Kapitel 4 – Die Ruhe und Der Sturm

Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, fühlte Harry sich keineswegs besser. Die Ruhe nach dem Sturm, die seine Angst, seine Schuld, seine Trauer betäubt hatte, verblasste und mit ihr Starre, in der sich, so schien es, alles befanden hatte. Das Leben hatte wieder einmal beschlossen weiter zu gehen und Harry mit sich zu ziehen.

In zwei Tagen würde die Schule wieder einnmal beginnen. Zwei Tage und es schien so unendlich fern. Harry würde seine Schulsachen in der Winkelgasse kaufen, mit dem Hogwartsexpress von Bahngleis 9 ¾ losfahren, zur Schule. Wie jedes Jahr. Als wäre nichts gewesen, als wäre er nicht an dem Tod von zwei Menschen schuld.

Nein. Er konnte nicht zurück dorthin. Er konnte es kaum ertragen in das Gesicht seines Freundes Ron zu schaun. Alle waren so nett, so mitfühlend mit ihm.

Armer Harry, hat so viel hinter sich.

Sie verstanden nicht, dass ohne ihn nichts von all diesem Unglück passiert wäre. Oder vielleicht war wussten sie es, aber sie sprachen nicht darüber. Vielleicht dachten sie, Harry, all die Menschen die sich für dich geopfert haben. Es wird Zeit, dass du dich für alle anderen opferst.

Natürlich wusste er, dass Ron so etwas nie bewusst denken würde. Auch seine Mutter, alle Weasleys. Sie würden es verdrängen. Aber es war wahr. Harry war an der Reihe. Schon so lange.

Er würde Voldemort finden, alleine. Und wenn Harry sterben würde bei dem Versuch seinen gröβten Feind endlich und für immer zu vernichten, dann war das nur richtig.

Harry packte seine Sachen. Die wenigen, die er noch hatte.

Mit jeder Minute, die er länger in dem Haus seiner Freunde, in der nähe seiner Freunde verbrachte, gefärdete er sie mehr.

Er würde einen Zauberstab brauchen. Seiner war gestohlen worden. Was hatte Mrs. Figg gesagt?

‚Er ist sehr wertvoll. Er ist die einzige Waffe, die du gegen Du-Weiβt-Schon-Wen hast.' Harry brauchte erst den Stab, dann konnte er den Kampf wagen. Er würde ihn wieder bekommen. Doch erst brauchte er einen Ersatz.

Harry nahm das Beutelchen mit dem letzten Rest Flohpulver aus der Tasche. Er konnte sich nicht persönlich von seinen Freunden verabschieden. Sie würden natürlich versuchen ihn zurück zu halten. Er wusste, wo Ron das Pergamentpapier und seine Fuellfederhalter aufbewahrte...

Harry konnte wenigstens noch einen Brief schreiben, um alles zu erklaeren. Nein, seine Schuld war so gross, dass er mit Schmerzen daran denken konnte, wie konnte er es schreiben? Ron war sein bester Freund, er wuerde wissen, warum Harry gehen musste und dass er gehen musste.

Jetzt sofort.

***

Das Gold, das er aus seinem Verlies in Gringotts' geholt hatte, klinperte in der tasche seiner jacke, die er sich um die hüfte gebunden hatte. Harry wischte sich den Schweis von der Stirn. Es war so auβergewöhnlich heiβ. Die Sonne schien mit aller macht in die Winkelgasse zu scheinen, als wollte sie die Pflastersteine zum Brodeln bringen. Keine Feuchtigkeit war mehr auf der Strasse und wenig Zauberer wagten sich heraus. Es war Mittagszeit und die Strassen waren wie leer gefegt.

Die kühle Luft in Olivanders überraschte Harry, wahrscheinlich ein Kältezauber. Mehrere Leute hatten hier Schutz vor der Hitze gefunden und standen in den Ecken des Zauberstab ladens, sich leise unterhaltend.

Herrn Olivander selber schien die Anwesenheit von so ungewöhnlich vielen Menschen ein wenig zu irritieren. Er lief zwischen ihnen hin und her und ermahnte sie nichts anzufassen. Harry tippte ihn an.

„Harry Potter", stellte Olivander überrascht fest. Der ganze Laden verstummte. Harry spürte viele Blicke hinter seinem Rücken und wurde rot. „Wer hätte gedacht, dass wir sie hier noch einmal sehen würden? Womit kann ich Ihnen dienen?"

„Nicht hier." Harry versuchte das Tuscheln, das eingesetzt hatte zu ignorieren. Olivander deutete Harry ihm zu folgen. Er führte ihn in Nachbarraum, ein kleines kühles Arbeitszimmer mit Regalen voll magischer Zutaten und verschiedenster Hölzer. Auf dem Boden lagen zerbrochene Zauberstäbe und auf und neben dem Schreibtisch waren unzählige Sägespähne.

„Wie geht es deinen Stab, Harry?", fragte Olivander enthusiastisch.

Wie sollte Harry ihm nur erklären, dass er gestohlen war? Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Es war schwerer, als er sich es vorgestellt hatte.

„Das ist es, weshalb ich gekommen bin.", sagte er schlieβlich, „mein Stab ist gestohlen worden."

Merkwürdiger Weise reagierte Herr Olivander nicht überrascht, auch fragte er keine weiteren Fragen. Er nickte betrübt und sprach nach einer kurzen Stille: „Du kommst wahrscheinlich, um einen neün Stab zu kaufen."

„Ja, aber ich habe vor meinen alten wieder zu bekommen." Herr Olivander lächelte traurig und nickte Harry noch einmal zu. Ohne ein weiteres Wort ging er dann zu seinem Schreibtisch und nahm einen hell holzigen wohlgeformten Stab aus einem Etui, das dort lag. Er reichte ihn Harry.

Zögernd nahm dieser ihn in die Hand und schwenkte ihn. Ein Schauer von silbernen Sternen sprühte wie eine Fontäne aus dessen Spitze. Es war merkwürdig mit einem anderen Zauberstab zu zaubern. Es kam ihm vor als würde es ihn mehr Energie kosten zu zaubern als zuvor, auch lag er nicht so gut in seiner Hand. Als gehörte er dort nicht hin.

„Silberkiefer, 7", Alraunenwurzel", murmelte Olivander, „einen passenderen wirst du hier nicht finden.", fügte er hinzu als hätte er Harrys gedanken gelesen.

Harry bedankte sich höflich und bezahlte den Stab. Gerade als er den Laden verlies, hörte er Olivander noch sagen:

„Verlasse dich auf deine Freunde." Dann schloβ sich die Tür hinter Harry.

***

Wie zwei mächtige Heere von schwarzen Rössern wild galopierend, krieglüsternd zogen die Wolkenfronten auf einander zu. Von einem Augenblick auf den nächsten verwandelte sich die erbarmungslose Hitze eines grellen Sommertages in die dunkle Kühle eines heraufziehenden Sturms. Schon begannen die Spitzen der Bäume im Wind zu beben und die Straβen sich unter den auftürmen Wolken zu verfinstern.

Es war unglaublich schwühl. Harry konnte die Spannung des kommenden Gewitters spüren, in der Luft beinahe schmecken. Er musste irgendwo unterkommen. Schnell. Wo war er? Er war so lange gegangen, hatte nachgedacht über die Aufgabe die er zu erfüllen hatte, die Freunde die er zurück gelassen hatte. Diese Straβe hatte er noch nie zuvor gesehen. Er schien sich noch in dem magischen Viertel Londons zu befinden, jedoch war es hier nicht angenehm und einladend wie in der Winkelgasse.

Möglicherweise der kommende Sturm oder die Menschenleere gaben ihm hier ein Gänsehaut.

Harry ging weiter, schneller. Links und rechts neben ihm verschlossene Türen und Verriegelte Fensterläden. Harry bog um die Ecke und mit einmal wusste er wo er war. Er kannte es hier. Knockturn Alley. Ein Teil des Viertels in dem der Handel mit illegalen Zutaten, verbotenen Büchern und Gegenständen voll schwarzer Magie nur so blühte.

Er sollte sich hier nicht aufhalten. Wie auf einem Serviertablett für die Todesser. Harry begann zu rennen doch in dem Moment zuckte ein Blitz über ihm, direkt gefolgt von zornigem, ohrenbetäubendem Donner. Der Sturm begann. Und er blies gegen Harry. Drückte ihm zurück in Knocktur Alley. Alles verfinsterte sich. Der Regen begann wie Hagel und zum ersten mal fragte sich Harry ob dieses Unwetter natürlich entstanden war.

Er verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder und erspähte in dem plötzlichen Licht eines weiteren Blitzes eine kleine Taverne in der Biegung aus der er kam. ‚Zum gehängten Mann' konnte er auf dem Schild lesen, dass schräg über dem Eingang hing.

Er zögerte nicht lange und betrat die Gaststube. Denn schon war er bis auf die Haut durchgenässt und der Sturm pfiff erbarmungslos durch die Straβe.

Es war warm hier. In dem Kamin brannte ein knisterndes Feuer und einige Menschen hatte wie er hier Schutz gefunden. Sie trugen ausnahmlos schwarze Mäntel und Harry fühlte ihre Blicke auf ihm. Der Regen hatte seine Haare an seine Stirn geklebt. Seine Narbe war verdeckt und trotzdem wusste sicherlich jeder hier wer er war. Spätestens seit dem letzten Jahr war Harry's Gesicht bekannter als das des Ministers für Magie.

Schnell bestellte er einen heiβen Kakao und setzte sich in eine Eke so weit vom Licht des Kamins entfernt wie möglich.

Es war hier fast völlig dunkel und niemand konnte ihn sehen und trotzdem hatte Harry das unbehagliche Gefühl beobachtet zu werden. Langsam schlürfte er seinen Kakao, in den Straβen rohrte der Sturm und niemand schien sich mehr um ihn zu kümmern, doch irgentetwas…

Harry gab auf und wendete seinen Blick von den Leuten ab und erstarrte. Auf der gegenüber gelegenen Seite seines Tisches saβ etwas menschengroβes und starrte ihn mit gelben glühenden Augen an.

***