Kapitel 05: Schattenspiele
Vor zehn Jahren:
"Mama, warum habe ich keinen Papa wie die anderen?"
Ritsuko Akagi zuckte bei der Frage ihrer vierjährigen Tochter zusammen. Der heiße Kaffee in ihrer Tasse schwappte über den Rand und auf ihren Laborkittel. Erschrocken blickte sie zu ihrer Mutter hinüber, die auf der anderen Seite am Tisch saß.
Naoko Akagi sah sie ernst an und zuckte mit den Schultern.
"Irgendwann mußte diese Frage kommen, das war dir doch klar, Ritsuko, oder?"
"Ja..."
Sie wandte sich ihrer kleinen Tochter zu, die aus großen Augen zu ihr hinaufsah.
"Rei..."
Das blauhaarige Mädchen legte den Kopf erwartungsvoll schräg, während es die Hände hinter dem Rücken verschränkte.
Rei Akagi trug eine hellblaue Bluse und ein ärmelloses weinrotes Kleidchen, das ihr bis zum Knie ging, dazu weiße Söckchen.
"Ja, Mama?"
"Hör zu, ich... du bist noch nicht alt genug, um..."
"Aber die anderen Kinder haben alle einen Papa. Wo ist mein Papa?"
"Rei, dein... Vater... ich... er ist auf Reisen, schon sehr lange... er mußte damals dringend fort... noch bevor du auf die Welt kamst... und..."
Sie schluckte, suchte fieberhaft nach weiteren Worten..., weiteren Lügen...
"Rei-chan, ich habe mit deiner Mutter dringend etwas zu besprechen." warf Naoko ein.
"Geh doch schon ´mal in dein Zimmer und zieh dich um, Großmutter kommt dann und liest
dir etwas vor."
"Aus dem Märchenbuch?"
"Ja."
Sie lächelte.
"Du mußt auch kommen, Mama, Großmutter kennt ganz tolle Geschichten."
Ritsuko lächelte gezwungen.
"Natürlich, Schatz. Und vergiß nicht, dir die Zähne zu putzen."
"Ja, Mama."
Rei lief aus der Küche und ins Bad.
Die jüngere Akagi seufzte.
"Das kam überraschend... Wie ein Schlagen in den Magen..."
Naoko nickte nur.
"Früher oder später wollen sie alle wissen, woher sie kommen... Und ohne Vater aufzuwachsen, ist auch alles andere als einfach, Ritsuko. Du hast mir damals ähnliche Fragen gestellt."
"Ja, aber Vater ist bei einem Unfall gestorben..." Mit einem Anflug von Angst blickte sie ihre Mutter an. "Das ist doch die Wahrheit, oder?"
Naokos Gesicht verdüsterte sich.
"Ja. Ich habe mich nicht von einem Kerl in der Disko aufreißen und schwängern lassen!"
"Mutter!"
"Ritsuko, tut mir leid, aber deine Frage wegen deines Vaters..."
"Naja, eigentlich war es ja auch so..."
Sie blickte in ihre Kaffeetasse, als könnte sie in der tiefschwarzen Brühe die Lösung des Problemes finden.
"Ich habe ihren Vater in der Disko kennengelernt, wir waren beide betrunken, eines führte zum anderen und als ich am nächsten Morgen wieder erwachte, war er schon fort... und ich war mit Rei schwanger..."
"Nun, ich habe dir damals die möglichen Alternativen aufgezeigt, aber für dich kam weder eine Abtreibung, doch eine Freigabe des Kindes zur Adoption in Frage... letzteres hätte ich auch nicht mehr zugelassen, nachdem ich sie das erste Mal gesehen hatte."
"Ja... Aber... ich könnte ihr nicht einmal den Namen ihres Vaters sagen, wenn sie mich fragen würde, einfach, weil ich mich nicht mehr erinnere..."
"Hm", Naoko schnaubte verächtlich. "Er hatte seinen Spaß mit dir und ist dann verschwunden, so sind die meisten Kerle eben..."
Sie wollte noch mehr sagen, doch da sah sie, daß ihre einzige Enkelin in der offenen Küchentür stand, schon in ihrem Nachthemd, und ihnen aus geweiteten Augen zuhörte.
"Rei...!"
Das Mädchen lief weinend auf sein Zimmer...
***
Heute:
Der Expreßaufzug fuhr bereits seit einer Ewigkeit in die Tiefe.
Längst war die Leuchtanzeige erloschen, nachdem das zehnte Kellergeschoß des Hochhauses passiert worden war.
Seléne Shigen war es gewohnt zu warten. Sie lehnte an der Rückwand der Liftkabine und blätterte in den Ausdrucken der Personaldateien der potentiellen Kandidaten.
Ein leises ´pling´ deutete an, daß die Fahrt dem Ende entgegenging.
Sie rollte die Papiere zusammen und betätigte einen Knopf am Tastenfeld.
Als Reaktion verloren die Wände der Kabine ihre metallgraue Farbe, wurden größtenteils durchsichtig.
Der Aufzug fuhr jetzt in einer gläsernen Röhre.
Unter ihr erstreckte sich ein weiter Hohlraum, der von riesigen an der Decke montierten Scheinwerfern mehr schlecht als recht ausgeleuchtet wurde.
Der Anblick bewegte jedesmal etwas in ihr, verursachte ein Gefühl von Demut, ließ sie sich klein fühlen.
Sie sah ihr Ziel in der Geofront, das Gebäude am Fuße der Röhre, eine große beleuchtete Pyramide mit obsidianschwarzer Außenverkleidung, welche das Symbol von NERV trug.
Der Aufzug wurde langsamer, erreichte im Vergleich zum vorherigen Tempo fast gemächlich den Port an der Spitze der Pyramide. Die Türen glitten auf und Seléne trat in die Sicherheitsschleuse, preßte die Hand gegen das Scannerfeld und blickte in die verborgene Kamera, um ihre Retina scannen zu lassen.
"Identifiziere: Seléne Shigen, Leiterin von Projekt E, Kommandierender Offizier des NERV-HQs. Sicherheitsfreigabe erteilt. Willkommen im NERV-Hauptquartier."
Der letzte Satz der Automatenstimme brachte für einen Moment ein Lächeln auf ihre Lippen, wahrscheinlich war dieser Anflug von Höflichkeit im Programm des Computers ein Produkt Naoko Akagis, der Schöpferin des Rechnerverbundes, welcher alle Funktionen im Haupt-quartier steuerte.
Das Schleusentor glitt auf, auf der anderen Seite des Panzerschottes wartete bereits ein Ordonanzoffizier auf sie.
Sie erwiderte den Gruß des Soldaten.
"Bringen Sie mich zum Kommandoraum."
***
Der Kommandozentrum des Hauptquartieres befand sich im Herzen der Pyramide. Es war ein riesiger Raum mit insgesamt fünf Ebenen, auf der höchsten befand sich die sogenannte Brücke, der Platz des Oberbefehlshabers. Eine Wand des Raumes bestand aus unzähligen Monitorfeldern, die derzeit ein einheitliches Bild zeigten, es war eine Übertragung des Aufklärungssatelliten, der sich seit drei Jahren im geostationären Orbit über dem Südpol befand.
Seléne verließ den Hauptlift der Pyramide auf Höhe der Brücke.
Als er das Öffnen der Aufzugstüren hinter sich hörte, erhob Gendo Ikari sich aus dem Kommandantensessel und strich seine Uniformjacke glatt.
"Irgendwelche Vorkommnisse, Colonel Ikari?"
"Nein, alles ist ruhig. Am Südpol rührt sich nichts. Antarktica meldet ständig die gegenwärtigen Daten vom Portal."
"Die Ruhe vor dem Sturm..."
"Wahrscheinlich."
"Ihre Fähigkeiten als Chef des taktischen Planungsstabes könnten bald erfordert werden, Colonel. Ende der Woche wird mein Mann mit der PROMETHEUS hier eintreffen, voraussichtlich wird er den Prototypen und das Testmodell nach Tokio überführen. Die ODYSSEUS wird mit den ersten beiden Serienmodellen in drei Wochen folgen."
"Ich werde alles für ihre Ankunft vorbereiten. Im Geo-Sektor sollte ein Test der Fernsteuerungsanlage ohne Interferenzen ablaufen."
"Vielleicht werden die Einheiten gleich mit Piloten getestet."
"Haben Sie Kandidaten gefunden?"
"Ja. Drei sichere und einen weiteren, dessen Werte sich im Grenzbereich befinden."
"Kinder... Es ist nicht richtig..."
"Vom moralischen Gesichtspunkt wahrscheinlich nicht, vom Effizienzgrad her allerdings bleibt uns keine andere Wahl. Im Alter der Zielgruppe sind die Reflexe noch weitaus besser und ausgereifter als bei älteren Menschen. Selbst die besten Piloten der Luftwaffe kämen im Vergleich nicht gegen einen entsprechend trainierten Teenager an."
"Aber das sind doch alles nur Theorien. Der psychische Druck, der sich in den EntryPlugs aufbaut, sobald sie in die Steuernerven der Einheiten eingeführt werden, hat bisher jeden Testpiloten außer Gefecht gesetzt."
"Mit Ausnahme von uns beiden."
"Ja, aber wenn ich bedenke, daß die EVAs konstruiert wurden, damit sie von vierzehnjährigen gesteuert werden können, wird mir ganz anders. Mein Sohn ist genau in dem passenden Alter."
"Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen, Colonel."
Sie übergab ihm die Unterlagen.
***
Ikari ließ die Mappe mit den Papieren achtlos fallen. Auf seiner Stirn trat eine dicke Ader hervor.
"Das kann nicht Ihr Ernst sein! Mein Sohn hat dem Projekt nichts zu tun!"
"Jetzt schon. Seine Werte sind mehr als optimal. Ihr Sohn, Shinji, ist ein Naturtalent."
"Nein, das verbiete ich!"
"Colonel Ikari, muß ich Sie an Ihren Eid erinnern?"
Seine Schultern sanken nach vorn.
"Nein..."
"Gut. Es wird die Entscheidung Ihres Sohnes sein, ob er sich NERV anschließt, oder nicht, das kann ich Ihnen versprechen. Aber Sie werden nichts tun, um diese Entscheidung zu beeinflussen."
"Sie wissen nicht, was Sie da verlangen..."
"Vielleicht nicht, vielleicht doch. Uns steht ein Krieg bevor, ein Krieg gegen die Angeloi, wir müssen nach jedem Strohhalm greifen, der sich uns bietet, Colonel."
"Ich weiß. Ich weiß!"
Die letzten Worte schrie er.
Auf den unteren Ebenen wandten mehrere Techniker und taktische Offiziere die Köpfe, um zu sehen, was sich auf der Brücke abspielte.
"Sie werden Stillschweigen bewahren."
"Ja... aber sollte meinem Jungen etwas geschehen, dann gnade Ihnen Gott..."
***
Nachdem sie das EVA-Center verlassen hatten, waren Kensuke und Shinji noch eine Weile bei Touji gewesen. Als der Abend anbrach, hatte Shinji sich von seinen Freunden abschiedet und auf den Heimweg gemacht.
Als er in die Straße, in der er wohnte, einbog, erwartete ihn ein Überraschung:
Auf der Bank vor ´seinem´ Haus saß Rei und blickte ihm entgegen.
"Uhm, hi."
"Hallo, Shinji."
"Was machst du hier? Du wohnst doch..."
"Ich habe auf dich gewartet."
"Oh..."
Sie senkte den Blick.
Zuerst wußte er nicht, was er tun sollte, dann setzte er sich neben sie.
"Warum hast du auf mich gewartet?"
"Ich wollte mit dir sprechen... und ich konnte nicht bis morgen bis zur Schule warten."
"Worum... worum geht es, Rei?"
"Du hast heute gesagt, du würdest mich noch nicht lange genug kennen, um sagen zu können, ob du mich magst."
"Um, ja... Rei, es tut mir leid, falls..."
Plötzlich legte sie ihre Hand auf die seine. Er zuckte leicht zusammen, wollte seine Hand im ersten Moment wegziehen, beließ sie dann aber an Ort und Stelle.
"Ich wollte dich nicht erschrecken."
"Deine Hand ist kalt."
"Ja... Shinji... ich möchte dich besser kennenlernen."
Er starrte sie an, blickte in ihre roten Augen, Augen, die ihm nur allzu vertraut schienen.
Nur woher...?
"Rei, ich... ah... ich würde dich auch gern besser kennenlernen... obwohl..."
Sie blinzelte.
"Obwohl was?"
"Obwohl ich das Gefühl habe, dich bereits eine Ewigkeit zu kennen..."
"Ja."
Jetzt blinzelte er.
"Ja?"
"Mir geht es genauso. Seit gestern, seit ich mit dir zusammengestoßen bin und beim Aufstehen in deine Augen gesehen habe."
"Du auch? Rei, ich..."
"Möchtest du... mein... Freund sein?"
Die Worte schossen hastig aus ihr hervor, als hätte sie sie bereits den ganzen Nachmittag immer wieder leise vor sich hingesprochen. Ein Ausdruck, den man fast als erschrocken hätte bezeichnen können, huschte im Anschluß über ihr Gesicht, als sie den Blick abwandte und zu Boden sah.
Eine einzelne blaue Haarsträhne fiel in ihr Gesicht.
"Shinji, das... entschuldige, ich wollte mich nicht aufdrängen... und ich weiß nicht, was über mich gekommen..."
Sie blickte auf, als er ihre Wange mit den Fingerspitzen berührte und die Haarsträhne zurückstrich.
Shinji lächelte.
"Ich weiß nicht, was man in einer solchen Situation soll, aber ich wäre gern dein Freund."
"Wirklich?"
Sie schob den Kopf ein Stück nach vorn, so daß seine Handfläche ihre Wange berührte.
So warm...
"Ja. Aber ich muß dich warnen, ich hatte bisher noch keine Freundin..."
Vor seinem geistigen Auge schob sich ein anderes Bild über Reis lächelndes Gesicht, ein Bild, in dem die Hälfte ihres Gesichtes unter teilweise blutgetränkten Verbänden verborgen war und sie ihn aus dem Auge, welches sich nicht unter einem Verband befand, schmerzerfüllt ansah.
Das Bild verschwand ebenso schnell wieder, wie es aufgetaucht war.
Was war das?
"Und Asuka?"
Reis Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück.
Er mußte lachen.
"Wir waren vor ein paar Wochen im Kino... und Touji hat mir geraten... egal, als ich meinen Arm um sie legen wollte, erwachte ich später mit einem blauen Auge."
"Ich verstehe."
Zaghaft hob sie ihre andere Hand und berührte die Hand, welche immer noch auf ihrer Wange lag.
"Rei, ich weiß nicht, weshalb ich dir das erzählt habe... vielleicht weil ich zu wissen glaube, daß du nicht weitererzählen oder darüber lachen würdest..."
"Niemals. Shinji, ich glaube, in so einer Situation solltest du mich... küssen..."
"Ich... uhm..."
Er sah in ihren Augen, daß sie es ernst meinte. Langsam beugte er sich vor, zog sie zugleich zu sich.
Ihre Lippen näherten sich einander und...
"Obsön."
Erschrocken fuhr Shinji zurück und löste den Kontakt mit Reis Hand.
Vor ihnen stand Asuka, in einer Hand eine Einkaufstüte, die andere in die Seite gestemmt, wie ein Racheengel, der gerade vom Supermarkt kam.
"A-Asuka..." stammelte der Junge und erhob sich halb.
"Was wolltest du Hentai mit ihr machen? Und auch noch in aller Öffentlichkeit! Habt ihr beiden denn gar kein Schamgefühl?"
"Asuka, das geht dich nichts an." erklang Reis ruhige Stimme.
"Ach, nein? Ich wohne zufällig in diesem Haus hier! Was ihr anstellen wolltet... das war ja schon optische Belästigung!"
"Hör auf." murmelte Shinji.
"Warum? Du siehst doch ohnehin jedem Rock hinterher, meinst du, mir fällt nicht auf, wie du ständig auf meinen Busen starrst?"
Sie drückte die Brust heraus.
"Das ist nicht wahr!"
Und warum denke ich jedesmal, wenn es im Physikunterricht um thermische Ausdehnung
geht, an Asuka in ihrem gestreiften zweiteiligen Badeanzug?
"Dein Busen ist kaum zu übersehen, Asuka." erklärte Rei. "Bist du nicht noch etwas zu jung für Silikonimplantate?"
"Was?" schrie Asuka und ließ einen Schwall deutscher Flüche folgen.
Hm, dachte Shinji, das würde das mit der thermischen Ausdehnung erklären...
Rei war mittlerweile aufgestanden, so daß die beiden Mädchen sich Auge in Auge gegenüberstanden, die eine sichtlich ruhig und reserviert, die andere mit knallrotem Gesicht und funkeln-den Augen.
"Halt dich fern von Shinji!" forderte Asuka gerade.
"Warum? Er gehört dir nicht."
"Weil ich nicht will, daß er sich mit einer Schlampe wie dir abgibt!"
*klatsch*
*rums*
Asuka fand sich auf dem Boden hockend wieder. Ihre Wange brannte, wo Reis Finger einen deutlichen Abdruck hinterlassen hatten.
"Ich bin keine Schlampe", flüsterte Rei gefährlich leise. "Merk dir das."
„Du..."
Asuka sprang auf, wollte sich auf Rei stürzen.
Zugleich setzte Shinji sich in Bewegung, um endlich dazwischen zu gehen.
"Kinder, was ist hier los?"
Beim Klang der Stimme seines Vaters drehte Shinji den Kopf, auch Asuka hielt in der Bewegung inne.
Gendo stand in der Auffahrt und wirkte alles andere als amüsiert.
"Vater..." murmelte Shinji.
Asuka verzog das Gesicht, um ihren Unmut über die Störung kundzutun.
"Also, was ist hier los?" wiederholte Gendo Ikari seine Frage, warf seinem Sohn einen seltsamen Blick zu und richtete den Blick dann auf Asukas gerötete Wange, wo sich noch immer Reis Finger abzeichneten.
Asuka schluckte.
"Wir... ah, Herr Ikari, wir haben uns gestritten und... und ich bin..."
Gendo sah sie an, ohne zu blinzeln, es war ein Blick, der sogar einen ausgehungerten Wolf nervös gemacht hätte.
Asuka hob die Einkauftüte an.
"Sicher wartet meine Mutter schon auf mich und die Einkäufe... ich muß los, schönen Abend noch, Herr Ikari..."
Damit lief sie zum Hauseingang und verschwand im Inneren des Gebäudes.
"Meinen Sohn und Asuka kenne ich, ebenso die meisten anderen Kinder in der Nachbarschaft", wandte Gendo sich an Rei, "aber wer bist du?"
Seine Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton, so als ob er die Antwort bereits kannte.
"Uh, Vater, das ist meine Freundin Rei." sagte Shinji. Die Worte fühlten sich richtig an...
Reis Augen leuchteten auf. Sie lächelte Gendo an.
"Rei Akagi. Sie sind Shinjis Vater?"
"Ja." erwiderte Gendo mit abweisender Stimme. "Du solltest nach Hause gehen, es wird langsam spät." Ohne sie weiter zu beachten, wandte er sich Shinji zu. "Deine Mutter wartet sicher schon."
Shinji schluckte.
"Ja, Vater."
Normalerweise ist er nicht so... feindselig...
Rei nickte.
"Ja, K... Herr Ikari. Shinji, wir sehen uns morgen in der Schule."
"Gute Nacht, Rei."
Er lächelte zaghaft.
"Gute Nacht, Shinji."
Sie sah Gendo an, deutete eine Verbeugung an und lief davon.
Warum wollte ich seinen Vater zuerst ´Kommandant´ nennen?
Gendo blickte seinen Sohn finster an.
"Halte dich von dem Mädchen fern."
Er ging an Shinji vorbei auf das Haus zu.
"Warum, Vater?"
Der ältere Ikari drehte sich nicht um, als er sagte:
"Sie bedeutet Ärger."
Vielleicht kann ich so verhindern, daß sie dich uns fortnehmen...
***
"Mama, ich bin zuhause!" rief Rei, als sie die Wohnungstür hinter sich schloß und ihre Schuhe zielgenau in die Ecke beförderte, welche die Wand und die kleine Schwelle vor der Küchentür bildeten.
"Na, endlich, ich habe mir schon Sorgen gemacht." kam es aus dem Wohnzimmer.
Rei blickte um die Ecke, ihre Mutter lag ausgestreckt auf dem Sofa, sie trug immer noch ihren Laborkittel. Ihre Katze saß auf der Rückenlehne und gab ein leises Miauen von sich.
"Das wollte ich nicht - harter Tag?"
"Kopfschmerzen."
"Ich setze Tee auf."
"Nein, laß nur. Wie war´s in der Schule?"
Rei nickte und hob die Schultern.
Ritsuko lachte.
"Genau so habe ich Großmutter auch immer geantwortet, wenn sie gefragt hat. - Und dein Freund?"
"Wie... Mama!"
"Doktor Ikaris Sohn geht wirklich in deine Klasse. Und Doktor Soryus Tochter ebenfalls, wenn das kein Zufall ist."
"Auf Asuka Soryu könnte ich verzichten", murmelte Rei.
"Schatz, was war denn?"
"Nichts..."
"Rei!"
"Sie hat mich eine Schlampe genannt."
"Warum?"
"Ich... weiß nicht... ich glaube, sie ist eifersüchtig..."
Ritsuko runzelte die Stirn, ließ den Kopf dann auf die Sofalehne zurücksinken.
"Oh, Rei, Streß mit einem Jungen? - Oder wegen eines Jungen?"
Rei sah zu Boden, die Hände mit der Schultasche hinter dem Rücken.
"Naja, das war nicht nett von ihr. Was hast du getan?"
"Ihr eine geknallt."
"Rei... so kenne ich dich gar nicht..."
***
Das Abendessen bei Ikaris verlief schweigsam.
Yui versuchte zwar mehrmals ein Gespräch mit ihrem Mann und ihrem Sohn anzufangen, scheiterte aber an der Einsilbigkeit, welche beide an den Tag legten. Nachdem Shinji sich verabschiedet hatte und auf sein Zimmer gegangen war, wandte sie sich an Gendo.
"Was ist los?"
"Nichts."
"Gendo, ich will jetzt wissen, welche Laus euch beiden über die Leber gelaufen ist! Gibt es Probleme im Ministerium? Hast du Sorgen?"
"Nein." erwiderte er und stand auf.
Sie spürte, daß er log...
Vor zehn Jahren:
"Mama, warum habe ich keinen Papa wie die anderen?"
Ritsuko Akagi zuckte bei der Frage ihrer vierjährigen Tochter zusammen. Der heiße Kaffee in ihrer Tasse schwappte über den Rand und auf ihren Laborkittel. Erschrocken blickte sie zu ihrer Mutter hinüber, die auf der anderen Seite am Tisch saß.
Naoko Akagi sah sie ernst an und zuckte mit den Schultern.
"Irgendwann mußte diese Frage kommen, das war dir doch klar, Ritsuko, oder?"
"Ja..."
Sie wandte sich ihrer kleinen Tochter zu, die aus großen Augen zu ihr hinaufsah.
"Rei..."
Das blauhaarige Mädchen legte den Kopf erwartungsvoll schräg, während es die Hände hinter dem Rücken verschränkte.
Rei Akagi trug eine hellblaue Bluse und ein ärmelloses weinrotes Kleidchen, das ihr bis zum Knie ging, dazu weiße Söckchen.
"Ja, Mama?"
"Hör zu, ich... du bist noch nicht alt genug, um..."
"Aber die anderen Kinder haben alle einen Papa. Wo ist mein Papa?"
"Rei, dein... Vater... ich... er ist auf Reisen, schon sehr lange... er mußte damals dringend fort... noch bevor du auf die Welt kamst... und..."
Sie schluckte, suchte fieberhaft nach weiteren Worten..., weiteren Lügen...
"Rei-chan, ich habe mit deiner Mutter dringend etwas zu besprechen." warf Naoko ein.
"Geh doch schon ´mal in dein Zimmer und zieh dich um, Großmutter kommt dann und liest
dir etwas vor."
"Aus dem Märchenbuch?"
"Ja."
Sie lächelte.
"Du mußt auch kommen, Mama, Großmutter kennt ganz tolle Geschichten."
Ritsuko lächelte gezwungen.
"Natürlich, Schatz. Und vergiß nicht, dir die Zähne zu putzen."
"Ja, Mama."
Rei lief aus der Küche und ins Bad.
Die jüngere Akagi seufzte.
"Das kam überraschend... Wie ein Schlagen in den Magen..."
Naoko nickte nur.
"Früher oder später wollen sie alle wissen, woher sie kommen... Und ohne Vater aufzuwachsen, ist auch alles andere als einfach, Ritsuko. Du hast mir damals ähnliche Fragen gestellt."
"Ja, aber Vater ist bei einem Unfall gestorben..." Mit einem Anflug von Angst blickte sie ihre Mutter an. "Das ist doch die Wahrheit, oder?"
Naokos Gesicht verdüsterte sich.
"Ja. Ich habe mich nicht von einem Kerl in der Disko aufreißen und schwängern lassen!"
"Mutter!"
"Ritsuko, tut mir leid, aber deine Frage wegen deines Vaters..."
"Naja, eigentlich war es ja auch so..."
Sie blickte in ihre Kaffeetasse, als könnte sie in der tiefschwarzen Brühe die Lösung des Problemes finden.
"Ich habe ihren Vater in der Disko kennengelernt, wir waren beide betrunken, eines führte zum anderen und als ich am nächsten Morgen wieder erwachte, war er schon fort... und ich war mit Rei schwanger..."
"Nun, ich habe dir damals die möglichen Alternativen aufgezeigt, aber für dich kam weder eine Abtreibung, doch eine Freigabe des Kindes zur Adoption in Frage... letzteres hätte ich auch nicht mehr zugelassen, nachdem ich sie das erste Mal gesehen hatte."
"Ja... Aber... ich könnte ihr nicht einmal den Namen ihres Vaters sagen, wenn sie mich fragen würde, einfach, weil ich mich nicht mehr erinnere..."
"Hm", Naoko schnaubte verächtlich. "Er hatte seinen Spaß mit dir und ist dann verschwunden, so sind die meisten Kerle eben..."
Sie wollte noch mehr sagen, doch da sah sie, daß ihre einzige Enkelin in der offenen Küchentür stand, schon in ihrem Nachthemd, und ihnen aus geweiteten Augen zuhörte.
"Rei...!"
Das Mädchen lief weinend auf sein Zimmer...
***
Heute:
Der Expreßaufzug fuhr bereits seit einer Ewigkeit in die Tiefe.
Längst war die Leuchtanzeige erloschen, nachdem das zehnte Kellergeschoß des Hochhauses passiert worden war.
Seléne Shigen war es gewohnt zu warten. Sie lehnte an der Rückwand der Liftkabine und blätterte in den Ausdrucken der Personaldateien der potentiellen Kandidaten.
Ein leises ´pling´ deutete an, daß die Fahrt dem Ende entgegenging.
Sie rollte die Papiere zusammen und betätigte einen Knopf am Tastenfeld.
Als Reaktion verloren die Wände der Kabine ihre metallgraue Farbe, wurden größtenteils durchsichtig.
Der Aufzug fuhr jetzt in einer gläsernen Röhre.
Unter ihr erstreckte sich ein weiter Hohlraum, der von riesigen an der Decke montierten Scheinwerfern mehr schlecht als recht ausgeleuchtet wurde.
Der Anblick bewegte jedesmal etwas in ihr, verursachte ein Gefühl von Demut, ließ sie sich klein fühlen.
Sie sah ihr Ziel in der Geofront, das Gebäude am Fuße der Röhre, eine große beleuchtete Pyramide mit obsidianschwarzer Außenverkleidung, welche das Symbol von NERV trug.
Der Aufzug wurde langsamer, erreichte im Vergleich zum vorherigen Tempo fast gemächlich den Port an der Spitze der Pyramide. Die Türen glitten auf und Seléne trat in die Sicherheitsschleuse, preßte die Hand gegen das Scannerfeld und blickte in die verborgene Kamera, um ihre Retina scannen zu lassen.
"Identifiziere: Seléne Shigen, Leiterin von Projekt E, Kommandierender Offizier des NERV-HQs. Sicherheitsfreigabe erteilt. Willkommen im NERV-Hauptquartier."
Der letzte Satz der Automatenstimme brachte für einen Moment ein Lächeln auf ihre Lippen, wahrscheinlich war dieser Anflug von Höflichkeit im Programm des Computers ein Produkt Naoko Akagis, der Schöpferin des Rechnerverbundes, welcher alle Funktionen im Haupt-quartier steuerte.
Das Schleusentor glitt auf, auf der anderen Seite des Panzerschottes wartete bereits ein Ordonanzoffizier auf sie.
Sie erwiderte den Gruß des Soldaten.
"Bringen Sie mich zum Kommandoraum."
***
Der Kommandozentrum des Hauptquartieres befand sich im Herzen der Pyramide. Es war ein riesiger Raum mit insgesamt fünf Ebenen, auf der höchsten befand sich die sogenannte Brücke, der Platz des Oberbefehlshabers. Eine Wand des Raumes bestand aus unzähligen Monitorfeldern, die derzeit ein einheitliches Bild zeigten, es war eine Übertragung des Aufklärungssatelliten, der sich seit drei Jahren im geostationären Orbit über dem Südpol befand.
Seléne verließ den Hauptlift der Pyramide auf Höhe der Brücke.
Als er das Öffnen der Aufzugstüren hinter sich hörte, erhob Gendo Ikari sich aus dem Kommandantensessel und strich seine Uniformjacke glatt.
"Irgendwelche Vorkommnisse, Colonel Ikari?"
"Nein, alles ist ruhig. Am Südpol rührt sich nichts. Antarktica meldet ständig die gegenwärtigen Daten vom Portal."
"Die Ruhe vor dem Sturm..."
"Wahrscheinlich."
"Ihre Fähigkeiten als Chef des taktischen Planungsstabes könnten bald erfordert werden, Colonel. Ende der Woche wird mein Mann mit der PROMETHEUS hier eintreffen, voraussichtlich wird er den Prototypen und das Testmodell nach Tokio überführen. Die ODYSSEUS wird mit den ersten beiden Serienmodellen in drei Wochen folgen."
"Ich werde alles für ihre Ankunft vorbereiten. Im Geo-Sektor sollte ein Test der Fernsteuerungsanlage ohne Interferenzen ablaufen."
"Vielleicht werden die Einheiten gleich mit Piloten getestet."
"Haben Sie Kandidaten gefunden?"
"Ja. Drei sichere und einen weiteren, dessen Werte sich im Grenzbereich befinden."
"Kinder... Es ist nicht richtig..."
"Vom moralischen Gesichtspunkt wahrscheinlich nicht, vom Effizienzgrad her allerdings bleibt uns keine andere Wahl. Im Alter der Zielgruppe sind die Reflexe noch weitaus besser und ausgereifter als bei älteren Menschen. Selbst die besten Piloten der Luftwaffe kämen im Vergleich nicht gegen einen entsprechend trainierten Teenager an."
"Aber das sind doch alles nur Theorien. Der psychische Druck, der sich in den EntryPlugs aufbaut, sobald sie in die Steuernerven der Einheiten eingeführt werden, hat bisher jeden Testpiloten außer Gefecht gesetzt."
"Mit Ausnahme von uns beiden."
"Ja, aber wenn ich bedenke, daß die EVAs konstruiert wurden, damit sie von vierzehnjährigen gesteuert werden können, wird mir ganz anders. Mein Sohn ist genau in dem passenden Alter."
"Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen, Colonel."
Sie übergab ihm die Unterlagen.
***
Ikari ließ die Mappe mit den Papieren achtlos fallen. Auf seiner Stirn trat eine dicke Ader hervor.
"Das kann nicht Ihr Ernst sein! Mein Sohn hat dem Projekt nichts zu tun!"
"Jetzt schon. Seine Werte sind mehr als optimal. Ihr Sohn, Shinji, ist ein Naturtalent."
"Nein, das verbiete ich!"
"Colonel Ikari, muß ich Sie an Ihren Eid erinnern?"
Seine Schultern sanken nach vorn.
"Nein..."
"Gut. Es wird die Entscheidung Ihres Sohnes sein, ob er sich NERV anschließt, oder nicht, das kann ich Ihnen versprechen. Aber Sie werden nichts tun, um diese Entscheidung zu beeinflussen."
"Sie wissen nicht, was Sie da verlangen..."
"Vielleicht nicht, vielleicht doch. Uns steht ein Krieg bevor, ein Krieg gegen die Angeloi, wir müssen nach jedem Strohhalm greifen, der sich uns bietet, Colonel."
"Ich weiß. Ich weiß!"
Die letzten Worte schrie er.
Auf den unteren Ebenen wandten mehrere Techniker und taktische Offiziere die Köpfe, um zu sehen, was sich auf der Brücke abspielte.
"Sie werden Stillschweigen bewahren."
"Ja... aber sollte meinem Jungen etwas geschehen, dann gnade Ihnen Gott..."
***
Nachdem sie das EVA-Center verlassen hatten, waren Kensuke und Shinji noch eine Weile bei Touji gewesen. Als der Abend anbrach, hatte Shinji sich von seinen Freunden abschiedet und auf den Heimweg gemacht.
Als er in die Straße, in der er wohnte, einbog, erwartete ihn ein Überraschung:
Auf der Bank vor ´seinem´ Haus saß Rei und blickte ihm entgegen.
"Uhm, hi."
"Hallo, Shinji."
"Was machst du hier? Du wohnst doch..."
"Ich habe auf dich gewartet."
"Oh..."
Sie senkte den Blick.
Zuerst wußte er nicht, was er tun sollte, dann setzte er sich neben sie.
"Warum hast du auf mich gewartet?"
"Ich wollte mit dir sprechen... und ich konnte nicht bis morgen bis zur Schule warten."
"Worum... worum geht es, Rei?"
"Du hast heute gesagt, du würdest mich noch nicht lange genug kennen, um sagen zu können, ob du mich magst."
"Um, ja... Rei, es tut mir leid, falls..."
Plötzlich legte sie ihre Hand auf die seine. Er zuckte leicht zusammen, wollte seine Hand im ersten Moment wegziehen, beließ sie dann aber an Ort und Stelle.
"Ich wollte dich nicht erschrecken."
"Deine Hand ist kalt."
"Ja... Shinji... ich möchte dich besser kennenlernen."
Er starrte sie an, blickte in ihre roten Augen, Augen, die ihm nur allzu vertraut schienen.
Nur woher...?
"Rei, ich... ah... ich würde dich auch gern besser kennenlernen... obwohl..."
Sie blinzelte.
"Obwohl was?"
"Obwohl ich das Gefühl habe, dich bereits eine Ewigkeit zu kennen..."
"Ja."
Jetzt blinzelte er.
"Ja?"
"Mir geht es genauso. Seit gestern, seit ich mit dir zusammengestoßen bin und beim Aufstehen in deine Augen gesehen habe."
"Du auch? Rei, ich..."
"Möchtest du... mein... Freund sein?"
Die Worte schossen hastig aus ihr hervor, als hätte sie sie bereits den ganzen Nachmittag immer wieder leise vor sich hingesprochen. Ein Ausdruck, den man fast als erschrocken hätte bezeichnen können, huschte im Anschluß über ihr Gesicht, als sie den Blick abwandte und zu Boden sah.
Eine einzelne blaue Haarsträhne fiel in ihr Gesicht.
"Shinji, das... entschuldige, ich wollte mich nicht aufdrängen... und ich weiß nicht, was über mich gekommen..."
Sie blickte auf, als er ihre Wange mit den Fingerspitzen berührte und die Haarsträhne zurückstrich.
Shinji lächelte.
"Ich weiß nicht, was man in einer solchen Situation soll, aber ich wäre gern dein Freund."
"Wirklich?"
Sie schob den Kopf ein Stück nach vorn, so daß seine Handfläche ihre Wange berührte.
So warm...
"Ja. Aber ich muß dich warnen, ich hatte bisher noch keine Freundin..."
Vor seinem geistigen Auge schob sich ein anderes Bild über Reis lächelndes Gesicht, ein Bild, in dem die Hälfte ihres Gesichtes unter teilweise blutgetränkten Verbänden verborgen war und sie ihn aus dem Auge, welches sich nicht unter einem Verband befand, schmerzerfüllt ansah.
Das Bild verschwand ebenso schnell wieder, wie es aufgetaucht war.
Was war das?
"Und Asuka?"
Reis Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück.
Er mußte lachen.
"Wir waren vor ein paar Wochen im Kino... und Touji hat mir geraten... egal, als ich meinen Arm um sie legen wollte, erwachte ich später mit einem blauen Auge."
"Ich verstehe."
Zaghaft hob sie ihre andere Hand und berührte die Hand, welche immer noch auf ihrer Wange lag.
"Rei, ich weiß nicht, weshalb ich dir das erzählt habe... vielleicht weil ich zu wissen glaube, daß du nicht weitererzählen oder darüber lachen würdest..."
"Niemals. Shinji, ich glaube, in so einer Situation solltest du mich... küssen..."
"Ich... uhm..."
Er sah in ihren Augen, daß sie es ernst meinte. Langsam beugte er sich vor, zog sie zugleich zu sich.
Ihre Lippen näherten sich einander und...
"Obsön."
Erschrocken fuhr Shinji zurück und löste den Kontakt mit Reis Hand.
Vor ihnen stand Asuka, in einer Hand eine Einkaufstüte, die andere in die Seite gestemmt, wie ein Racheengel, der gerade vom Supermarkt kam.
"A-Asuka..." stammelte der Junge und erhob sich halb.
"Was wolltest du Hentai mit ihr machen? Und auch noch in aller Öffentlichkeit! Habt ihr beiden denn gar kein Schamgefühl?"
"Asuka, das geht dich nichts an." erklang Reis ruhige Stimme.
"Ach, nein? Ich wohne zufällig in diesem Haus hier! Was ihr anstellen wolltet... das war ja schon optische Belästigung!"
"Hör auf." murmelte Shinji.
"Warum? Du siehst doch ohnehin jedem Rock hinterher, meinst du, mir fällt nicht auf, wie du ständig auf meinen Busen starrst?"
Sie drückte die Brust heraus.
"Das ist nicht wahr!"
Und warum denke ich jedesmal, wenn es im Physikunterricht um thermische Ausdehnung
geht, an Asuka in ihrem gestreiften zweiteiligen Badeanzug?
"Dein Busen ist kaum zu übersehen, Asuka." erklärte Rei. "Bist du nicht noch etwas zu jung für Silikonimplantate?"
"Was?" schrie Asuka und ließ einen Schwall deutscher Flüche folgen.
Hm, dachte Shinji, das würde das mit der thermischen Ausdehnung erklären...
Rei war mittlerweile aufgestanden, so daß die beiden Mädchen sich Auge in Auge gegenüberstanden, die eine sichtlich ruhig und reserviert, die andere mit knallrotem Gesicht und funkeln-den Augen.
"Halt dich fern von Shinji!" forderte Asuka gerade.
"Warum? Er gehört dir nicht."
"Weil ich nicht will, daß er sich mit einer Schlampe wie dir abgibt!"
*klatsch*
*rums*
Asuka fand sich auf dem Boden hockend wieder. Ihre Wange brannte, wo Reis Finger einen deutlichen Abdruck hinterlassen hatten.
"Ich bin keine Schlampe", flüsterte Rei gefährlich leise. "Merk dir das."
„Du..."
Asuka sprang auf, wollte sich auf Rei stürzen.
Zugleich setzte Shinji sich in Bewegung, um endlich dazwischen zu gehen.
"Kinder, was ist hier los?"
Beim Klang der Stimme seines Vaters drehte Shinji den Kopf, auch Asuka hielt in der Bewegung inne.
Gendo stand in der Auffahrt und wirkte alles andere als amüsiert.
"Vater..." murmelte Shinji.
Asuka verzog das Gesicht, um ihren Unmut über die Störung kundzutun.
"Also, was ist hier los?" wiederholte Gendo Ikari seine Frage, warf seinem Sohn einen seltsamen Blick zu und richtete den Blick dann auf Asukas gerötete Wange, wo sich noch immer Reis Finger abzeichneten.
Asuka schluckte.
"Wir... ah, Herr Ikari, wir haben uns gestritten und... und ich bin..."
Gendo sah sie an, ohne zu blinzeln, es war ein Blick, der sogar einen ausgehungerten Wolf nervös gemacht hätte.
Asuka hob die Einkauftüte an.
"Sicher wartet meine Mutter schon auf mich und die Einkäufe... ich muß los, schönen Abend noch, Herr Ikari..."
Damit lief sie zum Hauseingang und verschwand im Inneren des Gebäudes.
"Meinen Sohn und Asuka kenne ich, ebenso die meisten anderen Kinder in der Nachbarschaft", wandte Gendo sich an Rei, "aber wer bist du?"
Seine Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton, so als ob er die Antwort bereits kannte.
"Uh, Vater, das ist meine Freundin Rei." sagte Shinji. Die Worte fühlten sich richtig an...
Reis Augen leuchteten auf. Sie lächelte Gendo an.
"Rei Akagi. Sie sind Shinjis Vater?"
"Ja." erwiderte Gendo mit abweisender Stimme. "Du solltest nach Hause gehen, es wird langsam spät." Ohne sie weiter zu beachten, wandte er sich Shinji zu. "Deine Mutter wartet sicher schon."
Shinji schluckte.
"Ja, Vater."
Normalerweise ist er nicht so... feindselig...
Rei nickte.
"Ja, K... Herr Ikari. Shinji, wir sehen uns morgen in der Schule."
"Gute Nacht, Rei."
Er lächelte zaghaft.
"Gute Nacht, Shinji."
Sie sah Gendo an, deutete eine Verbeugung an und lief davon.
Warum wollte ich seinen Vater zuerst ´Kommandant´ nennen?
Gendo blickte seinen Sohn finster an.
"Halte dich von dem Mädchen fern."
Er ging an Shinji vorbei auf das Haus zu.
"Warum, Vater?"
Der ältere Ikari drehte sich nicht um, als er sagte:
"Sie bedeutet Ärger."
Vielleicht kann ich so verhindern, daß sie dich uns fortnehmen...
***
"Mama, ich bin zuhause!" rief Rei, als sie die Wohnungstür hinter sich schloß und ihre Schuhe zielgenau in die Ecke beförderte, welche die Wand und die kleine Schwelle vor der Küchentür bildeten.
"Na, endlich, ich habe mir schon Sorgen gemacht." kam es aus dem Wohnzimmer.
Rei blickte um die Ecke, ihre Mutter lag ausgestreckt auf dem Sofa, sie trug immer noch ihren Laborkittel. Ihre Katze saß auf der Rückenlehne und gab ein leises Miauen von sich.
"Das wollte ich nicht - harter Tag?"
"Kopfschmerzen."
"Ich setze Tee auf."
"Nein, laß nur. Wie war´s in der Schule?"
Rei nickte und hob die Schultern.
Ritsuko lachte.
"Genau so habe ich Großmutter auch immer geantwortet, wenn sie gefragt hat. - Und dein Freund?"
"Wie... Mama!"
"Doktor Ikaris Sohn geht wirklich in deine Klasse. Und Doktor Soryus Tochter ebenfalls, wenn das kein Zufall ist."
"Auf Asuka Soryu könnte ich verzichten", murmelte Rei.
"Schatz, was war denn?"
"Nichts..."
"Rei!"
"Sie hat mich eine Schlampe genannt."
"Warum?"
"Ich... weiß nicht... ich glaube, sie ist eifersüchtig..."
Ritsuko runzelte die Stirn, ließ den Kopf dann auf die Sofalehne zurücksinken.
"Oh, Rei, Streß mit einem Jungen? - Oder wegen eines Jungen?"
Rei sah zu Boden, die Hände mit der Schultasche hinter dem Rücken.
"Naja, das war nicht nett von ihr. Was hast du getan?"
"Ihr eine geknallt."
"Rei... so kenne ich dich gar nicht..."
***
Das Abendessen bei Ikaris verlief schweigsam.
Yui versuchte zwar mehrmals ein Gespräch mit ihrem Mann und ihrem Sohn anzufangen, scheiterte aber an der Einsilbigkeit, welche beide an den Tag legten. Nachdem Shinji sich verabschiedet hatte und auf sein Zimmer gegangen war, wandte sie sich an Gendo.
"Was ist los?"
"Nichts."
"Gendo, ich will jetzt wissen, welche Laus euch beiden über die Leber gelaufen ist! Gibt es Probleme im Ministerium? Hast du Sorgen?"
"Nein." erwiderte er und stand auf.
Sie spürte, daß er log...
