Kapitel 09 - Ende und Anfang


In den nächsten Tagen traf auf Winters Ruf hin eine Handvoll Männer und Frauen aus der
ganzen Welt in Tokio-03 ein, alles Angehörige der Traditionen.
Das EVA-Testcenter wurde in ein Labor umgewandelt, das große Ähnlichkeit mit der
Werkstatt eines Alchemisten aufwies, das Ziel war die Rekonstruktion zweier menschli-
cher Körper aus einigen wenigen DNA-Strängen.
Mit jedem Tag alterte der Erzmagus mehr, verlor er mehr an Kraft, schließlich diri-
gierte er die Arbeiten nur noch von einem Stuhl im Kontrollraum aus, verweigerte dabei
aber jede angebotene Hilfe und verwies auf das große Projekt.

Misato Katsuragi überlebte ihre Verletzungen, ebenso Gendo Ikari.
Das NERV-HQ wurde unter absolute Quarantäne gestellt, niemand kam hinein und niemand
hinaus, die Magi ausgenommen, denn die Welt war nicht reif für die Entwicklung, die
sich im Inneren der Pyramide abspielte...


***


"Meister?"

Der uralte Mann blickte auf, kniff die Augen zusammen, um den anderen besser erkennen
zu können.
"Ah, Michael..." flüsterte Winter.

"Wir... wir sind soweit."

"Gut."
Er lächelte.
"Ich gehe dann, mein Junge."
Ächzend erhob er sich, legte alle Konzentration in einen letzten Zauber, der ihm ein
Tor durch die Spiegelgrenze öffnete.

"Meister, wohin geht Ihr?"

"Ihr braucht mich nicht mehr."

"Das stimmt nicht, der Orden braucht Euch, wir brauchen Euch und Eure Erfahrung..."

Er sah seinen letzten Schüler an, lächelte zahnlos.
"Nein, ich habe an dich und die vor dir alles mitgegeben, was ich weiß... Dies ist ein
Neuanfang, ich schließe die Augen, und ich sehe die Zukunft, eine Zukunft, in der es
keinen Orden mehr gibt, keine Traditionen, nur eine Gemeinschaft... die Zukunft gehört
euch, macht das beste daraus."

"Meister..."

"Nicht zu herrschen, sondern zu lehren ist unsere Aufgabe, vergiß das nie... Ich sehe,
daß die EVANGELIONs den Sturm brechen werden, sehe die Rückkehr der Verschollenen...
richte ihnen meine Grüße aus, teile ihnen mit, daß ich kein weiteres Mal versagt ha-
be..."

"Geht nicht, Meister..."

Er schüttelte den Kopf, wandte sich dem großen Bildschirm zu, warf einen letzten Blick
in den Hangar zu den Wissenschaftlern, welche die Wachstumskammern umstanden, und zu
jenen Magiekundigen, die sich mehr zur Geisterwelt hingezogen fühlten, und die Gesänge
der Brüder des Akashas unterstützten, um die Seelen in den Kerlen zu schützen und auf
die Reise vorzubereiten.

Die Kammern gaben ein sanftes Leuchten ab, während zugleich die Kerne erloschen.

"Transfer abgeschlossen."

Er nickte.
"Doktor Ikari, Doktor Soryu, meine besten Wünsche begleiten Sie."
Damit drehte er sich um und verschwand durch das Portal...


***


Zur gleichen Zeit wurde in der Kantine des Hauptquartiers eine Zeremonie vollzogen,
deren Teilnehmer wahrscheinlich noch viel aufgeregter gewesen wären, hätten sie ge-
wußt, was im Testcenter geschah.

Es war der Tag der Trauung von Shinji Ikari und Rei Ayanami...

Die mittlerweile hochschwangere Rei saß in einem Rollstuhl, während Shinji stand, als
Trauzeugen fungierten Asuka und Kaji, die Zeremonie vollzog Kozo Fuyutsuki, während
Shinjis Vaters an der Seite stand. Der frühere Professor hastete durch seinen Text,
denn bei Rei kamen die Wehen inzwischen in immer kürzer werdenen Abständen. Nachdem
sie ihr ´Ja´ herausge-schrien und Fuyutsuki die Abschlußworte gesprochen hatte, ging
es im Laufschritt auf die Krankenstation.
Gendo blieb vor dem OP zurück, während Shinji Rei hineinbegleitete, zuvor seinen Vater
aber noch einmal ansah, die Tränen in dessen Augen bemerkte.


***


Wieder stand er am Rande der Klippe oberhalb des wirbelnden Sturmes, blickte hinab in
das tobende Chaos, sah die Gesichter jener, denen sein Herz gehörte.

Er spürte die Gegenwart eines anderen Menschen, mußte sich nicht erst umdrehen, um zu
erkennen, daß es die blinde Seherin war.

"Es tut mir leid, Magus diArgio."

"Ja... Ihr habt es gesehen, nicht wahr? Mein Ende..."

"So ist es."

"Konntet Ihr mich nicht warnen? Hätte ich gewußt, daß ich Cagliostro begegnen würde..."

"Es lag nicht in meiner Macht."

"Verstehe."

Ein Rauschen zog seine Aufmerksam auf den Sturm zurück.

Aus dem allgegenwärtigen Chaos formte sich langsam eine Gestalt, die über den Winden
schwebte. Der Magier erkannte in ihr das Wesen wieder, welches all die langen Jahrhun-
derte in ihm existiert hatte, blickte das Frostwesen erwartungsvoll an. War es gekom-
men, seine Existenz zu beenden als Rache für die Jahre der Gefangenschaft?

Die Worte des Umbrood übertönten das Rauschen des Sturmes, waren zugleich aber leise
und einflüsternd.
"Ich überbringe euch SEIN Urteil, Lillims... Ihr habt SEINE Prüfungen bestanden, die
Zukunft gehört euch..."
Mit dem letzten Wort kehrte der achtzehnte Engel in den Sturm zurück.

"Verbreitet das Wort." flüsterte Winter. "Wir sind frei von Himmel und Hölle..."

"Das werde ich."

Lächelnd tat er den letzten Schritt, wurde von dem Mahlstrom verschluckt...

Und eine goldenstrahlende geflügelte Erscheinung löste sich aus den Wirbeln und streb-
te hinauf, der Spiegelgrenze entgegen...


***


Der Abt des Klosters der Bruderschaft hob den Kopf, als ein tiefschwarzer Rabe vor ihm
landete und ein leises Krächzen von sich gab. Der alte Mann machte eine klatschende
Handbewegung, jedoch nur mit einer Hand.
Als Reaktion begannen die Glocken des Klosters zu läuten, zeitgleich geschah dasselbe
in zahllosen Tempeln und Schreinen im ganzen Land...


***


Shinji Ikari konnte den Blick nicht von seinem Sohn lösen, der in den Armen seiner
Frau schlief.
"Er ist wunderschön."

Rei lächelte, erschöpft, aber glücklich.
"Unser Sohn..."

Es klopfte an der Tür des Krankenzimmers, die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet.
"Darf ich... hereinkommen?" fragte Gendo Ikari mit bebender Stimme.

Shinji sah zu seinem Vater, dann zu Rei.
"Ja."
In diesem Moment konnte er ihm vergeben...


***


Wer bist du?
"Ich bin Rei Aya... Rei Ikari."
Was tust du?
"Ich lebe."
Warum lebst du?
Sie blickte auf das Kind in ihren Armen, den wenige Tage alten Jungen, der sie aus
eisgrauen Augen lachend ansah, blickte zu Shinji, der neben ihr stand, den Arm um ihre
Schultern gelegt, blickte zu Misato, die mit ihrem Rollstuhl von Kaji hineingeschoben
wurde, blickte zu Gendo Ikari hinüber, der weinend zusammengebrochen war, als Yui den
Raum betreten hatte, blickte zu Yui Ikari, die nach so langen Jahren endlich die Frei-
heit zurückerhalten hatte, blickte durch die Trennglasscheibe in den EVA-Hangar
hinab, wo Asuka und ihre Mutter einander wortlos in den Armen lagen, sah schließlich
die aus ihr unbekannten Gründen vor sich hinfluchende Ritsuko Akagi, entschied sich
aber, diese bis auf weiteres zu ignorieren.
"Braucht es noch weitere Gründe, um zu leben?"


ENDE