Kapitel 07 - Kaworu
Asuka war die erste, die dem neuen Piloten über den Weg lief.
Kaworu Nagisa stand irgendwie verloren vor der Sicherheitsschleuse, seinen Ausweis un-
schlüssig in der Hand. Er hatte graues Haar und albinotisch helle Haut, dazu rote Augen,
Asuka war im ersten Moment versucht, nach einer Familienähnlichkeit zwischen ihm und Rei
zu suchen. Er drehte sich ihr zu, lächelte freundlich.
"Hallo, vielleicht kannst du mir helfen... Ah, sag mal, bist du nicht Asuka Langley, das
Second Children?"
Asuka war überrascht, es war das erste Mal, daß jemand sie erkannte. Zugleich fühlte sie
sich geschmeichelt und nahm unwillkürlich eine sexy Pose ein.
"Ja, die bin ich, Pilotin von EVA-02."
"Ich bin Kaworu... Kaworu Nagisa. Ich wurde dem NERV-HQ als neuer Pilot für Einheit...
ah... Einheit-03 zugeteilt."
"Ich weiß. Freut mich, dich kennenzulernen, Kaworu."
"Die Freude ist ganz meinerseits."
Er deutete eine Verbeugung an.
"Woher kommst du?"
"Osaka-02, ich bin schon froh, es bis hierher geschafft zu haben."
"Hat dich niemand abgeholt?"
"Mein Zug... ich bin mit einem früheren Zug gekommen."
"Oh. Komm, laß uns ´reingehen."
"Danke."
Hm, er ist nett...
***
Am nächsten Tag begann die Schule wieder, die Ferien waren vorbei.
Shinji und Rei saßen nebeneinander, ihre Hände ineinander verschlungen, als könnte
nichts sie trennen.
Schräg hinter ihnen saß Touji, ein schwarzes Stück Leder verbarg die leere Augenhöhle,
die künstliche Hand, die aus dem Ärmel der Jacke seines Trainingsanzuges schaute, hatte
eine blasse Farbe. Er hielt beständigen Blickkontakt mit Hikari, die an der Tür stand
und sich für ihre Verhältnisse sehr unsicher mit ihren Freundinnen unterhielt.
Asuka trat ein, wurde bleich, als sie Touji sah und eilte mit gesenktem Blick zu ihrem
Platz.
Touji brach den Blickkontakt mit seiner Freundin, sah besorgt zu Asuka hinüber, die sei-
nen Blick scheute, sah dann zu Kensuke hinüber, der hinter ihr saß.
Aida zuckte mit den Schultern.
In die Schülerinnen an der Tür kam Bewegung, sie hasteten zu ihren Plätzen, Hikari nahm
Aufstellung neben ihrem Platz.
Der Lehrer trat ein, doch es war nicht der alte Sensei, der die Unterrichtszeit mit Er-
innerungen an den Impact verbracht hatte, sondern ein Mann mitte Vierzig mit schneeweis-
sem Haar und eisgrauen Augen, gekleidet in Hemd und Jeans, das Jackett über der Schulter,
in der anderen Hand eine Aktentasche, ein freundliches Lächeln auf den Lippen, kein Ja-
paner, sondern ein Europäer.
Hikari erfüllte ihre Pflicht als Klassensprecherin, indem sie die Klasse aufstehen, sich
verbeugen und wieder setzen ließ.
Der neue Lehrer stellte seine Tasche auf seinem Tisch ab und hängte das Jackett über den
Stuhl.
"Guten Morgen. Euer bisheriger Lehrer ist vorzeitig in Pension gegangen, ich bin über-
gangsweise für euch zuständig. Mein Name ist Winter diArgio."
Er schrieb seinen Namen in Hiragana an die Tafel.
"Falls das zu schwierig erscheint, genügt auch einfach Sensei als Anrede. So, jetzt wüß-
te ich gerne, welcher Stoff zuletzt durchgenommen wurde. Klassensprecherin..." er sah
auf seine Liste, "Hikari Horaki..., würden Sie mich bitte informieren?"
Hiraki stand auf.
"Ja, Sensei. Bisher haben wir die Ereignisse des Second Impact durchgenommen."
"Und sonst?"
"Uhm..."
Er lächelte, berührte seinen Hals.
"Wenn ich nicht laut genug spreche, müßt ihr mir das sagen, meine Stimme ist leider nicht
mehr, was sie einmal war."
"Nein, das ist es nicht, aber es war unser einziges Thema."
"Oh... Na, dann müssen wir wohl etwas improvisieren... Wie wohl jeder hier inzwischen be-
merkt hat, komme ich nicht von hier, ich denke, wir knüpfen an dem alten Stoff an, neh-
men aber die ersten Jahre nach dem Impact durch, das heißt, die Jahre des Krieges und
des Wiederaufbaues."
Shinjis Bildschirm blinkte auf, er hatte eine Nachricht.
Kommt er dir auch bekannt vor? - Kensuke
Irgendwie schon.
Und sogar der Name, wie der Zauberer aus diesem Anime.
Du siehst dir sowas an?
Äh... Forschungszwecke.
Ja.
Seltsamer Zufall. Er flüstert sogar genauso.
Vielleicht...
Shinji bemerkte den Schatten, der auf ihn fiel, dann die Stille im Raum.
Er sah auf, der neue Lehrer stand direkt vor ihm.
"Uhm..."
"Mister... Ikari, richtig?"
"Ja..."
Er sprang auf.
"Falls Sie kein Interesse an meinem Unterricht haben, möchte ich Sie wenigstens bitten,
zumindest so zu tun."
"Uhm... Sensei, es tut mir leid. Ich werde jetzt..."
"Gut."
Der Lehrer drehte sich um und kehrte zu seinem Pult zurück.
Der weitere Unterricht verlief ohne Zwischenfälle. Sensei diArgio gestaltete ihn interes-
sant und relativ lebhaft, eine willkommene Abwechslung von den Monologen des alten Leh-
rers, die Krönung war jedoch, daß er keine Aufgaben für den nächsten Tag aufgab.
***
"Sag mal... kam dir der neue... Lehrer auch... bekannt vor?" stieß Shinji zwischen den
heißen und tiefen Küssen hervor, die er und Rei austauschten, die beiden saßen auf der
Couch, das heißt, Rei saß auf seinem Schoß und hatte die Arme um seinen Hals geschlungen,
während er die Arme um ihre Leibesmitte gelegt hatte.
"Irgendwie... schon..."
"Kensuke hat..."
"Jetzt denkst du an Kensuke?" fragte sie mit gespielter Entrüstung.
"Nein..." flüsterte er und ließ sich mit ihr zurückfallen.
***
Winter öffnete die Tür des kleinen Apartments, welches er in Tokio-03 bezogen hatte, noch
ehe sein Besuch geläutet hatte.
"Tretet doch ein, Bruder Shan."
"er junge Mönch verbeugte sich knapp mit unbeweglicher Miene, blickte kurz auf das Siegel
über der Tür.
"Ich fühle mich geehrt, daß Ihr mir erlaubt, Euer Sanktum zu betreten, Magus."
Er trug Jeans und ein lose fallendes T-Shirt, wodurch er sich kaum von der breiten Masse
abhob.
"Der Älteste schickt mich."
"Natürlich."
"Ich soll Euch helfen."
Winters Augenbrauen wanderten in die Höhe.
"Tatsächlich... dann muß die Lage noch ernster sein, als ich gedacht habe, wenn die Bru-
derschaft ihren ohnehin kaum noch vorhandenen Nachwachs riskiert..."
"Der Älteste hat mit den Ahnen gesprochen."
"Er hatte Kontakt zu jenen auf der anderen Seite des Sturmes?"
"Ja, durch das Akasha."
"Verstehe... Hm, ich kann Euch momentan nicht brauchen, deshalb möchte ich Euch bitten,
als Bote zwischen mir und dem Abt zu fungieren."
Der andere nickte.
"Habt Ihr Fortschritte gemacht?"
"Ich bin bis in die Geofront vorgedrungen. Die Chi-Ströme enden alle unterhalb der Pyra-
mide des NERV-Hauptquartiers, ich vermute, daß zumindest ein Teil der Energie benutzt
wird, um die EVANGELIONs zu betreiben."
"Wir vermuteten bereits nach dem ersten Einsatz dieser... Wesen, daß es Konstrukte aus
Wissenschaft, Technik und Magick sind."
"Die nähere Beobachtung bestätigt das, ich halte sie für das Werk eines Sohnes des Äther,
fragt den ehrwürdigen Abt bitte, ob die Bruderschaft noch Kontakte zu den Technomanten
hat."
"Das werde ich, Magus."
"Danke.
"Allerdings weiß ich, daß es nicht mehr sehr viele Angehörige dieser Tradition in Japan
gibt. Seit dem Tod Doktor Yui Ikaris vor zehn Jahren haben sie niemanden mehr rekrutiert,
soweit mir bekannt ist."
"Ikari?"
"Ja, unseren Informationen nach hat sie den Grundstein für das Projekt: EVANGELION ge-
legt, konnte die Früchte ihrer Arbeit aber nicht mehr ernten."
"Hm. Leider konnte ich nicht weiter vordringen ohne den Einsatz von Vis, die Sicherheit
in der Nähe der Pyramide ist viel zu hoch. Meine Magie funktioniert nicht gerade gut in
der Gegenwart von zuviel Technik."
"Ja."
"Während des letzten Angriffes konnte ich die Identität desjenigen, der die Umbrood zur
Erde gerufen hat, in Erfahrung bringen."
"Wer ist es?"
Winters Gesicht verdunkelte sich.
"Mein Sohn..."
"Euer..."
"Nicht durch die Bande des Blutes, wohl aber aufgrund der hermetischen Tradition... er
ist ein gescheiterter früherer Lehrling, der sich dem Pfad der Nephandi zugewandt hat
und nun den Mächten der Finsternis dient."
"Der Älteste muß es erfahren..."
"Ja, sagt es ihm. Und sagt ihm, daß ich die Traditionen bald zu den Waffen rufen werde..."
Shan sah in das Gesicht des anderen, sah weder Gefühle, noch Gnade, nur Entschlossenheit,
sah sich dem General des Erleuchtungskrieges gegenüber.
Der Ausdruck auf dem Gesicht des Magiers veränderte sich nicht, als er fortfuhr.
"Ich habe mir eine neue Identität als Lehrer geschaffen, um mit den Piloten der EVAs in
Kontakt zu kommen, dabei habe ich etwas interessantes entdeckt... etwa zwanzig potentiel-
le Lehrlinge..."
"Lehrlinge? Und in dieser Zahl?"
Shans Augen weiteten sich.
"Ist es mir doch gelungen, Euch zu überraschen?! Ja, die drei Piloten und ihre Mitschü-
ler stehen allesamt kurz vor dem Erwachen, es würde ein kleiner Anstoß genügen... Und wie
es scheint, wurden diese Kinder absichtlich zusammengebracht, denn ansonsten habe ich nur
wahre Schläfer unter den Schülern gefunden."
"Ich... ich muß es dem Abt mitteilen. Zwanzig Lehrlinge..."
"Genug, um die Zukunft der Bruderschaft zu sichern... genug, um zwei, nein, drei Tradi-
tionen mit frischem Blut zu versorgen. Shan-san, im Namen des Hermetischen Ordens muß ich
Ansprüche auf einen Teil der Lehrlinge anmelden, ich darf eine solche Chance nicht igno-
rieren."
"Ja..."
Der Mönch klang eiskalt, dennoch fröstelte er, denn im Raum herrschten Temperaturen nahe
dem Gefrierpunkt, Ausgangspunkt der Kälte war der Weißhaarige.
"Ich werde dem Abt Eure Nachricht überbringen."
"Tut das. Ich bin sicher, er wird meine Gründe verstehen."
***
Shinji befand sich in der Umkleidekabine und legte gerade seine Plug-suit an.
Von der anderen Seite der Trennwand kam ein leises fröhliches Summen.
"Asuka?"
Das Summen brach ab.
"Ja?"
"Du scheinst so fröhlich."
"Bin ich auch. Hast du den neuen Piloten schon kennengelernt - Kaworu?"
"Nein. Wie ist er denn so?"
"Ganz nett, ich habe ihm gestern die Stadt gezeigt."
"Ach, deshalb bist du erst so spät heimgekommen."
"Oh, habt ihr auf mich gewartet?"
"Uhm, ja."
"Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich Bescheid gesagt... aber ich dachte, ihr wärt ander-
weitig beschäftigt."
In diesem Moment war er froh über die Trennwand, wurde er doch knallrot.
"Uhm..."
"Vielleicht könnten wir mal etwas zusammen unternehmen, alle vier, meine ich."
"Hm, ja, das..."
"Pilot Ikari bitte zum Büro des Kommandanten, Pilot Ikari bitte..." hallte es aus dem
Lautspre-cher unter der Decke.
Shinji versteifte sich, holte laut hörbar Luft.
"Oje, jetzt kommt das große Donnerwetter..." murmelte Asuka.
"Ich... ich gehe dann... Falls etwas... passieren sollte..."
"Wovon redest du?"
"Ich... ah..."
Er hatte Angst, entsetzliche Angst...
***
Sein Vater starrte ihn über den Grat seiner gefallteten Hände finster an.
Shinji stand vor dem breiten Schreibtisch des Kommandanten und hatte Mühe, seine Knie
davon abzuhalten zu zittern.
"Vater, du wolltest mich sprechen?" preßte er schließlich hervor, als die Stille fast
schmerzhaft wurde.
"Ja. Ich weiß von dir und Rei... Und von ihrem Zustand."
"Uhm... ja..."
"Weißt du eigentlich, was du getan hast?"
"Vater, ich liebe sie und ich..."
"Und was? Du bist noch nicht einmal sechszehn, ebensowenig wie Rei. Glaubst du, ich habe
mich ihr ganzes Leben lang um sie gekümmert, nur damit du..."
"Ach ja? Gekümmert? Ich habe gesehen, wie sie gewohnt hat. In ein Loch gesteckt hast du
sie! Und was war mit mir? Nein, Vater, nicht diesesmal... Ich liebe sie... ich stehe zu
ihr... und zu unserem Kind. Und ich werde sie heiraten."
"Heiraten?" wiederholte Gendo, überrascht von der Ruhe und gleichzeitigen Leidschaft, mit
der Shinji sprach.
"Ja, so wie es sein muß, so wie ich es will, egal ob mit oder ohne deine Erlaubnis."
"Shinji, wovon redest du?" flüsterte Gendo, sichtlich verwirrt nach dem Ausbruch seines
Sohnes. Vor ihm stand kein verschüchterter Junge mehr, den er beeinflussen konnte, viel-
mehr sah er sich selbst, oder das, was er einmal gewesen war, das, was Yui in ihm gesehen
hatte...
"Ich rede davon, Vater, daß es an dir liegt, ob dein Enkel ehelich oder unehelich geboren
wird, das ist alles. Und denke nicht einmal daran, Rei und mich trennen zu wollen..."
Der ältere Ikari nickte nur.
"Ich... Du kannst gehen."
"Ja."
Shinji wandte sich zum Gehen.
"Warte."
Der Junge hielt inne. In der Stimme seines Vaters lag nicht die gewohnte Kälte, nicht die
übliche Härte.
"Was?"
"Ich wollte nur sagen, daß... ich werde euch keine Steine in den Weg legen."
"Gut."
"Und... es wird nur noch ein Engel kommen, dann ist es vorbei."
"Nur noch ein Engel? Ein Gegner noch, und dann sind wir frei?"
"Ja, mein Sohn."
"Danke, Vater."
***
Als er das Büro verlassen hatte, lehnte Shinji sich gegen die Wand und schnappte nach
Luft, starrte dabei auf seine zitternden Hände.
Er hatte sich seinem Vater widersetzt, hatte Stärke bewiesen... für Rei, für ihr Kind...
***
"Professor..."
"Ja, Ikari?"
"Bald ist es vorbei."
"Ja, Ikari."
"Yui wird frei sein... nur noch ein Engel, der Engel des freien Willens, der Dunkle Ge-
lehrte."
"Ah, sind Sie sicher, daß dies die korrekte Übersetzung ist? Der Text ist in diesem Teil
etwas unvollständig."
"Die Prophezeiung spricht von siebzehn Engeln und dem Engel der Menschheit, wer sonst
sollte der Dunkle Gelehrte sein, als der letzte Engel?"
***
Im Katsuragi-Haushalt hatten erneut Umräummaßnahmen stattgefunden, Asuka war in Shinjis
Zimmer umgezogen, während dieser und Rei nun den größeren der beiden Räume bewohnten.
Misato sah keinen Sinn darin, dies zu untersagen, sonst hätte sie entweder einen der
beiden aus dem Apartment werfen oder selbst auf dem Flur Nachtwache halten müssen. Außer-
dem war der Schaden schon angerichtet, wie Kaji es in ihren Augen recht treffend erklärt
hatte, als er erschienen war, um mit anzufassen.
Ferner rückte Shinjis sechszehnter Geburtstag näher und Misato verschwor sich mit Asuka,
wie man den jungen Ikari mit einer Party überraschen konnte.
Asuka hatte sich in den vergangenen Wochen mit Kaworu angefreundet und schwebte in der
Regel im Siebten Himmel, allerdings hatte bei ihr Misatos vorbeugende Predigt gewirkt.
Reis Zustand wurde langsam offensichtlich und ließ sich nicht mehr unter der Kleidung ka-
schieren. Ritsuko Akagi untersuchte sie regelmäßig, konnte aber keine Komplikationen
feststellen.
Seit dem Angriff Zeruels waren sieben Monate vergangen, jeden Tag hoffte Shinji, der
letzte Engel möge auftauchen, damit die Sache endlich ein Ende fände. Er war so moti-
viert, wie nie zuvor in seinem Leben. In den letzten Wochen war er seinem Vater mehrmals
über den Weg gelaufen, Gendo Ikari hatte sich zwei-, dreimal nach Reis Zustand erkundigt
und ihm beim letzten Mal ein von ihm unterschriebenes Dokument gezeigt, demnach er Rei,
deren Vormund er immer noch war, erlauben würde, ihn nach Vollendung ihres sechszehnten
Lebensjahres zu ehelichen. Allgemein hatte Shinji das Gefühl, daß die Beziehung zu seinem
Vater besser wurde...
***
"Ahhh..."
Rei drückte den Rücken durch, die Wölbung ihres Bauches war deutlich erkennbar.
Shinji fuhr sanft mit der Hand über ihren Bauch und plazierte einen leichten Kuß oberhalb
ihres Nabels.
"Leg dich wieder hin, Geliebte, es ist noch früh", erklärte er, während er in seine Hosen
stieg.
"Nein, ich komme mit ins Hauptquartier... Der Kommandant wollte mit mir sprechen."
"Vater... So..."
"Mach dir keine Sorgen, ja?"
"Ja."
Misato fuhr die beiden und Asuka, beachtete dabei sogar Geschwindigkeitsbegrenzungen und
Verkehrsregeln. Als sie die NERV-Pyramide erreichten, heulten gerade die Sirenen auf
- Engel-Alarm...
***
Zwei große Raben folgten Misatos Sportwagen, der eine schneeweiß, der andere raben-
schwarz. Als das Auto auf einen Zug aufgeladen wurde, ließen sie sich dahinter nieder.
Während Tymael sein Gefieder putzte, stand sein Herr völlig still.
So gelangte Winter diArgio in das Hauptquartier von NERV...
***
"Was ist passiert?" rief Misato, als sie vor dem Zugangstor zum EVA-Hangar ankam, die
drei Children, darunter eine keuchende Rei mit rotangelaufenden Gesicht, im Schlepptau.
Akagi dirigierte Hyuga und Aoba, welche mit Schweißgeräten die Panzertür bearbeiteten.
"Wir sind ausgesperrt worden, die Elektronik hat völlig versagt, das ganze Computersystem
ist lahmgelegt."
"Und der Engel?"
"Die MAGI haben ein blaues Muster im Hangar entdeckt."
"Gottverdammt... Zwischen uns und den EVAs..."
"Nagisa war im Hangar..."
"Kaworu!" rief Asuka erschrocken. "Hoffentlich ist er in Ordnung!"
"Asuka", Ritsuko wandte sich dem Rotschopf zu, "es war nur Kaworu im Hangar... Wahr-
scheinlich ist er der Engel!"
"Nein! Das kann nicht sein! Kaworu kann kein Engel sein..." flüsterte Asuka. "Ich muß
dort ´rein, bestimmt ist er in Gefahr!"
Da erschütterten kräftige Schläge das Tor von der anderen Seite.
"Weg von der Tür!" schrie Misato und stieß Asuka zur Seite.
Shinji packte Rei und schob sie hinter sich, während Makoto und Shigeru zur Seite haste-
ten.
Das Tor flog aus den Angeln.
EVA-03 schob sich durch die Öffnung. Und vor ihm schwebte Kaworu Nagisa...
"Kaworu!" schrie Asuka.
Der grauharrige Junge sah sie kurz an, sagte dann mit einer Stimme, die wie aus einer
tiefen Gruft zu kommen schien:
"Versucht nicht, uns aufzuhalten!"
Das Gespann aus EVA und Engel wandte sich dem Zentralen Schacht zu.
Misato starrte ihnen mit weitausgerissenen Augen hinterher, fing sich dann.
"Asuka, nimm EVA-02 und folge ihm!"
"Kaworu... er ist... wieso?" flüsterte Asuka und Tränen liefen über ihre Wangen. "Ich
dachte... er wäre mein Freund..."
Misato ergriff sie an den Schultern.
"Asuka, nimm dich zusammen! Wenn du ihn nicht aufhälst, ist alles vorbei, verstehst du?"
"Ich... ja..."
Sie zog die Nase hoch, preßte die Lippen zusammen und rannte in den Hangar, auf die rote
EVA-02-Einheit zu.
Aus einem Seitenkorridor erschien Gendo Ikari.
"Ich bin bereits über die Lage informiert. Der Engel darf das Terminal Dogma nicht er-
reichen."
"Ja, Kommandant", bestätigte Misato.
"Einheit-01 wird sofort aufgetaut. - Shinji, bist du bereit?"
"Ich..." Er warf Rei einen kurzen Seitenblick zu, wußte, daß er einen Grund hatte, um zu
kämpfen, nickte. "Ja, Vater."
"Gut, tut euer Bestes."
"Vater..."
"Viel Glück."
Shinji nickte noch einmal, drückte Reis Hand und folgte dann Asuka.
Gendo Ikari wandte sich an Rei.
"Komm mit."
"Wohin?"
Ihre Frage überraschte ihn, war er es doch gewohnt gewesen, daß sie seine Anweisungen so-
fort befolgte.
"Ins Terminal Dogma... es tut mir leid..."
Und es klang ehrlich...
***
EVA-02 war EVA-03 in den Schacht gefolgt, kurz darauf hatte EVA-01 den Hangar verlassen,
seine Panzerung war noch immer von Raureif bedeckt und seine Bewegungen steif, doch auch
er war in den Schacht geklettert. In dem ganzen Chaos hatte niemand die beiden Rabenvögel
bemerkt, die in eleganten Kreisen ebenfalls in die Tiefe hinabstiegen.
Gendo brachte Rei zu seinem persönlichen Expreßlift, der einzigen Verbindung zum Terminal
Dogma neben dem Zentralen Schacht. Während sie darauf warteten, daß sich die Türen öffne-
ten, erklangen Schüsse.
Männer in schwarzer Tarnkleidung stürmten das NERV-Hauptquartier, schossen jeden nieder,
der sich ihnen in den Weg stellte.
Die Lifttüren glitten auf, gleichzeitig kamen drei der Eindringlinge auf Ikari und Rei
zu.
"Paß auf dich und das Kind auf", flüsterte Gendo und stieß Rei in die Liftkabine hinein,
wandte sich dann den Bewaffneten zu, ihnen mit seinem Körper die Sicht auf das Mädchen
nehmend.
"Komman..." Reis Ruf wurde durch das Schließen der Türen unterbrochen.
***
In seinem Büro lud Major Ryoji Kaji seine Dienstwaffe und eine weitere Pistole, während
er auf den Bildschirmen das Vordringen der Eindringlinge beobachtete.
"Schlauer Plan... Erst legt Nagisa die Sicherheits- und Überwachungssysteme lahm, dann
lenkt er die Wachen ab und lockt die EVAs in den Schacht, während mehrere BlackOps-Teams
in das Hauptquartier eindringen... wirklich schlau... es hat also begonnen..."
Das einzige, womit die Eindringlinge nicht gerecht hatten, waren die zahlreichen Kameras,
die Kaji in der Anlage zusätzlich installiert und mit dem MAGI-Rechner Melchior verbunden
hatte, auf den er seit dem Angriff des Computervirus-Engels einen direkten Zugriff besaß.
Kaji steckte seine Dienstwaffe ins Schulterhalfter und die andere Pistole in den Hosen-
bund, setzte sich dann sein Headset auf.
"Melchior?"
Bestätige.
"Halt mich über die Bewegungen der Eindringlinge auf dem Laufenden."
Bestätigt.
Dann kletterte er auf seinen Stuhl, streckte sich zur Decke und entfernte eines der
quadratischen Elemente, zog sich in den darüberliegenden Hohlraum und setzte das Decken-
element dann wieder ein, machte sich auf seinen Weg durch das Labyrinth der Wartungs-
schächte in der Pyramide.
***
ODIN-Hauptquartier
Wolf Larsen schloß die Augen, als vor ihm auf dem Tisch eine rote Lampe aufleuchtete.
"Was hat das zu bedeuten?" fragte sein Besucher und drückte seine abgebrannte Zigarette
aus.
"Direktor Kiehl hat soeben meinen Zugang zu HEIMDALL und meine Kommandocodes sperren las-
sen." Er betätigte einige Schalter unter dem Tisch. "Wie ich es mir dachte, das Telephon
ist tot, ebenso die Gegensprechanlage ins Vorzimmer..."
Der Mann mit der gelbstichigen Haut trat vorsichtig ans Fenster und warf einen Blick nach
draußen.
"Sie haben die Kinder von der Wiese geholt..."
Mit einer schnellen Bewegung ließ er die lichtdurchlässigen Rollos nach unten sausen, um
Scharfschützen die Sicht zu nehmen.
"Ich schätze, daß in spätestens fünf Minuten ein Killerkommando in dieses Büro stürmt.
Sie sollten verschwinden."
Der andere zündete sich eine neue Zigarette an.
"Nein."
"Sind Sie sicher?" fragte der Cyborg, während er seine Waffe aus der obersten Schublade
seines Schreibtisches holte und ein letztes Mal das Magazin überprüfte.
"Ganz sicher." erwiderte der andere und holte seinen eigenen Revolver heraus, legte ihn
auf den Tisch.
"So habe ich es mir vorgestellt, wenn einmal der Tag kommt... Sie wissen schon, nicht im
Bett an Altersschwäche oder einer Krankheit sterben, sondern aufrecht in den eigenen
Stiefeln."
"Verstehe. Ich denke, das ist Kiehls Reaktion darauf, daß ich die Raben ODINs ausge-
schickt habe, um die Mitglieder von SEELE zu eleminieren."
"Sie haben sich also entschieden."
"Ich konnte nicht anders. Der Plan SEELEs würde mich vielleicht wieder mit meiner Frau
zusammenbringen, aber was ist mit all den anderen Menschen, Menschen, die zu schützen ich
einen Eid geleistet habe?! - Sie hingegen können immer noch gehen."
"Nein. Auch ich habe diesen Eid geleistet, vor vielen Jahren..."
Und so erwarteten sie ihre Mörder...
Asuka war die erste, die dem neuen Piloten über den Weg lief.
Kaworu Nagisa stand irgendwie verloren vor der Sicherheitsschleuse, seinen Ausweis un-
schlüssig in der Hand. Er hatte graues Haar und albinotisch helle Haut, dazu rote Augen,
Asuka war im ersten Moment versucht, nach einer Familienähnlichkeit zwischen ihm und Rei
zu suchen. Er drehte sich ihr zu, lächelte freundlich.
"Hallo, vielleicht kannst du mir helfen... Ah, sag mal, bist du nicht Asuka Langley, das
Second Children?"
Asuka war überrascht, es war das erste Mal, daß jemand sie erkannte. Zugleich fühlte sie
sich geschmeichelt und nahm unwillkürlich eine sexy Pose ein.
"Ja, die bin ich, Pilotin von EVA-02."
"Ich bin Kaworu... Kaworu Nagisa. Ich wurde dem NERV-HQ als neuer Pilot für Einheit...
ah... Einheit-03 zugeteilt."
"Ich weiß. Freut mich, dich kennenzulernen, Kaworu."
"Die Freude ist ganz meinerseits."
Er deutete eine Verbeugung an.
"Woher kommst du?"
"Osaka-02, ich bin schon froh, es bis hierher geschafft zu haben."
"Hat dich niemand abgeholt?"
"Mein Zug... ich bin mit einem früheren Zug gekommen."
"Oh. Komm, laß uns ´reingehen."
"Danke."
Hm, er ist nett...
***
Am nächsten Tag begann die Schule wieder, die Ferien waren vorbei.
Shinji und Rei saßen nebeneinander, ihre Hände ineinander verschlungen, als könnte
nichts sie trennen.
Schräg hinter ihnen saß Touji, ein schwarzes Stück Leder verbarg die leere Augenhöhle,
die künstliche Hand, die aus dem Ärmel der Jacke seines Trainingsanzuges schaute, hatte
eine blasse Farbe. Er hielt beständigen Blickkontakt mit Hikari, die an der Tür stand
und sich für ihre Verhältnisse sehr unsicher mit ihren Freundinnen unterhielt.
Asuka trat ein, wurde bleich, als sie Touji sah und eilte mit gesenktem Blick zu ihrem
Platz.
Touji brach den Blickkontakt mit seiner Freundin, sah besorgt zu Asuka hinüber, die sei-
nen Blick scheute, sah dann zu Kensuke hinüber, der hinter ihr saß.
Aida zuckte mit den Schultern.
In die Schülerinnen an der Tür kam Bewegung, sie hasteten zu ihren Plätzen, Hikari nahm
Aufstellung neben ihrem Platz.
Der Lehrer trat ein, doch es war nicht der alte Sensei, der die Unterrichtszeit mit Er-
innerungen an den Impact verbracht hatte, sondern ein Mann mitte Vierzig mit schneeweis-
sem Haar und eisgrauen Augen, gekleidet in Hemd und Jeans, das Jackett über der Schulter,
in der anderen Hand eine Aktentasche, ein freundliches Lächeln auf den Lippen, kein Ja-
paner, sondern ein Europäer.
Hikari erfüllte ihre Pflicht als Klassensprecherin, indem sie die Klasse aufstehen, sich
verbeugen und wieder setzen ließ.
Der neue Lehrer stellte seine Tasche auf seinem Tisch ab und hängte das Jackett über den
Stuhl.
"Guten Morgen. Euer bisheriger Lehrer ist vorzeitig in Pension gegangen, ich bin über-
gangsweise für euch zuständig. Mein Name ist Winter diArgio."
Er schrieb seinen Namen in Hiragana an die Tafel.
"Falls das zu schwierig erscheint, genügt auch einfach Sensei als Anrede. So, jetzt wüß-
te ich gerne, welcher Stoff zuletzt durchgenommen wurde. Klassensprecherin..." er sah
auf seine Liste, "Hikari Horaki..., würden Sie mich bitte informieren?"
Hiraki stand auf.
"Ja, Sensei. Bisher haben wir die Ereignisse des Second Impact durchgenommen."
"Und sonst?"
"Uhm..."
Er lächelte, berührte seinen Hals.
"Wenn ich nicht laut genug spreche, müßt ihr mir das sagen, meine Stimme ist leider nicht
mehr, was sie einmal war."
"Nein, das ist es nicht, aber es war unser einziges Thema."
"Oh... Na, dann müssen wir wohl etwas improvisieren... Wie wohl jeder hier inzwischen be-
merkt hat, komme ich nicht von hier, ich denke, wir knüpfen an dem alten Stoff an, neh-
men aber die ersten Jahre nach dem Impact durch, das heißt, die Jahre des Krieges und
des Wiederaufbaues."
Shinjis Bildschirm blinkte auf, er hatte eine Nachricht.
Kommt er dir auch bekannt vor? - Kensuke
Irgendwie schon.
Und sogar der Name, wie der Zauberer aus diesem Anime.
Du siehst dir sowas an?
Äh... Forschungszwecke.
Ja.
Seltsamer Zufall. Er flüstert sogar genauso.
Vielleicht...
Shinji bemerkte den Schatten, der auf ihn fiel, dann die Stille im Raum.
Er sah auf, der neue Lehrer stand direkt vor ihm.
"Uhm..."
"Mister... Ikari, richtig?"
"Ja..."
Er sprang auf.
"Falls Sie kein Interesse an meinem Unterricht haben, möchte ich Sie wenigstens bitten,
zumindest so zu tun."
"Uhm... Sensei, es tut mir leid. Ich werde jetzt..."
"Gut."
Der Lehrer drehte sich um und kehrte zu seinem Pult zurück.
Der weitere Unterricht verlief ohne Zwischenfälle. Sensei diArgio gestaltete ihn interes-
sant und relativ lebhaft, eine willkommene Abwechslung von den Monologen des alten Leh-
rers, die Krönung war jedoch, daß er keine Aufgaben für den nächsten Tag aufgab.
***
"Sag mal... kam dir der neue... Lehrer auch... bekannt vor?" stieß Shinji zwischen den
heißen und tiefen Küssen hervor, die er und Rei austauschten, die beiden saßen auf der
Couch, das heißt, Rei saß auf seinem Schoß und hatte die Arme um seinen Hals geschlungen,
während er die Arme um ihre Leibesmitte gelegt hatte.
"Irgendwie... schon..."
"Kensuke hat..."
"Jetzt denkst du an Kensuke?" fragte sie mit gespielter Entrüstung.
"Nein..." flüsterte er und ließ sich mit ihr zurückfallen.
***
Winter öffnete die Tür des kleinen Apartments, welches er in Tokio-03 bezogen hatte, noch
ehe sein Besuch geläutet hatte.
"Tretet doch ein, Bruder Shan."
"er junge Mönch verbeugte sich knapp mit unbeweglicher Miene, blickte kurz auf das Siegel
über der Tür.
"Ich fühle mich geehrt, daß Ihr mir erlaubt, Euer Sanktum zu betreten, Magus."
Er trug Jeans und ein lose fallendes T-Shirt, wodurch er sich kaum von der breiten Masse
abhob.
"Der Älteste schickt mich."
"Natürlich."
"Ich soll Euch helfen."
Winters Augenbrauen wanderten in die Höhe.
"Tatsächlich... dann muß die Lage noch ernster sein, als ich gedacht habe, wenn die Bru-
derschaft ihren ohnehin kaum noch vorhandenen Nachwachs riskiert..."
"Der Älteste hat mit den Ahnen gesprochen."
"Er hatte Kontakt zu jenen auf der anderen Seite des Sturmes?"
"Ja, durch das Akasha."
"Verstehe... Hm, ich kann Euch momentan nicht brauchen, deshalb möchte ich Euch bitten,
als Bote zwischen mir und dem Abt zu fungieren."
Der andere nickte.
"Habt Ihr Fortschritte gemacht?"
"Ich bin bis in die Geofront vorgedrungen. Die Chi-Ströme enden alle unterhalb der Pyra-
mide des NERV-Hauptquartiers, ich vermute, daß zumindest ein Teil der Energie benutzt
wird, um die EVANGELIONs zu betreiben."
"Wir vermuteten bereits nach dem ersten Einsatz dieser... Wesen, daß es Konstrukte aus
Wissenschaft, Technik und Magick sind."
"Die nähere Beobachtung bestätigt das, ich halte sie für das Werk eines Sohnes des Äther,
fragt den ehrwürdigen Abt bitte, ob die Bruderschaft noch Kontakte zu den Technomanten
hat."
"Das werde ich, Magus."
"Danke.
"Allerdings weiß ich, daß es nicht mehr sehr viele Angehörige dieser Tradition in Japan
gibt. Seit dem Tod Doktor Yui Ikaris vor zehn Jahren haben sie niemanden mehr rekrutiert,
soweit mir bekannt ist."
"Ikari?"
"Ja, unseren Informationen nach hat sie den Grundstein für das Projekt: EVANGELION ge-
legt, konnte die Früchte ihrer Arbeit aber nicht mehr ernten."
"Hm. Leider konnte ich nicht weiter vordringen ohne den Einsatz von Vis, die Sicherheit
in der Nähe der Pyramide ist viel zu hoch. Meine Magie funktioniert nicht gerade gut in
der Gegenwart von zuviel Technik."
"Ja."
"Während des letzten Angriffes konnte ich die Identität desjenigen, der die Umbrood zur
Erde gerufen hat, in Erfahrung bringen."
"Wer ist es?"
Winters Gesicht verdunkelte sich.
"Mein Sohn..."
"Euer..."
"Nicht durch die Bande des Blutes, wohl aber aufgrund der hermetischen Tradition... er
ist ein gescheiterter früherer Lehrling, der sich dem Pfad der Nephandi zugewandt hat
und nun den Mächten der Finsternis dient."
"Der Älteste muß es erfahren..."
"Ja, sagt es ihm. Und sagt ihm, daß ich die Traditionen bald zu den Waffen rufen werde..."
Shan sah in das Gesicht des anderen, sah weder Gefühle, noch Gnade, nur Entschlossenheit,
sah sich dem General des Erleuchtungskrieges gegenüber.
Der Ausdruck auf dem Gesicht des Magiers veränderte sich nicht, als er fortfuhr.
"Ich habe mir eine neue Identität als Lehrer geschaffen, um mit den Piloten der EVAs in
Kontakt zu kommen, dabei habe ich etwas interessantes entdeckt... etwa zwanzig potentiel-
le Lehrlinge..."
"Lehrlinge? Und in dieser Zahl?"
Shans Augen weiteten sich.
"Ist es mir doch gelungen, Euch zu überraschen?! Ja, die drei Piloten und ihre Mitschü-
ler stehen allesamt kurz vor dem Erwachen, es würde ein kleiner Anstoß genügen... Und wie
es scheint, wurden diese Kinder absichtlich zusammengebracht, denn ansonsten habe ich nur
wahre Schläfer unter den Schülern gefunden."
"Ich... ich muß es dem Abt mitteilen. Zwanzig Lehrlinge..."
"Genug, um die Zukunft der Bruderschaft zu sichern... genug, um zwei, nein, drei Tradi-
tionen mit frischem Blut zu versorgen. Shan-san, im Namen des Hermetischen Ordens muß ich
Ansprüche auf einen Teil der Lehrlinge anmelden, ich darf eine solche Chance nicht igno-
rieren."
"Ja..."
Der Mönch klang eiskalt, dennoch fröstelte er, denn im Raum herrschten Temperaturen nahe
dem Gefrierpunkt, Ausgangspunkt der Kälte war der Weißhaarige.
"Ich werde dem Abt Eure Nachricht überbringen."
"Tut das. Ich bin sicher, er wird meine Gründe verstehen."
***
Shinji befand sich in der Umkleidekabine und legte gerade seine Plug-suit an.
Von der anderen Seite der Trennwand kam ein leises fröhliches Summen.
"Asuka?"
Das Summen brach ab.
"Ja?"
"Du scheinst so fröhlich."
"Bin ich auch. Hast du den neuen Piloten schon kennengelernt - Kaworu?"
"Nein. Wie ist er denn so?"
"Ganz nett, ich habe ihm gestern die Stadt gezeigt."
"Ach, deshalb bist du erst so spät heimgekommen."
"Oh, habt ihr auf mich gewartet?"
"Uhm, ja."
"Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich Bescheid gesagt... aber ich dachte, ihr wärt ander-
weitig beschäftigt."
In diesem Moment war er froh über die Trennwand, wurde er doch knallrot.
"Uhm..."
"Vielleicht könnten wir mal etwas zusammen unternehmen, alle vier, meine ich."
"Hm, ja, das..."
"Pilot Ikari bitte zum Büro des Kommandanten, Pilot Ikari bitte..." hallte es aus dem
Lautspre-cher unter der Decke.
Shinji versteifte sich, holte laut hörbar Luft.
"Oje, jetzt kommt das große Donnerwetter..." murmelte Asuka.
"Ich... ich gehe dann... Falls etwas... passieren sollte..."
"Wovon redest du?"
"Ich... ah..."
Er hatte Angst, entsetzliche Angst...
***
Sein Vater starrte ihn über den Grat seiner gefallteten Hände finster an.
Shinji stand vor dem breiten Schreibtisch des Kommandanten und hatte Mühe, seine Knie
davon abzuhalten zu zittern.
"Vater, du wolltest mich sprechen?" preßte er schließlich hervor, als die Stille fast
schmerzhaft wurde.
"Ja. Ich weiß von dir und Rei... Und von ihrem Zustand."
"Uhm... ja..."
"Weißt du eigentlich, was du getan hast?"
"Vater, ich liebe sie und ich..."
"Und was? Du bist noch nicht einmal sechszehn, ebensowenig wie Rei. Glaubst du, ich habe
mich ihr ganzes Leben lang um sie gekümmert, nur damit du..."
"Ach ja? Gekümmert? Ich habe gesehen, wie sie gewohnt hat. In ein Loch gesteckt hast du
sie! Und was war mit mir? Nein, Vater, nicht diesesmal... Ich liebe sie... ich stehe zu
ihr... und zu unserem Kind. Und ich werde sie heiraten."
"Heiraten?" wiederholte Gendo, überrascht von der Ruhe und gleichzeitigen Leidschaft, mit
der Shinji sprach.
"Ja, so wie es sein muß, so wie ich es will, egal ob mit oder ohne deine Erlaubnis."
"Shinji, wovon redest du?" flüsterte Gendo, sichtlich verwirrt nach dem Ausbruch seines
Sohnes. Vor ihm stand kein verschüchterter Junge mehr, den er beeinflussen konnte, viel-
mehr sah er sich selbst, oder das, was er einmal gewesen war, das, was Yui in ihm gesehen
hatte...
"Ich rede davon, Vater, daß es an dir liegt, ob dein Enkel ehelich oder unehelich geboren
wird, das ist alles. Und denke nicht einmal daran, Rei und mich trennen zu wollen..."
Der ältere Ikari nickte nur.
"Ich... Du kannst gehen."
"Ja."
Shinji wandte sich zum Gehen.
"Warte."
Der Junge hielt inne. In der Stimme seines Vaters lag nicht die gewohnte Kälte, nicht die
übliche Härte.
"Was?"
"Ich wollte nur sagen, daß... ich werde euch keine Steine in den Weg legen."
"Gut."
"Und... es wird nur noch ein Engel kommen, dann ist es vorbei."
"Nur noch ein Engel? Ein Gegner noch, und dann sind wir frei?"
"Ja, mein Sohn."
"Danke, Vater."
***
Als er das Büro verlassen hatte, lehnte Shinji sich gegen die Wand und schnappte nach
Luft, starrte dabei auf seine zitternden Hände.
Er hatte sich seinem Vater widersetzt, hatte Stärke bewiesen... für Rei, für ihr Kind...
***
"Professor..."
"Ja, Ikari?"
"Bald ist es vorbei."
"Ja, Ikari."
"Yui wird frei sein... nur noch ein Engel, der Engel des freien Willens, der Dunkle Ge-
lehrte."
"Ah, sind Sie sicher, daß dies die korrekte Übersetzung ist? Der Text ist in diesem Teil
etwas unvollständig."
"Die Prophezeiung spricht von siebzehn Engeln und dem Engel der Menschheit, wer sonst
sollte der Dunkle Gelehrte sein, als der letzte Engel?"
***
Im Katsuragi-Haushalt hatten erneut Umräummaßnahmen stattgefunden, Asuka war in Shinjis
Zimmer umgezogen, während dieser und Rei nun den größeren der beiden Räume bewohnten.
Misato sah keinen Sinn darin, dies zu untersagen, sonst hätte sie entweder einen der
beiden aus dem Apartment werfen oder selbst auf dem Flur Nachtwache halten müssen. Außer-
dem war der Schaden schon angerichtet, wie Kaji es in ihren Augen recht treffend erklärt
hatte, als er erschienen war, um mit anzufassen.
Ferner rückte Shinjis sechszehnter Geburtstag näher und Misato verschwor sich mit Asuka,
wie man den jungen Ikari mit einer Party überraschen konnte.
Asuka hatte sich in den vergangenen Wochen mit Kaworu angefreundet und schwebte in der
Regel im Siebten Himmel, allerdings hatte bei ihr Misatos vorbeugende Predigt gewirkt.
Reis Zustand wurde langsam offensichtlich und ließ sich nicht mehr unter der Kleidung ka-
schieren. Ritsuko Akagi untersuchte sie regelmäßig, konnte aber keine Komplikationen
feststellen.
Seit dem Angriff Zeruels waren sieben Monate vergangen, jeden Tag hoffte Shinji, der
letzte Engel möge auftauchen, damit die Sache endlich ein Ende fände. Er war so moti-
viert, wie nie zuvor in seinem Leben. In den letzten Wochen war er seinem Vater mehrmals
über den Weg gelaufen, Gendo Ikari hatte sich zwei-, dreimal nach Reis Zustand erkundigt
und ihm beim letzten Mal ein von ihm unterschriebenes Dokument gezeigt, demnach er Rei,
deren Vormund er immer noch war, erlauben würde, ihn nach Vollendung ihres sechszehnten
Lebensjahres zu ehelichen. Allgemein hatte Shinji das Gefühl, daß die Beziehung zu seinem
Vater besser wurde...
***
"Ahhh..."
Rei drückte den Rücken durch, die Wölbung ihres Bauches war deutlich erkennbar.
Shinji fuhr sanft mit der Hand über ihren Bauch und plazierte einen leichten Kuß oberhalb
ihres Nabels.
"Leg dich wieder hin, Geliebte, es ist noch früh", erklärte er, während er in seine Hosen
stieg.
"Nein, ich komme mit ins Hauptquartier... Der Kommandant wollte mit mir sprechen."
"Vater... So..."
"Mach dir keine Sorgen, ja?"
"Ja."
Misato fuhr die beiden und Asuka, beachtete dabei sogar Geschwindigkeitsbegrenzungen und
Verkehrsregeln. Als sie die NERV-Pyramide erreichten, heulten gerade die Sirenen auf
- Engel-Alarm...
***
Zwei große Raben folgten Misatos Sportwagen, der eine schneeweiß, der andere raben-
schwarz. Als das Auto auf einen Zug aufgeladen wurde, ließen sie sich dahinter nieder.
Während Tymael sein Gefieder putzte, stand sein Herr völlig still.
So gelangte Winter diArgio in das Hauptquartier von NERV...
***
"Was ist passiert?" rief Misato, als sie vor dem Zugangstor zum EVA-Hangar ankam, die
drei Children, darunter eine keuchende Rei mit rotangelaufenden Gesicht, im Schlepptau.
Akagi dirigierte Hyuga und Aoba, welche mit Schweißgeräten die Panzertür bearbeiteten.
"Wir sind ausgesperrt worden, die Elektronik hat völlig versagt, das ganze Computersystem
ist lahmgelegt."
"Und der Engel?"
"Die MAGI haben ein blaues Muster im Hangar entdeckt."
"Gottverdammt... Zwischen uns und den EVAs..."
"Nagisa war im Hangar..."
"Kaworu!" rief Asuka erschrocken. "Hoffentlich ist er in Ordnung!"
"Asuka", Ritsuko wandte sich dem Rotschopf zu, "es war nur Kaworu im Hangar... Wahr-
scheinlich ist er der Engel!"
"Nein! Das kann nicht sein! Kaworu kann kein Engel sein..." flüsterte Asuka. "Ich muß
dort ´rein, bestimmt ist er in Gefahr!"
Da erschütterten kräftige Schläge das Tor von der anderen Seite.
"Weg von der Tür!" schrie Misato und stieß Asuka zur Seite.
Shinji packte Rei und schob sie hinter sich, während Makoto und Shigeru zur Seite haste-
ten.
Das Tor flog aus den Angeln.
EVA-03 schob sich durch die Öffnung. Und vor ihm schwebte Kaworu Nagisa...
"Kaworu!" schrie Asuka.
Der grauharrige Junge sah sie kurz an, sagte dann mit einer Stimme, die wie aus einer
tiefen Gruft zu kommen schien:
"Versucht nicht, uns aufzuhalten!"
Das Gespann aus EVA und Engel wandte sich dem Zentralen Schacht zu.
Misato starrte ihnen mit weitausgerissenen Augen hinterher, fing sich dann.
"Asuka, nimm EVA-02 und folge ihm!"
"Kaworu... er ist... wieso?" flüsterte Asuka und Tränen liefen über ihre Wangen. "Ich
dachte... er wäre mein Freund..."
Misato ergriff sie an den Schultern.
"Asuka, nimm dich zusammen! Wenn du ihn nicht aufhälst, ist alles vorbei, verstehst du?"
"Ich... ja..."
Sie zog die Nase hoch, preßte die Lippen zusammen und rannte in den Hangar, auf die rote
EVA-02-Einheit zu.
Aus einem Seitenkorridor erschien Gendo Ikari.
"Ich bin bereits über die Lage informiert. Der Engel darf das Terminal Dogma nicht er-
reichen."
"Ja, Kommandant", bestätigte Misato.
"Einheit-01 wird sofort aufgetaut. - Shinji, bist du bereit?"
"Ich..." Er warf Rei einen kurzen Seitenblick zu, wußte, daß er einen Grund hatte, um zu
kämpfen, nickte. "Ja, Vater."
"Gut, tut euer Bestes."
"Vater..."
"Viel Glück."
Shinji nickte noch einmal, drückte Reis Hand und folgte dann Asuka.
Gendo Ikari wandte sich an Rei.
"Komm mit."
"Wohin?"
Ihre Frage überraschte ihn, war er es doch gewohnt gewesen, daß sie seine Anweisungen so-
fort befolgte.
"Ins Terminal Dogma... es tut mir leid..."
Und es klang ehrlich...
***
EVA-02 war EVA-03 in den Schacht gefolgt, kurz darauf hatte EVA-01 den Hangar verlassen,
seine Panzerung war noch immer von Raureif bedeckt und seine Bewegungen steif, doch auch
er war in den Schacht geklettert. In dem ganzen Chaos hatte niemand die beiden Rabenvögel
bemerkt, die in eleganten Kreisen ebenfalls in die Tiefe hinabstiegen.
Gendo brachte Rei zu seinem persönlichen Expreßlift, der einzigen Verbindung zum Terminal
Dogma neben dem Zentralen Schacht. Während sie darauf warteten, daß sich die Türen öffne-
ten, erklangen Schüsse.
Männer in schwarzer Tarnkleidung stürmten das NERV-Hauptquartier, schossen jeden nieder,
der sich ihnen in den Weg stellte.
Die Lifttüren glitten auf, gleichzeitig kamen drei der Eindringlinge auf Ikari und Rei
zu.
"Paß auf dich und das Kind auf", flüsterte Gendo und stieß Rei in die Liftkabine hinein,
wandte sich dann den Bewaffneten zu, ihnen mit seinem Körper die Sicht auf das Mädchen
nehmend.
"Komman..." Reis Ruf wurde durch das Schließen der Türen unterbrochen.
***
In seinem Büro lud Major Ryoji Kaji seine Dienstwaffe und eine weitere Pistole, während
er auf den Bildschirmen das Vordringen der Eindringlinge beobachtete.
"Schlauer Plan... Erst legt Nagisa die Sicherheits- und Überwachungssysteme lahm, dann
lenkt er die Wachen ab und lockt die EVAs in den Schacht, während mehrere BlackOps-Teams
in das Hauptquartier eindringen... wirklich schlau... es hat also begonnen..."
Das einzige, womit die Eindringlinge nicht gerecht hatten, waren die zahlreichen Kameras,
die Kaji in der Anlage zusätzlich installiert und mit dem MAGI-Rechner Melchior verbunden
hatte, auf den er seit dem Angriff des Computervirus-Engels einen direkten Zugriff besaß.
Kaji steckte seine Dienstwaffe ins Schulterhalfter und die andere Pistole in den Hosen-
bund, setzte sich dann sein Headset auf.
"Melchior?"
Bestätige.
"Halt mich über die Bewegungen der Eindringlinge auf dem Laufenden."
Bestätigt.
Dann kletterte er auf seinen Stuhl, streckte sich zur Decke und entfernte eines der
quadratischen Elemente, zog sich in den darüberliegenden Hohlraum und setzte das Decken-
element dann wieder ein, machte sich auf seinen Weg durch das Labyrinth der Wartungs-
schächte in der Pyramide.
***
ODIN-Hauptquartier
Wolf Larsen schloß die Augen, als vor ihm auf dem Tisch eine rote Lampe aufleuchtete.
"Was hat das zu bedeuten?" fragte sein Besucher und drückte seine abgebrannte Zigarette
aus.
"Direktor Kiehl hat soeben meinen Zugang zu HEIMDALL und meine Kommandocodes sperren las-
sen." Er betätigte einige Schalter unter dem Tisch. "Wie ich es mir dachte, das Telephon
ist tot, ebenso die Gegensprechanlage ins Vorzimmer..."
Der Mann mit der gelbstichigen Haut trat vorsichtig ans Fenster und warf einen Blick nach
draußen.
"Sie haben die Kinder von der Wiese geholt..."
Mit einer schnellen Bewegung ließ er die lichtdurchlässigen Rollos nach unten sausen, um
Scharfschützen die Sicht zu nehmen.
"Ich schätze, daß in spätestens fünf Minuten ein Killerkommando in dieses Büro stürmt.
Sie sollten verschwinden."
Der andere zündete sich eine neue Zigarette an.
"Nein."
"Sind Sie sicher?" fragte der Cyborg, während er seine Waffe aus der obersten Schublade
seines Schreibtisches holte und ein letztes Mal das Magazin überprüfte.
"Ganz sicher." erwiderte der andere und holte seinen eigenen Revolver heraus, legte ihn
auf den Tisch.
"So habe ich es mir vorgestellt, wenn einmal der Tag kommt... Sie wissen schon, nicht im
Bett an Altersschwäche oder einer Krankheit sterben, sondern aufrecht in den eigenen
Stiefeln."
"Verstehe. Ich denke, das ist Kiehls Reaktion darauf, daß ich die Raben ODINs ausge-
schickt habe, um die Mitglieder von SEELE zu eleminieren."
"Sie haben sich also entschieden."
"Ich konnte nicht anders. Der Plan SEELEs würde mich vielleicht wieder mit meiner Frau
zusammenbringen, aber was ist mit all den anderen Menschen, Menschen, die zu schützen ich
einen Eid geleistet habe?! - Sie hingegen können immer noch gehen."
"Nein. Auch ich habe diesen Eid geleistet, vor vielen Jahren..."
Und so erwarteten sie ihre Mörder...
