einem Brüllen, als er sich in den Halterungen zu
seiner vollen Größe aufrichtete und die Verbindungen zerbrach.
Er brüllte den Namen des Jungen...


***


"Shinji!" schrie Rei.
Eben noch hatte sie gegen den Sog auf der Tiefe des EVANGELION-Be-
wußtseins gekämpft, dann war der Zweikampf plötzlich beendet worden
- von EVA-01.
Es war in dem Augenblick geschehen, als Shinji unter den herabfallenden Trüm-
mern verschwand.

Nein...

Zeruel kam näher.

Halte ihn auf!

"Ja..." antwortete sie der seltsam vertrauten Stimme aus den Tiefen des EVAs.
"Hilf mir!"

Im Entry-Plug wurde es hell...


***


In der Kommandozentrale blickte Ritsuko Akagi mit offenem Mund auf ihre An-
zeigen.
"Synchronisation zu EVA-01 hergestellt. Synchronrate schnell steigend... Maya,
stimmen die Anzeigen?"

"Ja, Sempai. Synchronrate bei 150% und steigend..."

"Ja, Rei, hol ihn dir!" feuerte Misato die Pilotin an.

Blitzartig schoß EVA-01 aus seinem LCL-Becken auf den Engel zu.

Dieser schlug mit seinen Armen nach ihm, der rechte Arm zersplitterte regelrecht
beim Kontakt mit dem AT-Feld des EVANGELIONs.

"Stärke des Feldes außerhalb des Skalenbereiches", flüsterte Maya. "Syn-
chronrate 200% und steigend!"

Die purpurne Hand von EVA-01 packte den anderen Arm des Engels unter-
halb der Schulter, riß ihn einfach aus, prügelte Zeruel mit dessen eigenen Arm
quer durch den Hangar.

Gendo war immer noch damit beschäftigt, Shinji auszugraben, ignorierte den
Spritzer blauen Engelblutes, der wie eine Welle über ihm zusammenschlug.

Aus dem Rücken Zeruels schossen zahllose kleinere tentakelartige Versionen
seiner Peitschen-arme, schlugen auf EVA-01 ein, durchtrennten das Kabel
der Energieversorgung. Entspre-chend der Aktivität, welche EVA-01 entfal-
tete, verfügte die Einheit jetzt noch über Notenergie für eine Minute Nahkampf.
Rei war entschlossen, diese Zeit zu nutzen, indem sie den Engel auf eine der
Aufzugsplattformen schleuderte, mit dem Knie festnagelte und sich mit ihm an
die Oberfläche tragen ließ, während sie weiterhin auf ihn einschlug.

Zeruels Tentakelarme schlugen gegen die Brustpanzerung von EVA-01, zer-
brachen einzelne Elemente der Panzerung.

Sie kamen in einem Wäldchen heraus.

Rei riß eine Tanne aus dem Erdreich, spießte den Engel damit auf. Zeruel lag
still.

Die Zeit lief aus.

EVA-01 brach neben dem Engel zusammen...

"Synchronrate jenseits der 400%-Grenze. Keine Veränderung."

"Obwohl die Energie des EVAs erloschen ist?" fragte Ritsuko.

Als wollte er sie verhöhnen, stemmte EVA-01 sich in diesem Moment in die
Höhe und stieß ein Heulen aus, einen Siegesschrei. Und dann warf er sich auf
den Kadaver des besiegten Engels und begann ihn zu fressen...


***


Gendo Ikari wartete vor dem Operationssaal. Es gab nichts anderes, was er
tun konnte, Fuyutsuki hatte alles bestens im Griff, während Katsuragi die Ber-
gung von EVA-01 leitete. Auf der anderen Seite befand sich sein Sohn. Shinji
hatte ihm das Leben gerettet und Gendo fühlte sich verpflichtet, auszuharren...

Endlich wurden die Schwingtüren des OPs aufgestoßen, wurde sein Sohn
hinaus auf den Gang geschoben. Shinjis Kopf war dick bandagiert.

"Und, Doktor?"

Der angesprochene nickte.
"Beulen, Schrammen, Prellungen und Platzwunden, dazu eine Gehirnerschütte-
rung und ein gebrochener Arm, recht kompliziert. Der Junge hat Glück gehabt."

"Er fällt also vorerst Zeit als Pilot aus."

Der Arzt wich einen Schritt von Ikari zurück.
"Ja... so kann man es auch... formulieren."

"Sie können alle Ressourcen nutzen, wenn es seiner Rekonvaleszenz dienlich
ist."

"Ja, Kommandant."


***


Rei saß auf einer endlosen Wiese auf einem Gartenstuhl an einem gedeck-
ten Tisch, in der Hand hatte sie eine filigrane Teetasse.

Ihr gegenüber saß eine Frau, deren Gesicht seltsam vertraut war, es war
ihr eigenes Gesicht, nur älter. Sie goß sich gerade selbst Tee ein.

Rei starrte ihr älteres Abbild an... Nein, nicht ihr Abbild, ihr Vorbild, die
Vorlage, nach der sie erschaffen worden war.
"Wo sind wir?"

"In EVA-01. Du wurdest absorbiert."

"Sie sind... Yui... Yui Ikari."

"Ja. Die bin ich... oder die war ich, bevor EVA-01 mich absorbiert hat."

"Ja."

"Und du bist Rei."

"Ja."

"Shinji denkt oft an dich."

"..."

"Ich kann seine Gedanken hören, wenn er EVA-01 steuert. Du bist ihm
wichtig."

"Ja."

"Und... was empfindest du für meinen Sohn?"

"Er ist meine Welt."

"Ist das nicht etwas wenig?"

"Nein. Mir genügt es."

"Und wenn ihm etwas geschehen ist?"

"Ich weiß nicht... Ich möchte mit ihm zusammensein..."

"Ich verstehe..."

"Danke, Ikari-san."

"Du kannst mich Yui nennen, schließlich gehörst du zur Familie."

"Familie..."

"Ich kann mich ja schlecht von der Mutter meines Enkelkindes siezen
lassen."

"Ich verstehe nicht..."

Yui lächelte.
"In dir ist ein neues Leben am Wachsen."

Rei legte die Hand auf ihren Bauch.
"Das ist... seltsam..."

"Hm... ich kenne deine Erinnerungen, so seltsam erscheint mir das nicht,
Shinji ist ja auch irgendwie zustandegekommen..."

"Ich... ich muß zu ihm."

"Ja."

"Aber... ich erinnere mich, daß er..."

Yui schien in sich hineinzulauschen.
"Er lebt..."

"Ich bin... froh."

"Ja. Aber du hast recht, er braucht dich."

Sie sah Yui direkt in die Augen.
"Er braucht auch Sie, Yui-san."

"Aber nur eine von uns beiden kann zurückkehren, Einheit-01 wird nur
eine Seele freigeben."

"Yui-san..."
Rei senkte den Kopf, schloß die Augen.
"Nutzen Sie die Chance."

"So sehr liebst du ihn?"

"...ja."

"Rei, ich möchte zurück... zu meinem Mann und meinem Sohn... aber
das kann ich nicht annehmen. Ich kann dir nicht erlauben, dieses Opfer
zu bringen."

"Es ist für ihn."

"Aber du mußt auch an euer Kind denken."
Yui schüttelte den Kopf.

"Sie wissen, was ich bin..."

"Ich weiß, wer du bist... und ich weiß, was du nicht bist."
Sie erhob sich von dem Gartenstuhl, ging um den Tisch herum, blieb ne-
ben Rei stehen, legte ihr die Hand auf die Schulter.
"Ich freue mich, dich kennengelernt haben zu können, Rei. Und ich möch-
te dir ein Geschenk mit auf den Weg geben..."


***


Über vier Wochen waren vergangen, seit Rei von EVA-01 absorbiert worden
war.

Die ganze über hatten sich entweder Asuka oder Shinji ständig im Hangar auf-
gehalten, auch außerhalb der Tests, - Shinji natürlich die meiste Zeit, nachdem
er von der Krankenstation entlassen worden war. Er hatte sogar in einem
Schlafsack auf dem metallenen Steg neben Einheit-01 übernachtet. Immer wie-
der hatte Misato ihn vor EVA-01 stehend vorgefunden, als wäre er in ein stum-
mes Zwiegespräch vertieft, wobei seine Lippen immer wieder die Sätze "Komm
zurück zu mir, Rei-chan. Ich liebe dich. Bitte, komm zurück, ich brauche dich."
formten.
Es brach dem Major jedesmal das Herz.

Doktor Akagi hatte einen Plan entwickelt, um sie zu bergen. Einen langen Mo-
ment lang hatte sie mit dem Gedanken gespielt, den Rettungsplan mit einem
winzigen Fehler zu versehen, der ein Scheitern - und den Tod Reis - zur Folge
gehabt hätte, nur um dem Liebling des Komman-danten zu schaden, doch nur
zu schnell war ihr bewußt geworden, daß dieser einfach eine neue Rei aus dem
Klonbecken geholt hatte, daß die augenblickliche Rei nicht mehr das Mädchen
war, welches sie so lange Zeit gehaßt hatte, daß sie sich vielmehr vom Einfluß
des Kommandanten zu befreien begonnen hatte, was größtenteils ein Resultat
von Ritsukos und Misatos Verschwörung war. Schon allein deshalb mußte ihr
Plan gelingen - und nicht, weil Gendo Ikari es befohlen hatte.

"Nadeln eingeführt, Verbindungen hergestellt. Elektromagnetisches Wellenmuster
bei 0, -3 fixiert."

"Ego-Grenzpuls verbunden." meldete Maya.

"Verstanden, Bergung beginnen!"

"Signal-1 gesendet und empfangen. Signal-2 und -3 gesendet. Kein Widerstand von
EVA-01 gegen die Signale."

"Phase 2 beginnen."

"Ego-Grenze befindet sich in einer Schleife." rief Maya plötzlich.

"Versuche, alle Wellenmuster in Einklang zu bringen, Maya!"

"Fehlschlag, die Signale werden abgelenkt. Da ist ein Störfaktor..."

Misato trat rasch an Akagis Seite, sie kam gerade aus dem Lazarett.
"Was heißt das?"

"Fehlschlag."

Shinji fuhr auf seinem Beobachtungsplatz am Fenster herum, riß die Augen
auf.
"Was...?"

"Stör jetzt nicht. Maya, Ablenkung umgehen..."
Sie gab rasch einige Befehle in ihr Terminal ein.

"Kernpuls auf plus 3." vermeldete Makoto.

"Temperatur des LCL steigt. 36°, 38, 41, 58, 76, 97, 106..." rief Maya.

"Momentanen Zustand beibehalten." wies Ritsuko an, während sie weitere
Befehle eingab.

"Werte werden kritisch. Plus 0,5. 0,8. Ich kann den Anstieg nicht aufhalten."

"Was bedeutet das?" Akagi blickte durch das Fenster.

"EVA widersetzt sich den Signalen! Im Entry-Plug steigt der Druck, mit Reis
Egoformation geschieht etwas. Als ob wir ein Echo hätten..."

"Alle Vorgänge anhalten, Energieversorgung zu EVA-01 unterbrechen."

"Entry-Plug wird ausgestoßen!"

Misato rannte zum Fenster, starrte auf den zischenden Entry-Plug, der aus
dem Nacken von
Die Bildübertragung zeigte, daß der Plug immer noch leer war.
"Ritsuko, bist du mit all deiner Wissenschaft nicht in der Lage, sie zu retten?"
Der Plug begann sich zu bewegen.
"EVA stößt den Entry-Plug ab!"
Misato rannte zur Tür, die Treppe hinab, in den Hangar. Sie eilte die Leiter,
die zum Laufsteg führte, hinauf, dicht gefolgt von Shinji.

Der Entry-Plug löste sich aus der Halterung, schlug auf den Steg, brach auf.

Heiße LCL-Flüssigkeit ergoß sich auf den Boden.

Shinji blieb stehen, lehnte sich gegen das Gelände und begann stumm zu weinen.

Misato wurde langsamer, stolperte fast auf die größer werdende Pfütze zu.
"Nein... Rei!"

Die Flüssigkeit war in Bewegung, zog sich zusammen, formte einem Körper...

Misato riß die Augen auf.
"Shin-Shinji!"

Neben dem Entry-Plug lag zusammengekauert ein nacktes blauhaariges Mäd-
chen, Rei Ayana-mi...


***


Rei tastete über ihr Gesicht, ihre Umgebung gar nicht wahrnehmend.

Erst als Shinji ihren Namen schrie und sie mit seinem gesunden Arm an sich
drückte, reagierte sie.

"Shinji..." flüsterte sie, hob langsam die Hand und streichelte seine Wange.
"Du bist wirklich."

"Ja, Rei... Du bist zurück..." Er blickte über die Schulter. "Misato, Ritsuko
hat es tatsächlich geschafft."

"Ja..." flüsterte Misato und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.

In diesem Moment stürmte Gendo Ikari in den Hangar, blieb beim Anblick
des Mädchens in den Armen seines Sohnes wie angewurzelt stehen, wurde
des liebevollen Gesichtsausdruckes
Reis gewahr, der Liebe, die sie für seinen Sohn empfand.
Er preßte die Lippen zusammen und machte kehrt.


***


"Fuyutsuki?"

"Ja, Ikari?"

"Es steht zu befürchten, daß Rei für das Szenario nicht mehr zu gebrauchen ist."

"Ich habe es auf dem Monitor gesehen. Shinji und Rei scheinen sich näherge-
kommen zu sein."

"Soweit hätte es nie kommen dürfen. Ich hätte nie auf Akagi hören sollen..."

"Ikari, Rei kann immer noch Einheit-00 steuern."

"Aber wenn sie zuviele... zu starke Emotionen entwickelt, wird sie sich nicht
an der Endphase des Szenarios beteiligen."

"Was haben Sie vor, Ikari?"

"Rei ist ersetzbar."

"Ikari..."
Entsetzen stand auf Kozo Fuyutsukis Gesicht.

Gendo starrte über den Grat seiner gefalteten Hände hinweg auf den Haupt-
bildschirm...


***


Misato betrat Ritsuko Akagis Büro.
"Du wolltest mit mir sprechen, Ritsuko?"

"Ja..."
Ohne weitere Worte schob Akagi dem Major eine Akte über den Tisch.

"Was ist das? Reis medizinische Unterlagen?"

"Lies den letzten Bericht. Er ist von heute vormittag, gleich nachdem wir sie aus
EVA-01 geholt hatten."

"Ja... Physischer Zustand... Oh, mein Gott... Ritsuko, hast du das überprüft?"
Misato wurde blaß.

"Dreimal. In diesem frühen Stadium ist eine Fehldiagnose zwar noch möglich,
aber die Wahrscheinlichkeit, bei drei Tests falschzuliegen..."

"Damit habe ich nicht gerechnet..."

"Ich irgendwie schon, Misato."

"Kann Rei jetzt überhaupt noch EVA-00 steuern?"

"Sie ist erst im zweiten Monat, ich würde sagen, daß ihr Zustand sich erst in
einem Vierteljahr auf ihre Synchronisationsrate auswirken dürfte. Ich werde
natürlich einige Veränderungen an der LCL-Mischung vornehmen müssen..."

"Ritsuko, du solltest dich selbst hören... wir reden hier von einem fünfzehnjäh-
rigen Mädchen, keiner Laborratte. Können wir es moralisch überhaupt ver-
antworten..."

"Misato, komm mir nicht mit Moral! Du hast auch keinen Widerspruch dage-
gen eingelegt, ein paar Kinder überhaupt in die EVAs zu stecken und in den
Kampf zu schicken."

"Ja... Du hast recht... das habe ich nicht... das habe ich in meiner Feigheit nicht
getan..."

"Hm. Wer sagt es dem Kommandanten, daß sein wertvolles First Children von
seinem Sohn geschwängert wurde?"

"Bist du sicher, daß Shinji..."

"Ich sagte schon, daß es in diesem Stadium noch Unsicherheiten gibt, aber du
hast die beiden selbst gesehen, wer weiß, wielange die beiden schon... erinnere
dich nur an deine Party nach deiner Beförderung. Du wolltest ihm doch die Sa-
che erklären."

"Habe ich auch..."


***


"Schwanger?" brüllte Gendo Ikari.

Misato zog den Kopf zwischen die Schultern, während Ritsuko einen Schritt
zurückwich.
"Ja, Sir."

"Wie konnte das passieren, Major? Warum haben Sie das zugelassen? Ich
hatte Rei Ihnen anvertraut, und jetzt?"
Er fegte einen Stapel Akten von seinem Schreibtisch, darunter Reis Befund,
und stand auf, funkelte die beiden Frauen durch die dunklen Gläser seiner Bril-
le an.
"Gehen Sie mir aus den Augen, alle beide! Ich werde mir später überlegen,
welche Folgen Ihr... Versagen haben wird..."

Katsuragi und Akagi ergriffen die Flucht.

Gendo ballte die Fäuste, schlug gegen die massive Tischplatte, bis seine
Hand vor Schmerz taub war.

"Ikari..." flüsterte Fuyutsuki.

Er blickte auf.
"Das Szenario bricht auseinander. Wir müssen Rei durch einen neuen Klon
ersetzen."

"Das kann nicht Ihr Ernst sein."

"Warum nicht? Die Erfüllung der Prophezeiung hat Vorrang."

"Es ist das Kind Ihres Sohnes... Ihr Enkel, oder Ihre Enkelin..."

"Das Opfer muß sein."

"Nein." Fuyutsuki sah Gendo direkt in die Augen. "Tun Sie das nicht. Werfen
Sie nicht den letzten Rest Menschlichkeit fort, den Sie noch besitzen. Wollen
Sie ihr am Tag der Prophezeiung tatsächlich mit dieser Schuld gegenübertre-
ten?"

"Fuyutsuki, ich... Das Szenario..."

"Die Endphase kann warten. Fünfzehn Engel wurden prophezeit, drei werden
noch erscheinen."

"Und die alten Männer? Sie werden eine Verzögerung nicht hinnehmen... an-
dererseits könnten wir ihnen sicher einen Grund geben, eine Veränderung des
Planes zu akzeptieren... die Schriftrollen bieten immer noch Platz für Auslegun-
gen..."

"Gut, Ikari. Also werden Rei und das Kind leben?!"

"Ja."
Er stützte sich an der Tischkante ab.
"Ich werde Großvater..."


***


Rei kehrte in Begleitung Misatos in das gemeinsame Apartment zurück.
"Warum ist Shinji nicht gekommen?"

"Er hat viel zu tun, Rei." Misato grinste. "Er war jeden Tag im Hangar."

"Ich... weiß..."

"Ja?"

"Ich glaube..., ich habe seine Gegenwart spüren können. Es war wie ein Licht
in der Dunkelheit."

"Ihr seid euch wirklich sehr nahe gekommen."

"Ja."

"Der Kommandant war nicht gerade erfreut darüber."

"Ich weiß."

"Gut... nein, nicht gut. Warum konntet ihr nicht die Finger voneinanderlassen?"

"Nachdem... nach der Sache mit Suzuhara-kun... das Leben kann jederzeit
enden..."

"Ich glaube zu verstehen..."

Sie erreichten die Wohnungtür, diese wurde von innen aufgerissen, in der Tür
stand Shinji und winkte die beiden hinein. Misatos Grinsen wurde noch größer.

Im Korridor hing ein Transparent mit der Aufschift ´Willkommen zurück, Rei!´,
und genau dies riefen Asuka, Touji, Hikari und Kensuke, die wie auf ein gehei-
mes Kommando hin die Köpfe aus den verschiedenen Zimmern streckten und
in den Korridor traten.

Shinji nahm Rei in den Arm, wiederholte den Willkommensgruß in ihr Ohr
flüsternd.

Rei lächelte, löste sich von ihm, umarmte jeden der Anwesenden kurz, verharrte
bei Touji.
"Suzuhara-kun..."

Touji grinste, hob den linken Arm.
"Sie haben mir die Prothese vor drei Wochen angepaßt, fühlt sich fast wie das
Original an."
Demonstrativ beugte und streckte er den Arm, ballte und öffnete die Faust,
legte dabei ganz beiläufig den rechten Arm um Hikaris Schultern.
"Ohne den Zuspruch unserer Klassensprecherin hätte ich es vielleicht nicht ge-
schafft."

"Uhm..." machte Hikari und lächelte verlegen.


***


Die Party war zu ende, die Gäste gegangen, Asuka bereits in ihrem Zimmer
verschwunden.
Nur Shinji, Rei und Misato hielten sich noch im Wohnzimmer auf, Shinji hielt
Reis Hand.

Misato stand auf, drückte den Rücken durch.
"Ah, Zeit schlafenzugehen."

"Uhm, ja." murmelte Shinji, wechselte einen langen Blick mit Rei, ließ ihre Hand
los, gab ihr einen Kuß auf die Wange und ging auf sein Zimmer.

Rei richtete den Blick zu Boden.
"Ich gehe dann auch."

"Warte, Rei", flüsterte Misato. "Hör zu, ich weiß, was mit dir ist..."

Rei sah auf, Überraschung zeichnete sich auf ihre Zügen ab.
"Wovon..."

Misato beugte sich vor, legte die Hand auf Reis Bauch.
"Ich rede davon."

"Sie... du weißt?"

"Ritsuko hat dich untersucht und auf eine Schwangerschaft getestet. Wie ich
schon sagte, der Kommandant war nicht sehr erfreut."

"Das... das..."
Rei begann zu schluchzen.
"Jetzt bin ich für ihn nutzlos... er wird mich ersetzen..."

Misato wußte nicht, was sie wirklich meinte, spürte nur die Verzweiflung, so
daß sie sich neben Rei setzte und diese in den Arm nahm.
"Ich bin für dich da."

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis Rei reagierte.
"Danke..."

"Shinji weiß es noch nicht, oder?"

"Nein, ich hatte noch nicht die Gelegenheit."

"Du mußt es ihm sagen."

"Ja. Wie wird er reagieren?"

"Ich weiß es nicht... Der alte Shinji, so wie ich ihn kennengelernt habe, ist vor
Problemen weggelaufen. Aber jetzt ist er anders, und das liegt an dir... ich
glaube, er liebt dich wirklich, nicht nur dein Äußeres."

"Meine Seele..."

"Ja."

"Ich werde es ihm sagen. Darf ich...?"

"Geh nur... Und, Rei..., wenn ich in einer ähnlichen Lage gewesen wäre...
und Kaji... ah, ich will nur sagen, ich habe Verständnis..."

"Ja."
Sie erhob sich, warf einen letzten Blick zurück, nahm Misatos aufmunterndes
Nicken zur Kenntnis, ehe sie Shinjis Zimmer betrat.

Misatos Lächeln verschwand von ihren Lippen, machte Nachdenklichkeit Platz...


***


"Rei-chan?" flüsterte Shinji, als das blauhaarige Mädchen in sein dunkles Zim-
mer kam.

"Ja, ich bin es. Shinji, wir müssen reden."
Sie war völlig ernst.

"Uh, ja, warte."
Er schaltete die Nachttischlampe ein, rutschte zur Seite.

Rei setzte sich auf die Bettkante, blinzelte dann, ehe sie sich neben ihm aus-
streckte.
"Shinji... liebst du mich?"

"Ja. Mehr als mein Leben."

Sie sah ihm in die Augen, fand nur Liebe und Ehrlichkeit.
"Vielleicht ändert sich das, wenn ich dir gesagt habe, was ich dir sagen muß..."

"Was, Rei-chan? Was willst du mir sagen?" fragte er erschrocken.

Wortlos nahm sie seine Hand und legte sie auf ihre Leibesmitte.

"Rei-chan?"

"Shinji..., unsere gemeinsame Nacht... bevor der Engel angriff..., sie hatte Fol-
gen..."

Er wiederstand dem Drang, die Hand zurückzuziehen.
"Wie... Rei-chan... Willst du mir sagen, daß... daß wir ein Kind bekommen?"

"Wir... du hast wir gesagt..."

"Ja... Ich hätte besser auspassen müssen..."
Er nahm sie in die Arme, streichelte ihr Haar.
"Wir... unser Kind..."

"Bereust du es?"

"Nein. Es ist nur... Ich habe nie daran gedacht... Wir sind noch jung... Ich habe
nie darüber nachgedacht, Vater zu werden... ich bin erst fünfzehn... du ebenfalls..."

Sie verkrampfte sich.
"Du willst es nicht."

"Doch, Rei-chan. Ich muß mich nur an den Gedanken gewöhnen."

"Ich hatte Furcht..."

"Ich lasse dich nicht im Stich... niemals... ich hatte Angst, dich verloren zu ha-
ben, als EVA-01 dich absorbiert hat, doch nun bist du zurück... seid ihr zu-
rück..." Er legte eine Hand flach auf ihren Bauch.

Sie küßte ihn auf die Lippen, zerwühlte sein Haar.


***


Misato stand im dunklen Korridor vor Shinjis Tür und lauschte. Erleichte-
rung machte sich in ihr breit, als sie ein leises langzogenes Stöhnen hörte,
wenn auch nur kurz, denn dann wurde sie sich zum einen wieder der Bri-
sanz der Lage und zum anderen der Tatsache bewußt, daß ihre Mitbe-
wohner mehr Sex hatten, als sie selbst...


***


Am Nachmittag des nächsten Tages ließ Kaji sich von Asuka deren Handy
geben, schloß es an seinen Laptop an und wählte die erste der eingespei-
cherten Nummern an. Es dauerte eine Ewigkeit, bis am anderen Ende abge-
nommen wurde.

Larsen... Asuka?

"Nein, Commander, ich bin´s."

Ja.

"Ist die Leitung sicher?"

Ja.

"Ich schicke Ihnen die Ergebnisse meiner Nachforschungen."

Gut.

"Sir, die Lage ist ernst. Ich bitte um Unterstützung."

Ich... ich schicke Ihnen jemanden...

"Danke."
Er übermittelte die Daten.

Major, Sie benutzen Asukas Gerät.

"Ja, Sir."

Sie soll mich zurückrufen, ich muß mit ihr sprechen.

"Ich werde es Ihr ausrichten. Ist es wichtig?"

Ja. Meine Frau ist tot.

"Ich... Sir, mein Beileid."

Danke. Richten Sie es nur Asuka aus, daß ich mit ihr reden muß.


***


"Ja, Onkel..."
Asuka unterbrach die Verbindung und ließ sich auf ihr Bett fallen.


***


"Kaji?"

"Ja?"
Ryoji Kaji stellte die Gießkanne zur Seite und wandte sich seinem Besuch zu.

Shinji Ikari stand am Rand des kleinen Gartens, den Kaji angelegt hatte.
"Kann ich mit Ihnen sprechen?"

"Nur zu. - Du hast doch sonst niemandem von diesem Ort erzählt, oder?"

"Nein, das bleibt unser Geheimnis."

"Gut. Paß auf, Shinji, falls etwas passieren sollte, falls ich zum Beispiel schnell
fort müßte, könntest du dich dann um die Melonen kümmern?"

"Ich... was soll denn passieren?"

"Nichts, ich möchte nur, daß meine Arbeit nicht ganz umsonst war, wenn etwas
passieren sollte."

"Uhm, ich verstehe nicht ganz, aber ja, ich kümmere mich um Ihre Pflanzen."

"Danke. Also, was hast du auf dem Herzen?"

"Kaji... ich habe ein Problem..."

"Ui, das klingt ernst."

"Rei und ich..."

Kaji grinste.
"Zwischen euch hat es gewaltig gefunkt, nicht wahr?"

"Sie wissen...?"

"Ihr wart nicht gerade diskret... Ach ja, wenn ich noch einmal in eurem Alter sein
könnte... Die erste große Liebe, der erste Kuß..."

"Kaji, es ist ernster zwischen Rei und mir."

"Schön... dann bleiben die übrigen Frauen für mich, was?"

"Sie nehmen mich nicht ernst."

"Doch, voll und ganz, es ist nur meine Art, entschuldige."

"Nein, bitte... uhm... Kaji, ich brauche Ihren Rat... Rei ist... Wir haben..."

Kaji runzelte die Stirn.
"Ihr habt... und sie ist...?"

"Sie... Ich... ich werde Vater..."

"Ach, herje... Habt ihr denn nicht aufgepaßt?"

"N-nein."

"Hm, verstehe. Und jetzt willst du mich fragen, ob ich einen Arzt kenne, der..."

"Nein, nein!"

"Gut, das beruhigt mich."

"Ich liebe Rei... mit aller Kraft... ich habe endlich einen Grund gefunden, um
mit EVA-01 in den Kampf zu ziehen... und einen Grund zu leben... und ich
liebe unser Kind... ich weiß, es klingt seltsam, ich weiß ja nicht einmal, ob es
ein Junge oder ein Mädchen ist... aber es ist mein Kind... und Reis, wie
könnte ich es da nicht jetzt schon lieben... Aber..."

"Aber?"

"Ich habe Angst."

"Ich glaube, das ist ganz natürlich. Ihr seid beide noch jung, ein Kind stellt eine
große Verantwortung dar... und eine Belastung in diesen Zeiten... Tja, den-
noch... ich beneide dich ein wenig..."

"Warum?"

"Ich hätte auch gerne Kinder, aber mir ist bisher nicht die richtige über den Weg
gelaufen... das heißt, sie ist mir bereits begegnet, aber, hm..."

"Sie sprechen von Misato."

"Ja, Katsuragi..."

"Warum fragen Sie sie nicht einfach?"

Kaji lachte.
"Ja, warum... Vielleicht... nein, ganz bestimmt..., weil auch ich Angst habe,
Angst vor der Antwort... Angst vor einer Zurückweisung..."

"Kaji, das... Ich habe Angst davor, daß ich so werden könnte wie mein Vater,
daß ich mein Kind eines Tages im Stich lassen könnte..."



***


Gendo Ikari ließ die medizinische Akte, die Doktor Akagi ihm gebracht hatte,
sinken.
"Und das wurde überprüft?"

"Ja. Gendo, ich kann es mir selbst nicht erklären. Reis DNA-Sequenz wurde
teilweise extrem verändert, es scheint, daß EVA-01 die LILITH-DNA nicht
wieder freigegeben hat, das könnte die Probleme erklären, die wir bei der
Bergung hatten."

"Hast du keine andere Erklärung?"

"Nein, keine."
Sie schüttelte den Kopf.
"Sogar der menschliche Anteil wurde modifiziert."

"Aber, warum... Weshalb hast du diese Analyse gemacht?"

"Ich weiß, wessen Klon Rei ist... Mir ging es um den Zustand des Kindes, aber
angesichts der Veränderungen wage ich zu prognostizieren, daß es in dieser Be-
ziehung keine Komplikationen geben wird."

"Wie schwer sind die Veränderungen?"

"Reis DNA ist vor der ursprünglichen Sequenz etwa soweit entfernt, wie du von
deinem Cousin dritten Grades. Und ich habe wirklich keine Erklärung dafür."

"Ritsuko... Bevor Rei wieder eingesetzt werden kann, will ich umfassende
Tests... und das Kind muß geschont werden."

"Dann setze ich voraus, daß Rei als Pilotin ausfällt."

"Ja... wir haben sie verloren."

Ritsuko hatte Schwierigkeiten, ein zufriedenes Lächeln zu unterdrücken.
"Ich werde es berücksichtigen."

"Wie ist der Status der EVAs?"

"Einheit-01 ist auf Eis gelegt, nachdem sie das S2-Organ des Engels absorbiert
hat, sind die Meßergebnisse unsicher. EVA-01 verfügt anscheinend jetzt über
eine unerschöpfliche Energiequelle."

"Wie erwartet..."

"Einheit-00 ist wiederhergestellt, ebenso Einheit-02. Einheit-03 benötigt noch
eine Woche, bis die Schäden vollends regeneriert sind, das kontaminierte Ge-
webe war recht umfangreich."

"Ja, ja..."

"Eine seltsame Ironie... vier EVAs und nur zwei Piloten..."

"Und noch drei Engel... Du hast recht, es ist eine Ironie, oder wie würdest du
es bezeichnen, daß das Komitee uns einen neuen Piloten schicken wird?"

"Oh, als ob sie es gewußt haben..."


***


Asuka war gerade wieder in der Trainingshalle und verprügelte einen Punching-
ball, als sie über Lautsprecher aufgefordert wurde, in den Hangar zu kommen.
Kurz darauf wurde Blauer Alarm gegeben - Engelalarm...

EVA-02 war bereits einsatzbereit. Asuka wurde mit einem der neuen Scharf-
schützen-Positronengewehre ausgestattet und an die Oberfläche geschickt.

Der Engel erinnerte an einen Phönix, den legendären Feuervogel.

"Ich habe ihn im Visier." flüsterte Asuka. "Aber er ist zu weit weg."

"Du mußt Geduld haben", erklärte Misato.

"Natürlich." Sie lehnte sich zurück, starrte die Vergrößerung des Engels wü-
tend an, projizierte ihre ganze Wut auf die Erscheinung.
"Los, du lahmer Engel! Beweg dich endlich, damit ich dir eins überbraten kann!
Du bist ja langsamer als eine Schnecke!"

Es half nichts, der Engel machte keine Anstalten, seinen Standort zu wechseln.

"Misato, hast du eine Idee?"

"Ich denke nach."

"Wenn er nicht zu uns kommt, müssen wir halt zu ihm kommen."

"Aber in der Luft ist EVA-02 ungeschützt vor einem Angriff."

"Klar." Wieder blickte sie finster auf das Bild im Zielsucher. "Könnte also länger
dauern. Und keine Ablösung. Wo stecken Rei und Shinji?"

"EVA-01 ist immer noch eingefroren. Und Rei ist nicht diensttauglich."

"Ah, warum sagst du mir das erst jetzt?"

In diesem Augenblick schlug der Engel zu. Plötzlich wurde EVA-02 in grelles
Licht gebadet, das auch den Entry-Plug ausfüllte. Überlaute Musik, ein
Hallelujah aus zahllosen Kehlen, erstickte die Stimmen aus dem Lautsprecher.

Asuka preßte die Kiefer aufeinander, bis es schmerzte, kniff die Augen zusam-
men.
Der Engel war nähergekommen.
"Stirb!" brüllte sie und feuerte das Gewehr ab. Wieder zeigten sich die Positro-
nenladungen wirkungslos gegen das passive AT-Feld.
Sie hielt sich die Hände gegen die Ohren und wandte den Blick ab, doch das
Licht fraß sich direkt in ihre Seele.

"Nein!"


***


Asuka erinnerte sich...

Ihre Mutter, die sie im Arm hielt...

Ihre Mutter nach dem Zusammenbruch im Krankenhaus...

Ihre Mutter, die sie aufforderte, mit ihr in den Himmel zu kommen...

Der Schmerz, als ihre Mutter ihre Pulsadern öffnete...

Ihre Mutter, die von der Decke baumelte, der Blick gebrochen...

"Nein, ich will mich nicht erinnern!"

Ihre Tante Ann, die bleich in ihrem Bett lag, schon zu kraftlos, um
ihr zum Abschied zuzuwinken...

Ihr Onkel, der ihr mitteilt, daß ihre Tante gestorben ist...

Ein Friedhof... Das Grab ihrer Mutter...

Die tiefen Narben an ihren Handgelenken...

Blut, rotes Blut... ihr Blut...

"Nein, warum zeigst du mir das?"

Rei, der sie mehrere üble Streiche gespielt hatte...

Rei, die mit Tränen in den Augen fortlief, nachdem sie gesehen hat-
te, wie sie Shinji küssen wollte...

EVA-03, der die Hand gegen die leere Augenhöhle preßte...

EVA-03, dessen Arm abgesprengt wurde...

Touji, der ohnmächtig in seinem eigenem Blut im Entry-Plug hockte...

Toujis leere Augenhöhle, die sie vorwurfsvoll anzustarren schien...

Blut, das fontänenartig aus Toujis Schulter schießt...

"Mein Werk... ich kann nur zerstören... warum kann ich nur zerstören? Ich will
mich nicht daran erinnern!"

Wieder das Krankenhaus, wieder ihre Mutter, die mit einer Puppe
spielt, diese mit monotoner Stimme als Asuka bezeichnet...

Hände an ihrer Kehle...

Kalter Stahl an ihren Handgelenken...

Tränen...

Einsamkeit...

"Du verdammter Bastard! Warum hilft mir keiner?"

Rei, die Shinji umarmt...

Shinji, nachdem Rei zurückgekehrt ist...

Es waren gute Erinnerungen, sie hatte sich ehrlich für ihn gefreut...

"Ich muß mich daran festhalten. Es gibt nicht nur schlechte Dinge..."

Ihr Onkel, der ihr das Schießen beibringt...

Ihr Onkel, ihre Tante und sie an der Nordseeküste...

Asuka hörte sich selbst lachen...

Misato, die sie fröhlich begrüßt, als sie heimkommt...

Rei, die ihr Trost spendet...

Touji, der ihr nichts nachträgt...

Hikari, die ihr erzählt, daß sie Touji mag...

"Du bist nicht allein", flüsterte eine Stimme aus der Tiefe des
EVAs und erfüllte sie mit Mut und Zuversicht.

"Willst du das? Willst du das sehen?"
Schlagartig entluden sich die Wut und die Anspannung, die sie seit Wochen
gefühlt hatte, richteten sich gegen den Engel, der immer noch über ihr schweb-
te.

"Ich bin Asuka Soryu Langley, Tochter von Kyoko Soryu. Ziehtochter von Ann
und Wolf Lar-sen. Und momentan hat meine ganze Existenz nur den einen Zweck,
dir in den Arsch zu treten, bis dir dein Licht aus den Ohren quillt!"

Das AT-Feld von EVA-02 begann zu leuchten, bildete Stacheln wie ein Igel.
Und einer dieser Stacheln löste sich, schoß wie ein glühender Pfeil in die Höhe
und durchbohrte den Engel.

Arael erlosch...

Asuka spürte, daß all ihre Kraft sie verließ. In diesem Moment wurde sie
EVA-03 gewahr, der gerade aus einem nahegelegenen Startschacht schoß.
"Wer..." flüsterte sie schwach.

"Ich bin´s." antwortete Shinji. "Ruh´ dich aus."

Asuka verlor das Bewußtsein, nahm seine Worte mit in die Dunkelheit.


***


Als sie wieder zu sich kam, befand sie sich immer noch immer Entry-Plug, aller-
dings atmete sie frische Luft, statt LCL. Neben ihr hockte Misato und sah sie
fragend an.

"Bist du in Ordnung?"

"Glaube schon. Nur Kopfschmerzen. Wenigsten ist der Lärm vorbei..."

"Wir hatten große Sorgen um dich. Shinji ist sogar mit Einheit-03 gestartet, um
dir zu helfen..."

Asuka stemmte sich mühevoll in die Höhe, ließ sich widerspruchslos von Misa-
to ins Freie hel-fen.

EVA-02 war an Ort und Stelle zusammengebrochen, Bergungsteams waren
bereits zur Stelle.

"Wie hast du das gemacht?"

"Was?"

"Das AT-Feld offensiv einzusetzen."

"Ich war... wütend."

"Hm... das warst du schon öfter... eigentlich die ganze Zeit über."

"Jetzt spüre ich keine Wut mehr. Das letzte Mal, daß ich mich so ruhig gefühlt
habe, war vor dem Tod meiner Mutter..."

"Ritsuko möchte dich untersuchen.."

"Ja."


***


"Bist du in Ordnung?"

Asuka sah auf, Shinji stand neben ihr, er trug seine Plug-Suit. Sie nickte.
"Du bist gekommen, um mir zu helfen..."

"Ritsuko hatte Schwierigkeiten, das Steuerungsprogramm von Einheit-03 um-
zuschreiben, oder ich wäre eher dagewesen..."

"Gut."

"Was ist gut?"

"Zu wissen, daß man mich nicht geopfert hätte."

"Asuka, sprich bitte nicht so."

"Warum nicht? Du hast es nicht erlebt, in deinen Erinnerungen hat niemand
herumgewühlt."

"..."

"Geh nach Hause, geh zu ihr, Rei wartet sicher auf dich."

"Asuka, wenn du jemanden brauchst..."

Sie lächelte.
"Ich schaffe es schon. Hast du schon vergessen, ich bin Asuka Soryu Langley,
egal was kommt, ich stehe wieder auf."

"Wie du meinst. Aber du bist nicht allein."

"Ich weiß. Rei hat vor einiger Zeit fast dasselbe zu mir gesagt. Ihr beide seid
euch sehr ähnlich in gewissen Dingen."

Akagi trat auf dem Flur.
"Asuka, kommst du bitte herein?"

"Ja, sofort. - Wir sehen uns daheim, Shinji."


***


Asuka beäugte beim Essen den Bauch der neben ihr sitzenden Rei immer wieder.

"Was ist?" fragte Rei schließlich. Ihre Wangen nahmen eine zartrote Farbe an.

"Ah... Wann ist es denn soweit?" platzte es aus Asuka heraus.

Shinji verschluckte sich.

Rei wurde knallrot.
"Du weißt es?"

"Ja. Ritsuko konnte den Mund nicht halten... sie ist regelrecht am Rotieren."

Der junge Ikari hustete. Rei rutschte zu ihm um die Tischkante und klopfte ihm
auf den Rücken.

"Also, Rei, wann ist es soweit?"

"Ich... über sieben Monate wird es noch dauern."

"Moment, laß mich rechnen... Dann ist es in der Nacht passiert, bevor der Engel
in die Geofront vordrang, stimmt´s?"

"Ja." antwortete Rei und blickte zu Boden.

Asuka grinste.
"Habt ihr euch schon einen Namen überlegt?"

"Uhm, nein." kam es von Shinji.

"Also, wenn es ein Mädchen wird... Asuka ist doch ein hübscher Name, oder?"
Sie warf sich in Pose.
"Bei dem Namen würde sie sicher auch ein sehr hübsches Mädchen werden!"

Shinji und Rei starrten sie entgeistert an. Dann fing Rei an zu lachen, Shinji fiel
in ihr Lachen ein.

"He, worüber lacht ihr?"

"Es ist nur... Touji hat gestern einen ähnlichen Vorschlag gemacht", kicherte
Shinji.

"Argh, dieser vorlaute Suzuhara!"
Auch Asuka begann zu lachen.

Als alle drei endlich nach luftschnappend aufhörten zu lachen, legte Asuka
einen Arm um Reis Schultern und drückte sie fest an sich.
"Es ist sehr... unerwartet... aber, wenn du... wenn ihr Hilfe braucht, könnt
ihr auf mich zählen."

"Danke, Asuka." flüsterte Rei gerührt. "Es tut mir leid, daß ich als Pilotin ausfalle."

"Das muß es nicht."

"Ich wollte euch nicht im Stich lassen... es ist einfach passiert..."

"Ah, Rei, so ein Engel ist nichts, womit Asuka Soryu Langley nicht klargekom-
men wäre. Ich habe ihm den Arsch von hier bis nach Berlin aufgerissen."

"Gut, daß dir nichts passiert ist."

"Hm... vielleicht können wir uns nachher darüber unterhalten, ich will mir jetzt
nicht selbst die Stimmung verderben. Habt ihr beide vor, vorher..."

"Was?" fragten die beiden anderen wie aus einem Mund.

"Naja, ich weiß ja nicht, wie das hier in Japan ist, aber solltet ihr nicht vorher
heiraten?"

Shinji sah Asuka nachdenklich an.
"Uh... da ist etwas dran..."
Er wandte sich Rei zu, nahm ihre Hand.
"Rei-chan... Rei Ayanami, uh, könntest du..., du weißt, in einem halben Jahr
werde ich sechszehn und du bald ebenfalls, ah, mit Erlaubnis der Eltern..., uh,
würdest du..."

Asuka schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
"Shinji, mach´s richtig, oder gar nicht! Bei soetwas gibt´s keine halben Sachen!"

Er schluckte, blickte in Reis scharlachrote Augen.
"Rei, würdest du mich heiraten?"

Asuka stieß die angehaltene Luft aus, kam nicht umhin, breit zu grinsen, während
sie die Szene beobachtete.

Rei spürte, wie ihre Augen feucht wurden, blinzelte heftig.
"Ja..." flüsterte sie.


***


Am nächsten Tag schwebte Armisael über der Stadt.
Gendo Ikari gab Anweisung, alle verfügbaren EVAs einzusetzen, nur EVA-01
sollte eingefroren bleiben. Das System von Einheit-03 wurde auf Shinji umge-
schrieben und EVA-00 erstmals mit einem Dummy-Plug ausgestattet.

Der junge Ikari fühlte sich unwohl in der Steuerkapsel von EVA-03, viel zu stark
war die Erinnerung daran, wie Asuka und er Touji nach dem Kampf gegen den
besessenen EVANGE-LION gefunden hatten, ebenso nagte an ihm die Befürch-
tung, EVA-03 könnte wieder über-nommen oder auf andere Art und Weise sei-
ner Kontrolle entzogen werden.
Auf der anderen Seite reagierte EVA-03 ohne Probleme, er schien keine eigene
Persönlichkeit zu besitzen, wie Shinji sie manchmal bei EVA-01 festzustellen ge-
glaubt hatte.

"Asuka, wie sieht es bei dir aus?" versuchte er sich abzulenken, indem er einen
Kommunikationskanal zu EVA-02 öffnete.

"Ich... keine Probleme. Es ist nur ein seltsames Gefühl, EVA-03 wiederzusehen.
Paß auf dich auf, Shinji, ja? Ich möchte Rei keine schlechten Nachrichten überbrin-
gen müssen."

Er schluckte und fühlte sich schlecht.
"Ja..."
Soviel zur Ablenkung.

"Auf Position!" wies Misato an. "Nehmt den Engel unter Feuer, sobald er in
Reichweite kommt. Einheit-00 wird als vorgeschobener Posten fungieren und
den Feind anlocken!"

Der Plan erwies sich als perfekt, zu perfekt...

Verborgen unter einem Mantel schwarzer Schatten beobachtete der weißhaarige
Wanderer, den Blick auf den Engel gerichtet, während er mit den Hände kom-
plexe Muster in die Luft wob.
Plötzlich stolperte er einen Schritt zurück, als er das Sigil erkannte, welches die
Umbrood trug, das Sigil desjenigen, der es herbeigerufen hatte.
"Alessandro..." flüsterte er. "Also ist es dein Werk..."
Er versuchte, Kontakt mit dem Wesen aus dem Geisterreich aufzunehmen, um
mehr über seinen Ursprung und den Weg, über den er in diese Welt gelangt war,
zu erfahren. Der Geist des Engels ähnelte dem eines Kindes, das nach einem
Spielgefährten suchte.
Seine Augen weiteten sich. Mit aller Kraft, die er besaß, stieß er den Engel zurück,
bevor dieser mit seinem Geist in Kontakt kommen konnte. Dann hob er seine men-
talen Schilde zur vollen Stärke und begann zu beten...

Der Engel rotierte, suchte nach einem neuen Ziel, fand dieses in der als Köder
eingesetzten Einheit-00, stürzte sich sofort auf EVA-00 und begann, sich mit
dem organischen Material des EVAs zu verbinden. Der Entry-Plug reagierte
unregelmäßig, zugleich öffneten im Terminal Dogma die 48 verbliebenen Rei-
Klone gleichzeitig die Augen und stießen einen durchdringenden Schmerzens-
schrei aus, den jedoch niemand hörte.

"Der Engel beginnt, Einheit-00 zu übernehmen. Wir verlieren den Kontakt zum
Dummy-Plug!"
rief Misatos Taktischer Assistent, Makoto Hyuga.

"Was soll ich tun? Einheit-00 zerlegen?" fragte Asuka über Funk an.

EVA-00 torkelte mit ausgestreckten Armen auf die beiden anderen EVAs zu.
"Ich glaube, der Engel will sich jetzt EVA-02 und -03 vornehmen!" rief Ritsuko
von der wissenschaftlichen Station her.

Gendo runzelte die Stirn.
"Selbstzerstörung aktivieren."

"Sie wollen EVA-00 opfern?" fragte Misato nach.

"Tun Sie es. Die anderen beiden Einheiten sollen mit ihren AT-Feldern die Ex-
plosion dämpfen!"

Die Selbstzerstörung von EVA-00 riß den Engel mit in den Untergang und ver-
wüstete über ein Viertel der Stadt.

"Wir haben nur noch zwei einsatzfähige EVAs, solange EVA-01 auf Eis liegt",
murmelte Fuyutsuki.

"Ich weiß." Gendo faltete die Hände. "Ein weiterer Pilot wurde gefunden, er
trifft in Kürze ein."

"Warum erfahre ich das erst jetzt?"

"SEELE schickt ihn."

"Ich verstehe. Ein Spion."

"Oder schlimmeres."

"Ikari, Sie denken doch nicht etwa... Wir können kein Kind eliminieren!"


***


Der Abstieg in die Geofront war einfacher, als Winter gedacht hatte.

Die Aufräumarbeiten nach dem letzten Angriff gaben ihm Gelegenheit, ungese-
hen bis zu dem Schacht vorzudringen, den Zeruel geschaffen hatte.

Eine knappe Handbewegung ließ ihn wenige Zentimeter in die Höhe schweben,
dann tat er den Schritt in den Abgrund, schwebte langsam in die Tiefe, begleitet
von seinem Vertrauten, gehüllt in Schatten, unsichtbar für Kameras und Sensoren...