Kurz vor Mitternacht begann der Wirt demonstrativ damit, die ersten Stühle auf die Tische zu stellen und die leeren Gläser einzusammeln. Vermutlich erhoffte er sich, wenigstens dieses Mal pünktlich schließen zu können. Mirax hätte ihm gleich sagen können, dass seine Chance schlecht standen, heute eher ins Bett zu kommen.
Denn obwohl Nathan sich bereits zurückgezogen hatte, um bis morgen ausgeruht zu sein, und Josiah zusammen mit Vin um die Stadt patrouillierte, saßen die zwei noch verbliebenen der Sieben noch immer an ihrem Tisch und starrten stumm vor sich hin. Mirax betrachtete jeden einzeln, doch noch immer machte keiner Anstalten, nach draußen zu gehen. Schließlich hielt Mirax es nicht mehr aus. Sie stand auf, nickte den anderen kurz zu und trat vor die Tür.
Draußen war es eiskalt und fast stockfinster. Die wenigen Feuer, die man entzündet hatte, um die Straße zu beleuchten, waren bis auf die Glut herunter gebrannt und keiner schien es für seine Pflicht zu halten, sie wieder zum Brennen zu bringen. Mirax störte sich nicht daran.
Sie war das Dunkel gewohnt, immerhin hatte sie fast ihr ganzes Leben damit verbracht.
Ein eisiger Windstoß fegte durch die Straße und Mirax klappte ihren Mantelkragen nach oben und verschränkte die Arme vor der Brust. Immerhin hatte es nicht mehr geregnet. Mirax atmete tief durch und fühlte wie die Müdigkeit, die in den letzten Stunden des Wartens in ihr hochgekrochen war, aus ihren Gliedern wich.
Plötzlich glaubte sie ein Geräusch gehört zu haben. Mirax hielt den Atem an und lauschte in die Stille der Nacht. Doch außer dem Kläffen eines Hundes hörte sie nichts. Sie wollte die Sache schon vergessen, als ein Pferd wieherte. Mirax trat hinter einen Holzpfeiler und betrachtete die dunkle Straße. Nach einigen Sekunden entdeckte sie tatsächlich einen schwachen Lichtschein, der langsam näher kam.
Eine Kutsche? Um diese Zeit? Mirax wartete angespannt und einige Minuten später hielt die große schwarze Kutsche vor dem Sheriff's Büro. Mirax hörte Schritte und Chris trat lautlos aus dem Saloon. Er winkte ihr mit einer Hand, ihm zu folgen und ging mit raschen Schritten der Kutsche entgegen.
Der Kutscher war abgesprungen und grüßte Chris mit einem angedeuteten Nicken. "Abend, Mister.", meinte er und machte Anstalten, die Kutschentür zu öffnen. Chris kam ihm zuvor.
Er zog die Tür auf und -
- betrachtete völlig verdutzt den einzigen - weiblichen - Fahrgast.
Mirax beobachtete mit wachsender Verwunderung, wie Chris Larabee um Worte rang. Schließlich hatte er sich gefangen und reichte der Frau eine Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.
"Miz Travis, würden sie mir bitte erklären, was das soll?"
Mary Travis griff nach Chris' Hand und kletterte geschickt aus dem Wagen. Sie hielt seine Hand allerdings etwas länger als unbedingt notwendig während sie sich beim Kutscher bedankte, der ihr Gepäck abgeladen hatte. Die Kutsche fuhr ab und Mary sah Chris verwundert an.
"Was meinen sie, Mister Larabee?", meinte sie und sah Chris mit ihren großen blauen Augen unschuldig an. Mirax hatte allerdings die Vermutung, dass sie genau wusste, was Chris gemeint hatte.
"Mary,", begann Chris, so als würden sie diese Art von Unterhaltung öfter führen. "Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass sie die ganze Strecke von River Bend hierher gefahren sind - um diese Zeit und allein?" Verärgerung schwang in Chris' Stimme mit, doch sie richtete sich wahrscheinlich eher gegen ihn selbst oder den Idioten, der Mary auf diese Idee gebracht hatte, als gegen Mary selbst.
"Wäre es ihnen lieber gewesen, ich wäre nicht allein gefahren?", erwiderte Mary spitz und griff nach ihrer Tasche. Chris atmete tief ein und folgte ihr, als sie sich Richtung Clarion in Bewegung setzte. Mirax zögerte einige Sekunden. Sollte sie ihnen folgen? Immerhin hatte Chris sie seit Mary's Eintreffen nicht mehr beachtet und Mary selbst hatte sie wahrscheinlich noch nicht einmal bemerkt.
Andererseits hatte Mirax sowieso nichts zu tun und da sie Mary noch nicht kannte war dies vielleicht eine Gelegenheit, etwas mehr über sie zu erfahren. Und vielleicht würde Chris sich wieder soweit beruhigen, dass er sie einander vorstellte. Also folgte Mirax ihnen in kurzem Abstand.
Chris schien die Hoffnung aufgegeben zu haben, Mary irgendwie Vernunft einzureden zu können, und so begnügte er sich damit, herauszufinden, was sie schon jetzt zurück in Four Corners tat, anstatt die Woche mit ihrem Sohn bei Verwandten in River Bend zu verbringen.
"Warum sind sie hier, Mary?", fragte er und bemühte sich diesmal, ruhig zu bleiben, was ihm auch irgendwie - und zu seiner eigenen Verwunderung - gelang.
"Ich tue nur meinen Job. Orin hat mir ein Telegramm geschickt, dass es hier Ärger gibt. Sie glauben doch nicht, dass ich in River Bend bleibe und nichts tue, während unsere Stadt - noch schlimmer, unser Sheriff - in Gefahr ist."
"Ich habe es wenigstens gehofft.", murmelte Chris leise. "Wo ist Billy?"
"Ich habe ihn bei Tante Margareta gelassen. Dort ist er in Sicherheit, bis das hier vorbei ist." Chris atmete erleichtert auf. Immerhin war Mary doch noch zu vernünftigen Entscheidungen fähig. Warum ausgerechnet hatte der Richter sie benachrichtigt? Er wusste doch so gut wie jeder Andere, dass Mary nicht wie die andere Frauen war. Sie benahm sich immer, als müsste sie den anderen - besonders den Männern und ganz besonders Chris Larabee - etwas beweisen.
Auch wenn es gerade das war, was sie so faszinierend machte, wünschte Chris sich doch manchmal, dass sie eine ganz normale Hausfrau war, die sich um nichts anderes kümmerte als um ihren Sohn und ihren Garten.
Dann könnte er sie auch leichter beschützen.
Sie hatten die Tür des Clarion erreicht und Mary drehte sich zu Chris um und lächelte leicht. "Chris, sie machen sich immer viel zu viele Sorgen. Warum sollte mir etwas geschehen? Ich kann auf mich selbst aufpassen.", versicherte sie.
"Daran zweifle ich gar nicht. Aber die Gegend ist gefährlich und so spät ist nicht die Zeit für eine Frau, sich auf der Straße aufzuhalten."
Mary sah ihn zweifelnd an, während eine Augenbraue in die Höhe wanderte und sich ihr Blick auf etwas hinter Chris richtete. Dieser drehte sich um und erblickte Mirax, die er vollkommen vergessen hatte. Er seufzte.
"Sie haben mir ihre Freundin noch gar nicht vorgestellt."
Durch ihre Anwesenheit hatte Mirax Chris' einziges Argument zunichte gemacht und sie lächelte mit einem Ausdruck geheuchelter Unschuld, als dieser sie verärgert ansah. Dann seufzte er erneut und verdrehte die Augen.
"Mary, darf ich vorstellen: Mirax Terrik. Mirax, Mary Travis." Er wandte sich wieder an Mary. "Mirax ist eine alte Freundin, ich kenne sie schon einige Jahre. Sie hilft uns, McQuinn und Johnson zu schnappen.", erklärte er schnell.
Mary nickte. "Ich verstehe natürlich, dass das nicht so gefährlich für eine Frau ist, wie mitten in der Nacht in einer Kutsche zu fahren - allein, wohlgemerkt." Sie warf Mirax einen kurzen Blick zu und lächelte entschuldigend. "Tut mir leid, das ging nicht gegen sie."
Mirax lächelte zurück. Irgendwie mochte sie diese Frau schon jetzt. "Schon gut. Allerdings habe ich einen guten Grund, ihnen zu helfen. Diese Mistkerle haben nicht nur JD und Ezra entführt, sondern auch meine Partnerin. Und auch, wenn sie mir manchmal ganz schön auf die Nerven geht hätte ich sie gerne wieder zurück - an einem Stück versteht sich."
Mary sah sie verwundert an und fragte dann verwirrt: "Partnerin?"
"Mirax und Mara - ihre Partnerin - sind Kopfgeldjägerinnen. Sie haben McQuinn hergebracht, aber er ist mit Johnson geflohen."
Mary machte große Augen. Es war schon ungewöhnlich genug, dass Chris es zuließ, dass diese Frau ihm und seinen Leuten half - auch wenn sie eine Freundin war - aber dass sie dann auch noch eine Kopfgeldjägerin war? Und dazu anscheinend noch eine erfolgreiche, wenn sie es geschafft hatte McQuinn zu schnappen.
Mary lächelte, als ihr plötzlich eine Idee kam. Eigentlich war das doch einen Artikel im Clarion wert...
Chris bemerkte mit leichter Besorgnis dieses Lächeln, das er nur allzu gut kannte: Es bedeutete Ärger.
Schließlich räusperte er sich und meinte: "Vielleicht sollten sie sich etwas ausruhen, Mary. Immerhin ist es schon spät..." Er wollte ihr die Tasche abnehmen, aber Mary hielt sie außer Reichweite und funkelte ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Verärgerung an.
"Danke, Mister Larabee, aber ich glaube, das schaffe ich auch alleine... Gute Nacht." Damit verschwand sie durch die Tür des Clarion und schloss sie hinter sich wieder, ohne ein weiteres mal zurückzublicken.
Chris war so verdattert, dass er sogar vergaß sich zu verabschieden. Er starrte einige Sekunden lang auf die verschlossene Tür und schüttelte dann den Kopf, während Mirax ihn grinsend beobachtete.
Chris Larabee, einer der schnellsten und gefürchtetsten Revolverhelden in dieser Gegend, hatte solange Mirax ihn kannte noch nie ein Argument verloren - weder mit Waffen noch mit Worten. Und doch war er von dieser Frau soeben - und anscheinend nicht zum ersten Mal - vernichtend geschlagen worden.
Es war schön zu sehen, dass Chris endlich wieder anfing wirklich zu leben.
TBC...
