Phase 01 - Das Spiel
Kapitel 01: Wiedergeburt
"Schatz, aufstehen!" kam es gedämpft von der anderen Seite der Tür.
"Noch fünf Minuten", murmelte Rei, drehte sich auf die andere Seite, das Gesicht zur Wand hin
und zog sich die Decke über den Kopf.
"Rei, wenn du nicht aufstehst, kommst du zu spät zur Schule!"
So sehr sie sich auch bemühte, konnte sie die Stimme ihrer Mutter nicht ganz aus ihrem Kopf
verdrängen.
"Ach, Mama!"
Sie hörte, wie die Tür ihres Zimmers geöffnet wurde und ihre Mutter eintrat, im nächsten Mo-
ment wurde die Jalousie vor dem Fenster hochgezogen und helles Licht fiel in den Raum.
"Los, du Schlafmütze, du willst doch sicher heute etwas essen, bevor du los mußt, oder?"
Rei setzte sich auf und gähnte.
"Ich habe so schön geträumt."
"Ja? Wovon denn? Oder... von wem denn?"
Ihre Mutter trug bereits ihren Laborkittel, sah Rei aber neugierig an.
Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg.
"Ich... ah... von niemanden."
Rei blickte zur Uhr auf dem Nachtschränkchen.
"Ich muß mich beeilen..."
Sie sprang aus dem Bett, schnappte sich den Stapel Wäsche, welchen sie schon am Vorabend zu-
rechtgelegt hatte, und eilte aus dem Zimmer, über den schmalen Korridor der Wohnung, welche sie
mit ihrer Mutter, Doktor Ritsuko Akagi, bewohnte, ins gegenüberliegende Badezimmer.
"Nein? Naja... Wie war denn der erste Schultag gestern?" rief Ritsuko, während sie kopfschüt-
telnd das Bett ihrer Tochter machte.
"Ganz nett", drang es über das Rauschen von Wasser aus dem Bad.
"Und, wie sind deine Mitschüler?"
"Ich... ich habe noch niemanden kennengelernt."
"Ah, das ist schade. Es tut mir ja leid, daß wir mitten im Schuljahr nach Tokio gezogen sind,
aber ich konnte den Job im Forschungsinstitut wirklich nicht ablehnen."
"Mama, das haben wir doch ausgiebig besprochen, ich hätte ja auch bei Großmutter in Osaka
bleiben können. Wie war eigentlich dein erster Arbeitstag?"
Ritsuko Akagi lächelte dünn.
Sie versucht abzulenken... Rei, was hast du vor deiner alten Mutter zu verbergen?
"Streßig. Aber die Kollegen sind nett. Maya... das ist eine Doktorantin am Institut, hat mir
alles gezeigt, und die Teamleiterin, Doktor Yui Ikari, macht auch einen sympathischen Ein-
druck."
"Ikari? Sagtest du eben Ikari?"
Die Badezimmertür wurde aufgestoßen und Rei, bekleidet nur mit ihrer Unterwäsche, blickte sie
mit großen fragenden Augen an.
"Ja, wieso?"
"Ah, nichts."
Ritsuko trat auf den Korridor und ging zur Küchentür.
"Wenn du dich beeilst, kann ich dich an der Schule absetzen."
"Danke, Mama."
***
Kurz darauf saß Rei angetan mit ihrer Schuluniform am Eßtisch und kaute auf ihrem Toast herum,
neben ihr lehnte ihre Tasche gegen das Tischbein.
"Weshalb warst du so überrascht, als ich Doktor Ikaris Namen erwähnte?" fragte Ritsuko, welche
bereits mit dem Frühstück fertig war und gerade eine Thermoskanne mit Kaffee in ihrer eigenen
Tasche verstaute.
"In meiner Klasse ist ein Junge, der auch Ikari mit Nachnamen heißt, Shinji Ikari."
"Ah. Sicher nur eine Namensähnlichkeit."
"Ja, wahrscheinlich."
"Und, ist er nett, dieser Shinji?"
Rei verschluckte sich an ihrem Tee und hustete.
Ritsuko stand auf, ging um den Tisch herum und klopfte ihrer Tochter auf den Rücken, bis diese
aufhörte zu husten.
"Mama, frag mich doch nicht soetwas, ich kenne ihn doch kaum."
"Kaum? Also kennst du doch schon ein wenig?"
Da Ritsuko schräg hinter Rei stand, konnte diese nicht das amüsierte Lächeln auf ihrem Gesicht
sehen.
"Ah... Wir sind gestern morgen auf dem Schulweg ineinandergelaufen."
"Ineinandergelaufen?"
"Naja, ich kam um die Ecke und er kam von der anderen Seite und wir sind beide gelaufen und da
sind wir halt..."
"Ich kann es mir vorstellen."
Jetzt mußte Ritsuko doch lachen.
"Hat er sich entschuldigt?"
Rei nickte und trank ihren Tee aus.
"Ich muß los."
Sie griff nach ihrer Tasche und lief aus der Küche.
"Hey, ich wollte dich doch fahren..." rief Ritsuko ihr hinterher, hörte aber nur die Wohnungs-
tür zufallen. Mit einem breiten Grinsen ließ sie sich auf ihren Stuhl zurückfallen und ging
noch einmal den Inhalt ihrer Tasche durch.
"Hm", murmelte sie. "Ikari... Shinji Ikari... es wäre zwar ein zu großer Zufall, aber viel-
leicht gehört er zu Doktor Yuis Verwandtschaft. Ich müßte sie mal beiläufig fragen... Rei,
Kleine, du hast dich doch nicht etwa verguckt..."
Sie seufzte in dem Bewußtsein, daß ihre einzige Tochter mit ihren fast fünfzehn Jahren in die-
ser Beziehung eigentlich schon als Spätzünder bezeichnet werden konnte...
***
Am anderen Ende des Viertels hatte noch jemand Probleme damit, aufzustehen, oder besser, sich
aus dem Traum zu lösen, der ihn einen Gutteil der Nacht beschäftigt hatte. In dem Traum war es
um ein gewisses blauhaariges Mädchen mit blasser Haut und roten Augen gegangen, welches er am
Vortag erst kennengelernt hatte.
"Jetzt steht endlich auf, oder willst du, daß wir beide zu spät zur Schule kommen?"
Selbst das dicke Kopfkissen, unter welchem er den Kopf vergraben hatte, konnte die laute Stimme
seiner Peinigerin, welche zugleich seine beste Freundin war, nicht dämpfen.
"Asuka, warum läßt mich nicht einfach schlafen und gehst schon mal vor?" brummelte er.
"Das könnte dir so passen, Baka-Shinji! Wenn ich dich nicht jeden Morgen wecken würde, würdest
du den ganzen Schultag damit verbringen, wegen Zuspätkommens mit Wassereimern auf dem Gang zu
stehen!"
Obwohl er wußte, daß Widerstand zwecklos war, drückte das Kissen fester gegen sein Ohr und den
Kopf gegen die Matratze und versuchte, in seinen Traum zurückzukehren.
"Jetzt schwing deinen faulen Körper endlich aus dem Bett!" rief Asuka und zog ihm die Decke weg.
Damit hätte er rechnen müssen, schließlich gehörte dies zu ihren Lieblingstaktiken, ihn morgens
wachzubekommen.
"Ahh! Warum hast du denn keine Hosen an! Du Ferkel!"
Er zog die Knie an und bedeckte seine Blöße mit den Händen, was ihr widerum Gelegenheit gab,
ihm das Kissen wegzunehmen.
"Weshalb nimmst du mir auch die Decke fort!"
"Hentai!"
"Selber Hentai, du Spannerin!"
"Ich? Was soll ich dir denn schon weggucken? Da ist doch gar nichts!"
"Shinji, Asuka, die Schule fängt in zehn Minuten an!" kam die ermahnende Stimme seiner Mutter
aus dem Flur.
"Siehst du? Jetzt kommen wir vielleicht zu spät, nur weil du... ah, vergiß es!"
Asuka stürmte aus dem Zimmer.
"Ich warte unten an der Haustür!"
***
Fünf Minuten später verließ Shinji Ikari das Apartmenthaus, in dem er mit seinen Eltern wohnte,
ebenso wie Asuka mit ihren Eltern.
Der Rotschopf stand bereits in der Einfahrt des hauszugehörigen Parkplatzes und trat mit ge-
spielter Verärgerung von einem Bein auf das andere.
"Wenn Misato-sensei nicht selbst ständig zu spät kommen würde, würde ich mich gar nicht mehr
damit abgeben, dich jeden Morgen zu wecken. Seit zehn Jahren geht das nun schon so, und was ist
der Dank?" bekam er ihre Standpauke zu hören, ehe sie ihm zugrinste, rief "Wettlauf zur Schule!"
und losrannte.
Er hatte es sich schon längst abgewöhnt, sich darüber zu beschweren, daß sie derartige Heraus-
forderungen immer dann aussprach, wenn sie bereits einen gehörigen Vorsprung hatte.
Shinji seufzte und lief ihr hinterher.
***
Auf einem Hochhaus im Zentrum Tokios landete eine Regierungsmaschine ohne weitere Kennungen
auf dem dafür vorgesehenen Landefeld.
Zwei Menschen stiegen aus, ein Mann und Frau.
Der Mann war ein Eurasier, dem man schwerlich ansehen konnte, welche Vererbungsmerkmale seiner
Vorfahren in dieser Hinsicht dominierten. Er hat schwarzes Haar mit einem leichten Blauschimmer,
die Haut war blaß, das Gesicht scharf geschnitten.
Augenbrauen und Lippen erinnerten an dünne Striche, die Nase an den Schnabel eines Raubvogels.
Er hatte nur noch ein Auge von grauer Farbe, das andere wurde von einer ledernen schwarzen Au-
genklappe verborgen, eine helle Narbe teilte die linke Braue darüber in zwei ungleiche Teile.
Er war hochgewachsen und von schlanker Statur, trug dunkle Halbschuh und einen grauen
Trenchcoat über seinem dunklem Anzug.
Die Frau maß etwa einssechzig und hatte rabenschwarzes kurzes Haar, ihre Augen verbarg sie hin-
ter einer Brille mit getönten Scheiben. Ihre Haltung drückte Aufmerksamkeit aus.
Sie trug eine dunkle Stoffhose und bequeme Schuhe derselben Farbe, dazu eine weiße Bluse unter
der offenstehenden Lederjacke und einen schwarzen Handschuh über der rechten Hand.
Das Alter beider lag irgendwo zwischen dreißig und vierzig, beide trugen jeder einen schwarzen
Aktenkoffer in der Hand.
Sie wurden bereits erwartet, am Dachaufgang stand eine Frau mit goldblondem hüftlangen Haar,
eine Asiatin, gekleidet in einen hellen Geschäftsanzug. Sie lächelte, als sie dem Mann entge-
genging und ihn umarmte.
"Willkommen zurück in Japan, Thomas."
Der andere lächelte ebenfalls, wäre nicht die Wärme in seinem gesunden Auge gewesen, so hätte
sein Lächeln an das eines Totenschädels erinnert, derart spannte sich die Haut über den Knochen.
"Ich freue mich auch, dich zu sehen, Schwester."
Er erwiderte die Umarmung.
"Wo steckt Roderick?"
"Er ist beschäftigt, läßt aber grüßen; einer von uns mußte in Osaka bleiben beim Prototyp und
dem Testmodell."
"Verstehe."
Die Frau löste die Umarmung und wandte sich der schwarzhaarigen Begleiterin ihres Bruders zu,
reichte ihr die Hand.
"Fräulein Deiko."
"Lady Seléne."
Sie ergriff die dargebotene Hand mit der behandschuhten Rechten.
"Schön, daß ihr beide wieder da seid. Was konntet ihr in Erfahrung bringen?"
Thomas räusperte sich.
"Die Lage ist ernst, wir sollten alles ausführlich unten besprechen und dann das Team zusammen-
trommeln."
Seléne schloß kurz die Augen.
"Fünfzehn Jahre... Wir wußten, daß der Frieden nicht anhalten würde..."
"Wenigstens hatten wir Zeit, uns vorzubereiten." warf jene ein, die von Seléne Deiko genannt
worden war.
"Ja, aber wenn man bedenkt, welche Opfer nötig waren, allein, um den Kundschafter zu stop-
pen..."
"Schwester, ich war dabei, damals am Südpol", brummte Thomas und berührte kurz seine Augen-
klappe.
"Natürlich..."
"Es hat uns damals fast das gesamte Team gekostet - und es war nur einer, nur ein schwach be-
waffneter und gepanzerter Matriel-Kundschafter. Diesesmal wird die Gefahr von ganz anderen
Dimensionen sein, diesesmal werden sie eine Armee schicken."
"Das ist mir durchaus bewußt."
"In deinem letzten Bericht hattest du angedeutet, daß MARDUK endlich Erfolg vermelden
konnte, wie sieht es in dieser Beziehung aus, wurde ein Kandidat gefunden?"
"Ein potentieller Kandidat, wir beschränken uns zur Zeit darauf, ihn zu beobachten... Kommt,
Midori hat im Sitzungssaal bereits alles vorbereitet."
Sie verließen das Dach.
***
Rei stand an derselben Ecke, an der sie am Vortag mit Shinji zusammengestoßen war und blickte
vorsichtig um selbige, sah in der Ferne zwei Gestalten heranlaufen.
Beim Anblick Asukas verzog sie leicht das Gesicht, zu gut hatte sie ihren Streit mit der Rot-
haarigen noch im Gedächnis, der sich gestern fast über eine ganze Stunde hinweggezogen hatte,
sehr zur Freude ihrer Mitschüler und sogar der Lehrerin.
Hinter Asuka kam Shinji angelaufen und Rei mußte lächeln.
Warum fühle ich mich von ihm angezogen? Er ist nett, soweit ich das beurteilen kann, auf der
anderen Seite kenne ich ihn seit gestern... Und wenn diese Soryu seine Freundin ist? Könnte ich
überhaupt gegen sie ankommen? fragte sie sich. Zugleich jedoch kam sie zu der Überzeugung, daß
Shinji und Asuka kaum mehr als gute Freunde sein dürften, auch wenn sie nicht wußte, woher sie
dieses Wissen bezog. Sicher, ihr erster Eindruck von ihm war alles andere als vorteilhaft gewe-
sen, doch nachdem er sich nach dem Unricht am Vortag stammeln und mit vielen Worten und irgend-
wie... süß... entschuldigt hatte, konnte sie ihm nicht mehr böse sein.
Sie trat einen Schritt zurück, um von Asuka nicht gesehen zu werden, welche kurz darauf an ihr
vorbeilief. Dann lief sie selber los - und kollidierte mit Shinji.
"Au!" rief Rei, als sie auf ihrem Hintern landete.
"Uhm, entschuldige..." stotterte Shinji.
"Du schon wieder."
Sie rieb sich den Kopf, als ob dieser schmerzte.
"Kannst du nicht aufpassen?"
"Es tut mir leid."
Sichtlich verlegen kam er auf die Beine und klopfte sich den Staub von der Kleidung.
"Naja, schon gut."
Sie lächelte zaghaft.
"Hilfst du mir auf?"
"Oh, ja, natürlich."
Sie ergriff die dargebotene Hand, ließ sich auf die Füße helfen.
"Dummkopf, wo bleibst du denn?" rief Asuka aus einiger Entfernung, nachdem sie bemerkt hatte,
daß Shinji nicht mehr hinter ihr war.
"Argh! Was machst du denn da schon wieder?!"
"Uhm, du hörst ja, ich muß..." setzte Shinji an und wollte sich schon abwenden, als Rei fragte:
"Sie hat dich ganz schön im Griff, was?"
Er hielt inne.
"Öh, nein, so ist das nicht."
"Ja? Sie ruft und du läufst, wie ein altes Ehepaar."
Dabei lächelte sie, nahm so ihren Worten die Schärfe.
"Ah..." brachte er nur heraus, derart nahm ihn ihr Lächeln gefangen. "Äh... Asuka und ich
wohnen im selben Haus, seit fast acht Jahren gehen wir zusammen zur Schule..."
"So ist das. Hm, ab hier haben wir den gleichen Weg, hättest du etwas dagegen, wenn wir uns in
Zukunft hier an der Ecke treffen und den Rest zusammen gehen? - Ohne weitere Zusammenstöße,
natürlich."
"Nein, da hätte ich nichts gegen", beeilte er sich zu sagen.
Mittlerweile hatte Asuka umgedreht und näherte sich den beiden.
"Wird das heute noch ´was, Baka-Shinji, oder willst du hier Wurzeln schlagen? Hey, Arami, kannst
du nicht ein wenig achtgeben? Oder läufst du auch über die Straße, ohne nach links und rechts
zu sehen?"
"Ich heiße Akagi", verbesserte Rei. "Rei Akagi, Asuka Soryu."
"Uhm, Rei und ich sind gerade übereingekommen, daß wir in Zukunft ab hier zusammen zur Schule
gehen, das ist doch toll, oder? Ich meine, du hattest doch letztens noch gesagt, du würdest es
bedauern, daß keine deiner Freundinnen auf unserem Schulweg wohnt, und..." bemühte Shinji sich,
den wieder aufkeimenden Streit noch im Entstehen zu vereiteln.
"Ja, wirklich toll, Baka-Shinji. Ist dir schon aufgegangen, daß Wondergirl hier nicht zu meinen
Freundinnen gehört?"
"Aber... ah... ihr könntet euch doch anfreunden."
"Da hätte ich nichts dagegen", lächelte Rei. "Warum sollen wir uns auch streiten? Immerhin...",
sie blickte auf ihre Armbanduhr und murmelte etwas unverständliches, "fängt die Schule gerade
jetzt an!"
Sie riß die Augen auf.
Wie auf ein geheimes Kommando hin liefen alle drei gleichzeitig los.
***
Es klopfte an der Bürotür.
"Doktor Ikari?"
Doktor Yui Ikari, stellvertretende Leiterin des Forschungsinstitutes für Genetik, sah zur Tür,
diese war nur angelehnt.
"Ja?"
Ein älterer Mann trat ein, er trug einen langen rotbraunen Mantel und stützte sich schwer auf
einen Gehstock. Er hatte schütteres graues Haar, seine Schädelplatte war fast blank, die Augen
befanden sich hinter dicken kantigen Brillengläsern.
"Ich bin Lorenz Keel, wir waren verabredet."
"Ach ja, Herr Keel, kommen Sie doch herein."
Yui stand auf und räumte die Unterlagen, in denen sie gerade gelesen hatte, zur Seite, deutete
auf einen freien Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
"Bitte, setzen Sie sich doch."
"Vielen Dank. Ich weiß, ich bin etwas früh dran, der Termin ist eigentlich erst in zehn Minu-
ten..."
"Das ist kein Problem. Ich freue mich, Sie persönlich kennenzulernen, Professor Fuyutsuki
spricht nur in den höchsten Tönen von ihnen."
Keel bewegte die Lippen zu einem ausdrucklosen Lächeln.
"Nun, auch ich habe schon einiges über Sie gehört, Doktor Ikari, demnach sind Sie der aufstei-
gende Stern am Genetikerhimmel."
"Zuviel des Lobes, ich tue nur meine Arbeit."
"...welche von dem Kommite, dem ich vorsitze, mit finanziert wird. Ihr derzeitiges Projekt, die
abschließende und endgültige Entschüsselung der menschlichen DNA wird von uns mit großem Inte-
resse verfolgt."
"Äh, ja. Sicher liegen Ihnen dann auch die Berichte über den Fortgang dieses und der anderen
laufenden Projekt vor."
"Natürlich. Und die von Ihnen aufgestellten Prognosen sind äußerst interessant, besonders die
postulierten Möglichkeiten, gezielte Mutationen gewisser Art hervorzurufen..."
"Ja, aber das sind nur Gedankenspielereien, in erster Linie geht es schließlich um die Korrek-
tur genetischer Defekte, wie zum Beispiel Erbkrankheiten, sowie die Verlängerung der menschli-
chen Lebensspanne. Wenn die menschliche DNA ersteinmal komplett entschlüsselt ist und wir
wissen, wie man sie gezielt manipulieren kann, auch am lebenden Menschen, dann gehören Krank-
heiten der Vergangenheit an, dann wird es zum Beispiel nicht mehr nötig sein, Gliedmaßen bei
Unfall- und Kriegsopfern zu klonen, sondern der Körper kann direkt zur Regeneration angeregt
werden."
"Ein nobles Ziel, Doktor Ikari. Die Frage, vor welcher meine Gruppe steht, lautet nur, wielan-
ge dies noch dauern wird." Er schlug einen versöhnlicheren Tonfall an. "Sehen Sie, wir alle,
das heißt sämtliche Angehörige des Kommitees, sind bereits im fortgeschrittenen Alter, eine
Gruppe alter Männer, wenn Sie es so nennen wollen, deshalb haben wir besonderes Interesse an
dieser Wunderkur."
"Nun, Wunder kann ich Ihnen natürlich nicht versprechen, aber wir sind schon ein ganzes Stück
vorangekommen. In einem Vierteljahr sollte eine erste experimentelle Gen-Therapie möglich sein,
mit welcher der Körper um, sagen wir, zehn bis fünfzehn Jahre verjüngt werden kann."
"Das sind interessante Aussichten, ich hoffe, Sie bei Zeiten beim Wort nehmen zu können."
Er blickte auf die Uhr.
"Ah, so spät schon... Verzeihen Sie bitte meine Unhöflichkeit, aber ich habe noch andere Ter-
mine zu wahren, in meinem Alter darf man nicht zu sorglos mit seiner Zeit umgehen."
Keel erhob sich mit einem lauten Ächzen und ging langsam zur Tür.
"Ich verstehe. Soll ich Sie noch nach unten begleiten?"
"Das ist nicht nötig, ich finde meinen Weg allein. Vielen Dank für Ihre Zeit, Doktor Ikari."
Er verließ das Büro.
Yui starrte noch eine Weile auf die offenstehende Tür.
Warum werde ich das Gefühl nicht los, daß es ihm gar nicht um die Heilungsmöglichkeiten ging,
welche aus unserer Arbeit hier erwachsen werden, sondern um viel dunklerere Ziele...
Kapitel 01: Wiedergeburt
"Schatz, aufstehen!" kam es gedämpft von der anderen Seite der Tür.
"Noch fünf Minuten", murmelte Rei, drehte sich auf die andere Seite, das Gesicht zur Wand hin
und zog sich die Decke über den Kopf.
"Rei, wenn du nicht aufstehst, kommst du zu spät zur Schule!"
So sehr sie sich auch bemühte, konnte sie die Stimme ihrer Mutter nicht ganz aus ihrem Kopf
verdrängen.
"Ach, Mama!"
Sie hörte, wie die Tür ihres Zimmers geöffnet wurde und ihre Mutter eintrat, im nächsten Mo-
ment wurde die Jalousie vor dem Fenster hochgezogen und helles Licht fiel in den Raum.
"Los, du Schlafmütze, du willst doch sicher heute etwas essen, bevor du los mußt, oder?"
Rei setzte sich auf und gähnte.
"Ich habe so schön geträumt."
"Ja? Wovon denn? Oder... von wem denn?"
Ihre Mutter trug bereits ihren Laborkittel, sah Rei aber neugierig an.
Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg.
"Ich... ah... von niemanden."
Rei blickte zur Uhr auf dem Nachtschränkchen.
"Ich muß mich beeilen..."
Sie sprang aus dem Bett, schnappte sich den Stapel Wäsche, welchen sie schon am Vorabend zu-
rechtgelegt hatte, und eilte aus dem Zimmer, über den schmalen Korridor der Wohnung, welche sie
mit ihrer Mutter, Doktor Ritsuko Akagi, bewohnte, ins gegenüberliegende Badezimmer.
"Nein? Naja... Wie war denn der erste Schultag gestern?" rief Ritsuko, während sie kopfschüt-
telnd das Bett ihrer Tochter machte.
"Ganz nett", drang es über das Rauschen von Wasser aus dem Bad.
"Und, wie sind deine Mitschüler?"
"Ich... ich habe noch niemanden kennengelernt."
"Ah, das ist schade. Es tut mir ja leid, daß wir mitten im Schuljahr nach Tokio gezogen sind,
aber ich konnte den Job im Forschungsinstitut wirklich nicht ablehnen."
"Mama, das haben wir doch ausgiebig besprochen, ich hätte ja auch bei Großmutter in Osaka
bleiben können. Wie war eigentlich dein erster Arbeitstag?"
Ritsuko Akagi lächelte dünn.
Sie versucht abzulenken... Rei, was hast du vor deiner alten Mutter zu verbergen?
"Streßig. Aber die Kollegen sind nett. Maya... das ist eine Doktorantin am Institut, hat mir
alles gezeigt, und die Teamleiterin, Doktor Yui Ikari, macht auch einen sympathischen Ein-
druck."
"Ikari? Sagtest du eben Ikari?"
Die Badezimmertür wurde aufgestoßen und Rei, bekleidet nur mit ihrer Unterwäsche, blickte sie
mit großen fragenden Augen an.
"Ja, wieso?"
"Ah, nichts."
Ritsuko trat auf den Korridor und ging zur Küchentür.
"Wenn du dich beeilst, kann ich dich an der Schule absetzen."
"Danke, Mama."
***
Kurz darauf saß Rei angetan mit ihrer Schuluniform am Eßtisch und kaute auf ihrem Toast herum,
neben ihr lehnte ihre Tasche gegen das Tischbein.
"Weshalb warst du so überrascht, als ich Doktor Ikaris Namen erwähnte?" fragte Ritsuko, welche
bereits mit dem Frühstück fertig war und gerade eine Thermoskanne mit Kaffee in ihrer eigenen
Tasche verstaute.
"In meiner Klasse ist ein Junge, der auch Ikari mit Nachnamen heißt, Shinji Ikari."
"Ah. Sicher nur eine Namensähnlichkeit."
"Ja, wahrscheinlich."
"Und, ist er nett, dieser Shinji?"
Rei verschluckte sich an ihrem Tee und hustete.
Ritsuko stand auf, ging um den Tisch herum und klopfte ihrer Tochter auf den Rücken, bis diese
aufhörte zu husten.
"Mama, frag mich doch nicht soetwas, ich kenne ihn doch kaum."
"Kaum? Also kennst du doch schon ein wenig?"
Da Ritsuko schräg hinter Rei stand, konnte diese nicht das amüsierte Lächeln auf ihrem Gesicht
sehen.
"Ah... Wir sind gestern morgen auf dem Schulweg ineinandergelaufen."
"Ineinandergelaufen?"
"Naja, ich kam um die Ecke und er kam von der anderen Seite und wir sind beide gelaufen und da
sind wir halt..."
"Ich kann es mir vorstellen."
Jetzt mußte Ritsuko doch lachen.
"Hat er sich entschuldigt?"
Rei nickte und trank ihren Tee aus.
"Ich muß los."
Sie griff nach ihrer Tasche und lief aus der Küche.
"Hey, ich wollte dich doch fahren..." rief Ritsuko ihr hinterher, hörte aber nur die Wohnungs-
tür zufallen. Mit einem breiten Grinsen ließ sie sich auf ihren Stuhl zurückfallen und ging
noch einmal den Inhalt ihrer Tasche durch.
"Hm", murmelte sie. "Ikari... Shinji Ikari... es wäre zwar ein zu großer Zufall, aber viel-
leicht gehört er zu Doktor Yuis Verwandtschaft. Ich müßte sie mal beiläufig fragen... Rei,
Kleine, du hast dich doch nicht etwa verguckt..."
Sie seufzte in dem Bewußtsein, daß ihre einzige Tochter mit ihren fast fünfzehn Jahren in die-
ser Beziehung eigentlich schon als Spätzünder bezeichnet werden konnte...
***
Am anderen Ende des Viertels hatte noch jemand Probleme damit, aufzustehen, oder besser, sich
aus dem Traum zu lösen, der ihn einen Gutteil der Nacht beschäftigt hatte. In dem Traum war es
um ein gewisses blauhaariges Mädchen mit blasser Haut und roten Augen gegangen, welches er am
Vortag erst kennengelernt hatte.
"Jetzt steht endlich auf, oder willst du, daß wir beide zu spät zur Schule kommen?"
Selbst das dicke Kopfkissen, unter welchem er den Kopf vergraben hatte, konnte die laute Stimme
seiner Peinigerin, welche zugleich seine beste Freundin war, nicht dämpfen.
"Asuka, warum läßt mich nicht einfach schlafen und gehst schon mal vor?" brummelte er.
"Das könnte dir so passen, Baka-Shinji! Wenn ich dich nicht jeden Morgen wecken würde, würdest
du den ganzen Schultag damit verbringen, wegen Zuspätkommens mit Wassereimern auf dem Gang zu
stehen!"
Obwohl er wußte, daß Widerstand zwecklos war, drückte das Kissen fester gegen sein Ohr und den
Kopf gegen die Matratze und versuchte, in seinen Traum zurückzukehren.
"Jetzt schwing deinen faulen Körper endlich aus dem Bett!" rief Asuka und zog ihm die Decke weg.
Damit hätte er rechnen müssen, schließlich gehörte dies zu ihren Lieblingstaktiken, ihn morgens
wachzubekommen.
"Ahh! Warum hast du denn keine Hosen an! Du Ferkel!"
Er zog die Knie an und bedeckte seine Blöße mit den Händen, was ihr widerum Gelegenheit gab,
ihm das Kissen wegzunehmen.
"Weshalb nimmst du mir auch die Decke fort!"
"Hentai!"
"Selber Hentai, du Spannerin!"
"Ich? Was soll ich dir denn schon weggucken? Da ist doch gar nichts!"
"Shinji, Asuka, die Schule fängt in zehn Minuten an!" kam die ermahnende Stimme seiner Mutter
aus dem Flur.
"Siehst du? Jetzt kommen wir vielleicht zu spät, nur weil du... ah, vergiß es!"
Asuka stürmte aus dem Zimmer.
"Ich warte unten an der Haustür!"
***
Fünf Minuten später verließ Shinji Ikari das Apartmenthaus, in dem er mit seinen Eltern wohnte,
ebenso wie Asuka mit ihren Eltern.
Der Rotschopf stand bereits in der Einfahrt des hauszugehörigen Parkplatzes und trat mit ge-
spielter Verärgerung von einem Bein auf das andere.
"Wenn Misato-sensei nicht selbst ständig zu spät kommen würde, würde ich mich gar nicht mehr
damit abgeben, dich jeden Morgen zu wecken. Seit zehn Jahren geht das nun schon so, und was ist
der Dank?" bekam er ihre Standpauke zu hören, ehe sie ihm zugrinste, rief "Wettlauf zur Schule!"
und losrannte.
Er hatte es sich schon längst abgewöhnt, sich darüber zu beschweren, daß sie derartige Heraus-
forderungen immer dann aussprach, wenn sie bereits einen gehörigen Vorsprung hatte.
Shinji seufzte und lief ihr hinterher.
***
Auf einem Hochhaus im Zentrum Tokios landete eine Regierungsmaschine ohne weitere Kennungen
auf dem dafür vorgesehenen Landefeld.
Zwei Menschen stiegen aus, ein Mann und Frau.
Der Mann war ein Eurasier, dem man schwerlich ansehen konnte, welche Vererbungsmerkmale seiner
Vorfahren in dieser Hinsicht dominierten. Er hat schwarzes Haar mit einem leichten Blauschimmer,
die Haut war blaß, das Gesicht scharf geschnitten.
Augenbrauen und Lippen erinnerten an dünne Striche, die Nase an den Schnabel eines Raubvogels.
Er hatte nur noch ein Auge von grauer Farbe, das andere wurde von einer ledernen schwarzen Au-
genklappe verborgen, eine helle Narbe teilte die linke Braue darüber in zwei ungleiche Teile.
Er war hochgewachsen und von schlanker Statur, trug dunkle Halbschuh und einen grauen
Trenchcoat über seinem dunklem Anzug.
Die Frau maß etwa einssechzig und hatte rabenschwarzes kurzes Haar, ihre Augen verbarg sie hin-
ter einer Brille mit getönten Scheiben. Ihre Haltung drückte Aufmerksamkeit aus.
Sie trug eine dunkle Stoffhose und bequeme Schuhe derselben Farbe, dazu eine weiße Bluse unter
der offenstehenden Lederjacke und einen schwarzen Handschuh über der rechten Hand.
Das Alter beider lag irgendwo zwischen dreißig und vierzig, beide trugen jeder einen schwarzen
Aktenkoffer in der Hand.
Sie wurden bereits erwartet, am Dachaufgang stand eine Frau mit goldblondem hüftlangen Haar,
eine Asiatin, gekleidet in einen hellen Geschäftsanzug. Sie lächelte, als sie dem Mann entge-
genging und ihn umarmte.
"Willkommen zurück in Japan, Thomas."
Der andere lächelte ebenfalls, wäre nicht die Wärme in seinem gesunden Auge gewesen, so hätte
sein Lächeln an das eines Totenschädels erinnert, derart spannte sich die Haut über den Knochen.
"Ich freue mich auch, dich zu sehen, Schwester."
Er erwiderte die Umarmung.
"Wo steckt Roderick?"
"Er ist beschäftigt, läßt aber grüßen; einer von uns mußte in Osaka bleiben beim Prototyp und
dem Testmodell."
"Verstehe."
Die Frau löste die Umarmung und wandte sich der schwarzhaarigen Begleiterin ihres Bruders zu,
reichte ihr die Hand.
"Fräulein Deiko."
"Lady Seléne."
Sie ergriff die dargebotene Hand mit der behandschuhten Rechten.
"Schön, daß ihr beide wieder da seid. Was konntet ihr in Erfahrung bringen?"
Thomas räusperte sich.
"Die Lage ist ernst, wir sollten alles ausführlich unten besprechen und dann das Team zusammen-
trommeln."
Seléne schloß kurz die Augen.
"Fünfzehn Jahre... Wir wußten, daß der Frieden nicht anhalten würde..."
"Wenigstens hatten wir Zeit, uns vorzubereiten." warf jene ein, die von Seléne Deiko genannt
worden war.
"Ja, aber wenn man bedenkt, welche Opfer nötig waren, allein, um den Kundschafter zu stop-
pen..."
"Schwester, ich war dabei, damals am Südpol", brummte Thomas und berührte kurz seine Augen-
klappe.
"Natürlich..."
"Es hat uns damals fast das gesamte Team gekostet - und es war nur einer, nur ein schwach be-
waffneter und gepanzerter Matriel-Kundschafter. Diesesmal wird die Gefahr von ganz anderen
Dimensionen sein, diesesmal werden sie eine Armee schicken."
"Das ist mir durchaus bewußt."
"In deinem letzten Bericht hattest du angedeutet, daß MARDUK endlich Erfolg vermelden
konnte, wie sieht es in dieser Beziehung aus, wurde ein Kandidat gefunden?"
"Ein potentieller Kandidat, wir beschränken uns zur Zeit darauf, ihn zu beobachten... Kommt,
Midori hat im Sitzungssaal bereits alles vorbereitet."
Sie verließen das Dach.
***
Rei stand an derselben Ecke, an der sie am Vortag mit Shinji zusammengestoßen war und blickte
vorsichtig um selbige, sah in der Ferne zwei Gestalten heranlaufen.
Beim Anblick Asukas verzog sie leicht das Gesicht, zu gut hatte sie ihren Streit mit der Rot-
haarigen noch im Gedächnis, der sich gestern fast über eine ganze Stunde hinweggezogen hatte,
sehr zur Freude ihrer Mitschüler und sogar der Lehrerin.
Hinter Asuka kam Shinji angelaufen und Rei mußte lächeln.
Warum fühle ich mich von ihm angezogen? Er ist nett, soweit ich das beurteilen kann, auf der
anderen Seite kenne ich ihn seit gestern... Und wenn diese Soryu seine Freundin ist? Könnte ich
überhaupt gegen sie ankommen? fragte sie sich. Zugleich jedoch kam sie zu der Überzeugung, daß
Shinji und Asuka kaum mehr als gute Freunde sein dürften, auch wenn sie nicht wußte, woher sie
dieses Wissen bezog. Sicher, ihr erster Eindruck von ihm war alles andere als vorteilhaft gewe-
sen, doch nachdem er sich nach dem Unricht am Vortag stammeln und mit vielen Worten und irgend-
wie... süß... entschuldigt hatte, konnte sie ihm nicht mehr böse sein.
Sie trat einen Schritt zurück, um von Asuka nicht gesehen zu werden, welche kurz darauf an ihr
vorbeilief. Dann lief sie selber los - und kollidierte mit Shinji.
"Au!" rief Rei, als sie auf ihrem Hintern landete.
"Uhm, entschuldige..." stotterte Shinji.
"Du schon wieder."
Sie rieb sich den Kopf, als ob dieser schmerzte.
"Kannst du nicht aufpassen?"
"Es tut mir leid."
Sichtlich verlegen kam er auf die Beine und klopfte sich den Staub von der Kleidung.
"Naja, schon gut."
Sie lächelte zaghaft.
"Hilfst du mir auf?"
"Oh, ja, natürlich."
Sie ergriff die dargebotene Hand, ließ sich auf die Füße helfen.
"Dummkopf, wo bleibst du denn?" rief Asuka aus einiger Entfernung, nachdem sie bemerkt hatte,
daß Shinji nicht mehr hinter ihr war.
"Argh! Was machst du denn da schon wieder?!"
"Uhm, du hörst ja, ich muß..." setzte Shinji an und wollte sich schon abwenden, als Rei fragte:
"Sie hat dich ganz schön im Griff, was?"
Er hielt inne.
"Öh, nein, so ist das nicht."
"Ja? Sie ruft und du läufst, wie ein altes Ehepaar."
Dabei lächelte sie, nahm so ihren Worten die Schärfe.
"Ah..." brachte er nur heraus, derart nahm ihn ihr Lächeln gefangen. "Äh... Asuka und ich
wohnen im selben Haus, seit fast acht Jahren gehen wir zusammen zur Schule..."
"So ist das. Hm, ab hier haben wir den gleichen Weg, hättest du etwas dagegen, wenn wir uns in
Zukunft hier an der Ecke treffen und den Rest zusammen gehen? - Ohne weitere Zusammenstöße,
natürlich."
"Nein, da hätte ich nichts gegen", beeilte er sich zu sagen.
Mittlerweile hatte Asuka umgedreht und näherte sich den beiden.
"Wird das heute noch ´was, Baka-Shinji, oder willst du hier Wurzeln schlagen? Hey, Arami, kannst
du nicht ein wenig achtgeben? Oder läufst du auch über die Straße, ohne nach links und rechts
zu sehen?"
"Ich heiße Akagi", verbesserte Rei. "Rei Akagi, Asuka Soryu."
"Uhm, Rei und ich sind gerade übereingekommen, daß wir in Zukunft ab hier zusammen zur Schule
gehen, das ist doch toll, oder? Ich meine, du hattest doch letztens noch gesagt, du würdest es
bedauern, daß keine deiner Freundinnen auf unserem Schulweg wohnt, und..." bemühte Shinji sich,
den wieder aufkeimenden Streit noch im Entstehen zu vereiteln.
"Ja, wirklich toll, Baka-Shinji. Ist dir schon aufgegangen, daß Wondergirl hier nicht zu meinen
Freundinnen gehört?"
"Aber... ah... ihr könntet euch doch anfreunden."
"Da hätte ich nichts dagegen", lächelte Rei. "Warum sollen wir uns auch streiten? Immerhin...",
sie blickte auf ihre Armbanduhr und murmelte etwas unverständliches, "fängt die Schule gerade
jetzt an!"
Sie riß die Augen auf.
Wie auf ein geheimes Kommando hin liefen alle drei gleichzeitig los.
***
Es klopfte an der Bürotür.
"Doktor Ikari?"
Doktor Yui Ikari, stellvertretende Leiterin des Forschungsinstitutes für Genetik, sah zur Tür,
diese war nur angelehnt.
"Ja?"
Ein älterer Mann trat ein, er trug einen langen rotbraunen Mantel und stützte sich schwer auf
einen Gehstock. Er hatte schütteres graues Haar, seine Schädelplatte war fast blank, die Augen
befanden sich hinter dicken kantigen Brillengläsern.
"Ich bin Lorenz Keel, wir waren verabredet."
"Ach ja, Herr Keel, kommen Sie doch herein."
Yui stand auf und räumte die Unterlagen, in denen sie gerade gelesen hatte, zur Seite, deutete
auf einen freien Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
"Bitte, setzen Sie sich doch."
"Vielen Dank. Ich weiß, ich bin etwas früh dran, der Termin ist eigentlich erst in zehn Minu-
ten..."
"Das ist kein Problem. Ich freue mich, Sie persönlich kennenzulernen, Professor Fuyutsuki
spricht nur in den höchsten Tönen von ihnen."
Keel bewegte die Lippen zu einem ausdrucklosen Lächeln.
"Nun, auch ich habe schon einiges über Sie gehört, Doktor Ikari, demnach sind Sie der aufstei-
gende Stern am Genetikerhimmel."
"Zuviel des Lobes, ich tue nur meine Arbeit."
"...welche von dem Kommite, dem ich vorsitze, mit finanziert wird. Ihr derzeitiges Projekt, die
abschließende und endgültige Entschüsselung der menschlichen DNA wird von uns mit großem Inte-
resse verfolgt."
"Äh, ja. Sicher liegen Ihnen dann auch die Berichte über den Fortgang dieses und der anderen
laufenden Projekt vor."
"Natürlich. Und die von Ihnen aufgestellten Prognosen sind äußerst interessant, besonders die
postulierten Möglichkeiten, gezielte Mutationen gewisser Art hervorzurufen..."
"Ja, aber das sind nur Gedankenspielereien, in erster Linie geht es schließlich um die Korrek-
tur genetischer Defekte, wie zum Beispiel Erbkrankheiten, sowie die Verlängerung der menschli-
chen Lebensspanne. Wenn die menschliche DNA ersteinmal komplett entschlüsselt ist und wir
wissen, wie man sie gezielt manipulieren kann, auch am lebenden Menschen, dann gehören Krank-
heiten der Vergangenheit an, dann wird es zum Beispiel nicht mehr nötig sein, Gliedmaßen bei
Unfall- und Kriegsopfern zu klonen, sondern der Körper kann direkt zur Regeneration angeregt
werden."
"Ein nobles Ziel, Doktor Ikari. Die Frage, vor welcher meine Gruppe steht, lautet nur, wielan-
ge dies noch dauern wird." Er schlug einen versöhnlicheren Tonfall an. "Sehen Sie, wir alle,
das heißt sämtliche Angehörige des Kommitees, sind bereits im fortgeschrittenen Alter, eine
Gruppe alter Männer, wenn Sie es so nennen wollen, deshalb haben wir besonderes Interesse an
dieser Wunderkur."
"Nun, Wunder kann ich Ihnen natürlich nicht versprechen, aber wir sind schon ein ganzes Stück
vorangekommen. In einem Vierteljahr sollte eine erste experimentelle Gen-Therapie möglich sein,
mit welcher der Körper um, sagen wir, zehn bis fünfzehn Jahre verjüngt werden kann."
"Das sind interessante Aussichten, ich hoffe, Sie bei Zeiten beim Wort nehmen zu können."
Er blickte auf die Uhr.
"Ah, so spät schon... Verzeihen Sie bitte meine Unhöflichkeit, aber ich habe noch andere Ter-
mine zu wahren, in meinem Alter darf man nicht zu sorglos mit seiner Zeit umgehen."
Keel erhob sich mit einem lauten Ächzen und ging langsam zur Tür.
"Ich verstehe. Soll ich Sie noch nach unten begleiten?"
"Das ist nicht nötig, ich finde meinen Weg allein. Vielen Dank für Ihre Zeit, Doktor Ikari."
Er verließ das Büro.
Yui starrte noch eine Weile auf die offenstehende Tür.
Warum werde ich das Gefühl nicht los, daß es ihm gar nicht um die Heilungsmöglichkeiten ging,
welche aus unserer Arbeit hier erwachsen werden, sondern um viel dunklerere Ziele...
