Kapital 06: Weißes Eis


Vor fünfzehn Jahren:

"Faszinierend..." murmelte Professor Katsuragi und reichte das Fernglas weiter an den UN-Captain neben ihm. "Sehen Sie sich das an, Ikari."

Gendo Ikari schob die dunkle Brille, die ihn vor der blendenden Helligkeit des Schnees schü-tzen sollte, auf die Stirn, ehe er mit dickbehandschuhten Fingern das Fernglas entgegennahm. Die antarktische Kälte biß ihm in die wenigen freiliegenden Hautpartien. Durch das Fernglas sah er in die Richtung, welche ihm der Professor wies.
"Was ist das...?"
In der Ferne, am Ziel ihrer Reise, tobte ein Sturm, einer gewaltigen schwarzen Windhose gleich, oder einer wallenden Wand, die in den Himmel zu reichen schien.

Ikari war kein Experte für die klimatischen Bedingungen am Südpol, aber allein schon der gesunde Menschenverstand sagte ihm, daß ein solcher Sturm absolut unnatürlich war.

Zusammen mit dem Professor kehrte er in das Raupenkettenfahrzeug zurück, welches den kleinen Konvoi anführte, insgesamt waren vier solcher Fahrzeuge vor einer Woche ins Innere des antarktischen Kontinents aufgebrochen, dazu kamen ein halbes Dutzend Hundeschlitten, gezogen von riesigen Huskies, die auf Ikari eher wie Wölfe denn wie Hunde wirkten.

Zur Katsuragi-Expedition gehörten acht Wissenschaftler und zehn Soldaten der Friedenstruppen, die unter seinem, Gendo Ikaris Kommando standen, Soldaten der UN, welche die Expedition zum Südpol entsand hatte. Und es gab drei weitere Passagiere an Bord des ersten Raupenfahrzeuges, allesamt Zivilisten. Da war zum einen die zwölfjährige Tochter des Professors, deren Teilnahme an dem Unternehmen Ikari immer noch nicht nachvollziehen konnte, dann eine junge schwarzhaarige Asiatin mit wachem Blick, welche über einiges Geschick im Umgang mit Handfeuerwaffen zu verfügen schien, und schließlich ein ernst dreinblickender junger Mann mit aschgrauem Haar und blasser Haut, welcher weder den Streitkräften noch dem Militär angehörte und dennoch inoffizieller Leiter der Expedition war.

"Sie haben es gesehen?" fragte der Grauhaarige, als Ikari die Einstiegsluke hinter sich geschlossen und sich aus dem dickgefütterten Parka geschält hatte.

"Wie eine wirbelnde Wand aus Schwärze."
Katsuragi kletterte in den hinteren Teil des Kettenfahrzeuges, um seine Beobachtungen zu notieren.

Ein Soldat saß am Steuer des Fahrzeuges, der Grauhaarige hockte auf dem Beifahrersitz und sah nach hinten, während zwischen ihnen auf einem Klappsitz Katsuragis Tochter Misato saß und mit großen Augen auf die endlose weiße Fläche vor ihnen starrte, die in der Ferne so abrupt an einer schwarzen Wand endete.

"Die Satellitenübertragung liefert auch keine neuen Erkenntnisse, die Südpolregion scheint derzeit gar nicht zu existieren."
Der Grauhaarige, der sich als Thomas Shigen vorgestellt hatte, deutete auf den Bildschirm vor sich.

Das Satellitenbild zeigte in seinem Zentrum ein kreisrundes schwarzes Loch von zwei Meilen Durchmesser, als existiere dieser Teil der Welt nicht mehr.

Seit zwei Wochen war dieser Zustand unverändert, die Zone aus Schwärze wuchs weder, noch schrumpfte sie. Sie war plötzlich dagewesen, ohne Vorwarnung, zugleich wurde eine schwache niedrigfrequente Strahlung angemessen, die nicht eingeordnet werden konnte. Zwei Erkundungsflugzeuge waren beim Überfliegen des Gebietes abgestürzt, als die Systeme einfach versagten. Als Resultat dieser Ereignisse war von der UN diese Expedition ins Herz des weißen Kontinents organisiert worden, die Zuständigkeit der Vereinten Nationen ergab sich aus entsprechenden internationalen Verträgen bezüglich der Antarktis, zum wissenschaftlichen Leiter der Expedition war der Geologe und Wetterforscher Hiro Katsuragi ernannt worden, Captain Ikari und sein Team sollten den Schutz der Forscher gewährleisten.
Und der UN-Beobachter Thomas Shigen besaß die Autorisierung, im nicht näher definierten Ernstfall das Kommando zu übernehmen.

Man hat uns nur nicht gesagt, warum... Und wovor meine Truppe die Expedition beschützen soll... Und weshalb zwei der Fahrzeuge mobile Geschützstände sind... dachte Gendo, nachdem er die Gründe seines Hierseins im Geiste rekapituliert hatte.
"Haben Sie etwas anderes erwartet?" fragte er den Grauhaarigen.

Dieser schüttelte den Kopf.

Du weißt, weshalb wir hier sind, jede Wette...

"Noch sechs Stunden Fahrt nach Süden, dann eine Ruhepause von vier Stunden und morgen geht es mit den Hundeschlitten zum Pol", wiederholte Shigen den Plan.

Sie konnten es sich nicht leisten, mit den Kettenfahrzeugen in das Zielgebiet vorzudringen, das Risiko, dann ohne funktionierende Transportmittel dazustehen, war zu groß, dafür war der Heimweg definitiv zu lang.

Gendo nickte. Er wünschte sich, bei seiner Frau in Kyoto sein zu können, die ihr erstes Kind erwartete.
Wenn es ein Junge wird, nennen wir ihn Shinji, wenn es ein Mädchen wird, Rei...


***


Die Raupenfahrzeuge blieben mit den meisten Teilnehmern der Expedition etwa eine Meile von der Ausläufern der Dunkelheit entfernt zurück, während sie mit vier Hundeschlitten die Entfernung zu ihrem Ziel zurücklegten.

Sie, das waren zum einen Professor Katsuragi und ein weiterer Forscher, deren Meßgeräte auf einen der Schlitten aufgeladen waren, dann Captain Ikari und vier seiner Leute, die als Schlittenlenker fungierten, sowie Thomas Shigen und seine Begleiterin Deiko Tamakura. Während alle anderen dick in ihre Parkas eingepackt waren und Schutzbrillen trugen, bot der Grauhaarige ein nahezu beängstigendes Bild, trug er doch nur Headset, Stiefel, Jeans und ein dickes Baumwollhemd, obwohl dies mit den örtlich vorherrschenden Temperaturen definitiv nicht vereinbar war.

Auf Gendos nervös-fragenden Blick antwortete Thomas mit einem schmalen Lächeln:
"Der Parka engt mich zu sehr ein."

"Sie werden sich den Tod holen."

"Nein."
Nur ein Wort, doch voller Überzeugung und Endgültigkeit.

Gendo schwieg. Seine Aufmerksamkeit wurde von einer Kiste abgelenkt, die sich ebenfalls auf dem Hundeschlitten befand.
"Sie haben die N2-Bombe mitgenommen..."

"Der Auftrag lautet, das Phänomen zu erforschen und im Falle einer Gefahr zu beseitigen."

"Ja."
Er weiß, worum es sich handelt, ansonsten würde der Sicherheitsrat niemals das Risiko eingehen, das mit einer Explosion der Bombe an diesem Ort für das irdische Magnetfeld verbun-den ist...
Er sprach seine Gedanken laut aus.

"Captain Ikari, glauben Sie an Gott?"

Gendo blinzelte.
"Ja."

"Dann beten Sie, daß ich mich irre..."


***


Heute:

Shinji blickte schräg nach oben zum Schwimmbecken hinauf, wo sich die Mädchen seines Jahrganges befanden, während er sich mit den anderen Jungen am Rand der Aschenbahn befand. Während des Sportunterrichtes wurden sie nach Geschlechtern getrennt.

Oben saß Rei, den Rücken gegen den Maschendrahtzaun gelehnt. Sie wirkte irgendwie abwesend.

"He, Ikari..."
Plötzlich lastete ein schweres Gewicht auf Shinjis Schultern, als Touji sich halb auf ihn lümmelte.
"...wo guckst du denn hin? Ah... Akagi... Hat sie es dir angetan?"
Toui grinste breit.
"Was interessiert dich denn besonders an ihr? Die hellen weißen Schenkel? Oder sind es ihre Brüste?"

"Ihre Augen..." flüsterte Shinji, der Toujis Worte nur teilweise mitbekommen hatte.

"Ihre Augen?" wiederholte Touji verwirrt.

"Ja."

"Ihre Augen?"

Im nächsten Moment ballte Shinji die Faust und klopfte Touji mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn. Es klang hohl...
"Jemand zuhause?"

"Äh... warum ihre Augen? Was sollte an den Augen eines Mädchens so interessant sein?"

"Touji, manchmal frage ich mich wirklich, mit welchem Körperteil du denkst..." seufzte Shinji und sah wieder zu Rei, bemerkte, daß sie seinen Blick erwiderte.
Er winkte ihr zu, glaubte auf die Entfernung hin zu sehen, daß sie lächelte.

Sie erwiderte seinen Gruß.

Asuka tauchte am Zaun auf und warf Shinji einen wütenden Blick zu, ehe sie wieder kehrtmachte und aus seinem Blickfeld verschwand.

"Oh, oh, Ärger im Paradies?" fragte Touji. Es klang nicht spöttisch.

"Die beiden kommen nicht miteinander klar."

"Hm, verstehe. Wie Feuer und Wasser."

Shinji sah seinen Freund überrascht an. Dieser hatte mit den letzten zwei Sätzen soviel ver-nunftbegabte Intelligenz bewiesen wie in den letzten zwei Jahren nicht.
"Gestern hätte es fast eine Schlägerei gegeben."

"Wann?"

"Nachdem ich von dir weg war."

"Schade, das hätte ich gerne gesehen."

Die Hoffnungen, die Shinji gerade für Touji zu hegen begonnen hatte, zerbröckelten unwiederbringlich.

"Bist du deshalb heute morgen zu spät gekommen?"

"Ja, Asuka ist ohne mich los."
Daß er deshalb nicht nur wirklich verschlafen, sondern auch Rei verpaßt hatte, erwähnte er nicht, auch nicht, daß er befürchtet hatte, Rei würde auf ihn wütend sein, weil er sie versetzt hatte - tatsächlich hatte sie während des Vormittages kaum zwei Worte mit ihm gewechselt.

"Sie kann ganz schön nachtragend sein."

"Wem sagst du das... und meistens braucht sie nicht einmal einen Grund, um wütend zu sein..."


***


In der Mittagspause steuerte Shinji die Bank an, auf der Rei mit ihrer Lunchbox saß und ihr Mittagessen aß.
"Rei, darf ich mich setzen?"

Sie nickte.

Er warf einen Blick auf ihr Essen, wußte eigentlich schon vorher, worum es sich handelte.
"Vegetarisch."

"Ja."

"Uhm, Rei, wegen heute morgen... ich wollte dich nicht versetzen, ich habe verschlafen."

Sie sah ihn kurz an, widmete sich wieder ihrem Essen.
"Ich glaube dir... aber du wirst es wiedergutmachen."

Er atmete durch.
"Ja, natürlich."
In seinem Hinterkopf hallte die Stimme seines Vaters wieder.
´Halte dich von ihr fern, sie bringt Unglück...´
Unsinn. Warum sollte Rei mir Unglück bringen?
In Wirklichkeit fühlte er sich beinahe glücklich.
"Ah, Rei, Touji, Kensuke und ich wollen nachher wieder zum EVA-Center, ich wollte fragen, ob du mitkommst, schließlich bist du die beste von uns und..."

"Ja."

"Du kommst mit?"

"Ja."
Ihre Mundwinkel zuckten.
"Ja, ich komme mit."

"Ah, schön, ja... Und danach, würdest du mit mir Eis essen gehen?"

Sie nickte.
"Und vergiß nicht, daß du mir noch etwas schuldest."

"Äh, ja."
Er nickte hastig, annehmend, daß sie damit die Tatsache meinte, daß er sie am Morgen versetzt hatte.


***


Vor dem EVA-Center liefen die drei Jungen und das blauhaarige Mädchen um ein Haar in Hikari und Asuka, die dort auf sie warteten.

Asuka würdigte Rei keines Blickes und sah Shinji nur vorwurfsvoll an.

"Ich dachte, du würdest allein kommen", raunte Touji Hikari zu.

"Asuka gehört auch zum Team", entgegnete diese, doch plötzlich war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob es so ein guter Gedanke gewesen war, die Rothaarige in das Vorhaben einzuweihen.

Als sie das Center betraten, war die Kluft zwischen den beiden Mädchen beinahe körperlich fühlbar.

Shinji warf Asuka einen traurigen Blick zu, den diese mit einem verächtlichen Verziehen der Unterlippe quittierte.

"Man könnte fast meinen, Rei und Asuka wären in einem früheren Leben Todfeinde gewesen", flüsterte Kensuke Shinji zu.

´Du bist der Liebling des Kommandanten´, glaubte Shinji Asuka sagen zu hören, obwohl er genau sah, daß sie sich mit Hikari unterhielt, während sie darauf warteten, daß die EntryPlugs frei wurden.
Sie hat es nicht zu mir gesagt... sondern zu Rei... aber wann? Und wer ist der Kommandant?
Vor seinem geistigen Auge flackerte kurz das Bild seines Vaters auf, dessen Gesicht eine nie gekannte Strenge aufwies, und der seine Augen hinter einer dunklen Brille verbarg.
Weiße Handschuhe... Vater trägt nie Handschuhe... weshalb sehe ich solche Bilder?
Er verbarg das Gesicht in den Händen, schloß die Augen.
In der Dunkelheit sah er keine Bilder...

Eine Hand berührte ihn sanft an der Schulter.

"Shinji, geht es dir nicht gut?"

Ayanami! schoß es ihm durch den Kopf, ein Name, mit dem er nichts anzufangen wußte, und der ihm doch so bekannt vorkam, der so Rei besser zu passen schien als der Name Akagi.

"Shinji-kun?" fragte Rei erneut.

Er hob den Kopf, sah in ihre roten Augen, las die Besorgnis in ihrem Blick. Sie stand vorge-beugt vor ihm, so daß sich ihre Köpfe auf einer Höhe befanden. Zugleich konnte er tief in den Ausschnitt des Oberteiles ihrer Schuluniform blicken und lief automatisch rot an, obwohl er sofort den Blick abwandte und an alles mögliche dachte, um eine thermische Ausdehnung gewisser Körperpartien zu verhindern.
"Gomen."

Rei runzelte die Stirn.
Was meint er?
Sie tastete nach dem Kragen ihrer Schuluniform, bemerkte, daß die oberen Köpfe offenstanden.
Oh...
Eine harte Röte überzog ihre blassen Wangen.
Warum ist mir das peinlich? Er hat mich dort doch sogar bereits berührt, ohne daß es mir viel ausgemacht hat... seine Berührung war sogar in gewisser Weise angenehm... aber... Wann war das? Wieso... wieso habe ich diese Erinnerungen?
Mit einem Laut, der klang, als schnappte ein Ertrinkender nach Luft, ließ sie sich neben Shinji auf die Bank fallen und preßte die Hände gegen die Schläfen, während die unvermittelt aufgebrochenen Erinnerungen an ein anderes Leben langsam verblaßten.

"Ah... Rei, was ist mit dir?" flüsterte Shinji.

Sie sah ihn an und erkannte die Wahrheit.
"Du hast ebenfalls solche Visionen..."

"Ich..."
´Ich weiß nicht, was du meinst´, wollte er sagen, um sich zu verteidigen, um nicht als verrückt abgestempelt zu werden, um nicht wieder in die Einzelzelle im Hauptquartier gebracht zu werden...
Einzelzelle?
Er schüttelte vehement den Kopf, um seine Gedanken klar zu bekommen.
"Rei, ich weiß nicht, was es ist... manchmal habe ich das Gefühl, etwas schon einmal erlebt zu haben... nur... anders... als hätte ich diesesmal eine andere Wahl getroffen, verstehst du?"

"Ja... ich habe selbst solche... Erinnerungen... woher stammen sie?"

"Seit wann hast du sie?"

"Seitdem ich dir vor zwei Tagen begegnet bin."

Er überlegte, nickte dann.
"Das kommt hin. Aber was hat das zu bedeuten?"

Sie schüttelte nur den Kopf.
"Ich weiß es nicht. Aber diese... altertanativen Erinnerungen... sie zeigen eine andere Realität... eine schlechtere Realität..."

"Aya..." setzte er an, verschluckte den Rest, als sich ihre Augen vor Angst weiteten.

"Ich bin in deinen Erinnerungen."

"Ja... du, Asuka, Kensuke, Touji..."
Sein Blick verharrte bei Suzuhara, der sich gerade aus einem Automaten eine Getränkedose holte, sah ihn in einem Bett auf weißen Laken unter einer weißen Decke liegen, deren Stoff die Konturen seines Körpers genau abzeichnete, eines Körpers, dem ein Arm und ein Bein fehlten...
Shinjis Blick verschwamm, als Tränen in seine Augen stiegen.
"Touji... ich war es... ich bin schuld..."
Daß Rei ihn in ihre Arme zog und sanft an sich drückte, bekam er kaum mit.
"Rei, warum sehe ich soetwas? Warum weiß ich das? Es kann nicht real sein..."

"Ich kann deine Fragen nicht beantworten... aber auch du bist in meinen Erinnerungen. Zusammen können wir das durchstehen."

"Zusammen?"

"Ja."

"Rei, ich erinnere mich an dich, aber du warst anders..."

"Ja." antwortete sie einem monotonen Tonfall, der ihm Schauder den Rücken hinabjagte.

"Bin ich verrückt?"

"Nein."

"Dann... ich glaube eigentlich nicht an Reinkarnation... aber, könnten diese Bilder aus einem... früheren Leben stammen?"

"Nein, das sind wir, so wie wir jetzt und heute sind... und doch anders..."

Touji kam zu ihnen hinüber.
"Wenn ich euch zwei Turteltauben mal stören darf - wir können jetzt in die EntryPlugs. Mensch, Ikari, das ist zwar toll, aber noch lange kein Grund zu heulen... oder soll ich euch allein lassen? Ist zwar nicht ganz der perfekte Ort, aber..."
Touji zwinkerte verschwörerisch.

Shinji wischte sich über die Augen.
"Touji, so ist es nicht..."

"Ach nee? Naja, vielleicht könntest du dann bei Hikari mal ein gutes Wort für mich einlegen, mich auch mal so nebenbei in den Arm zu nehmen, was?!"

"Wir kommen gleich." erklärte Rei.

"Oh, laßt euch von mir nicht stören. Kensuke sorgt schon dafür, daß uns niemand unsere Plätze wegnimmt - und ich möchte wetten, daß Asuka in der richtigen Stimmung ist, ihn dabei nach Kräften zu unterstützen."

"Vielleicht regt sie sich dann ab", murmelte Shinji, der seinem eigenen Sarkasmus nicht widerstehen konnte.

"Hm, ja, vielleicht", antwortete Touji nachdenklich und ließ wieder einmal kurz die Maske des Trottels fallen, ehe er die Lobby verließ.

"Rei, was soll ich tun?"

"Darauf kann ich dir keine Antwort geben, Shinji-kun... ich kann dir nur sagen, was ich tun werde."

"Was?"

"Versuchen, auf andere Gedanken zu kommen. Diese Erinnerungsfetzen kommen und verschwinden wieder, ohne daß wir etwas dagegen tun können, wir können nur versuchen, uns von ihnen nicht unterkriegen zu lassen, und hoffen, schließlich zu verstehen, was sie bedeuten."

"Du bist stark, Rei, viel stärker als ich."

"Das hast du schon einmal zu mir gesagt, in der Nacht, als wir..."
Sie schluckte, versuchte, ihre Verlegenheit und Überraschung mit einem Lächeln zu überspielen.
"Ich glaube nicht, daß ich stärker bin als du, sonst würde mir soetwas nicht passieren."

"Auf dem Berg... da hast du mich beschützt..." murmelte er. "Rei, egal was geschieht... ich glaube, uns verbindet etwas, das sich nicht in Worte fassen läßt."

"Ja..."
Sie ergriff seine Hand, zog ihn mit sich in die Höhe.
"Komm, stellen wir uns der Realität... und Soryu... ich meine Asuka..."


***


In einem riesigen unterirdischen Labor beobachtete Doktor Miyuki Takanawa die Früchte ihrer Arbeit von einem Steg etwa fünf Meter über dem Metallgitterboden aus.

In zwei gewaltigen käfigartigen Konstruktionen standen zwei humanoide Giganten, beide befanden sich bis zur Gürtellinie in einer blaßrosa farbenen Nährflüssigkeit.

Der eine Gigant war hauptsächlich von oranger Farbe mit weißen Absätzen, er hatte nur ein einzelnes dunkelblaues Auge mitten auf der Stirn. Auf den Schulterstücken seiner Panzerung befand sich die Zahl ´00´ zusammen mit dem Schriftzug ´Prototyp´.

Der andere Riese wirkte verglichen mit seinem Bruder bedrohlicher, dies lag nur teilweise an seiner kantigeren Panzerung. Wo der Kopf der Prototypen abgerundet war, wies der andere fast schon helmartige Auswüchse auf, sowie ein Horn, welches aus dem Schädel wuchs.
Er war von purpur-grüner Farbe, die Schulterstücke seiner Panzerung trugen den Schriftzug ´01 - Testmodell´.

Zwei Männer näherten sich der Wissenschaftlerin auf dem Steg, es waren Thomas und der hünenhafte Roderick Falk, der mit seinen zwei Metern jedoch neben den Giganten kaum mehr als ein Zwerg war. Hinter ihnen ging Deiko Tamakura, eine Hand stets in der Nähe ihres Schulterhalfters.

"Doc, sind die Klone transportbereit, wenn die PROMETHEUS aufbricht?"

"Natürlich, Shigen-sama."

"Gut."

Falk trug eine Uniform der UN-Streitkräfte mit den Rangabzeichen eines Lieutenant-Colonels. "Also, ich nehme die beiden hier in vier Tagen an Bord, in sechs Tagen laufen wir aus und sind dann nächste Woche in Tokio, damit die Klone im Geosektor getestet werden können, bevor wir sie nach Antarktika verschiffen."

Thomas nickte.
"Und die beiden Serienmodelle?"

"Einheit-03 ist noch in der Nährlösung, die gewünschten Modifikationen haben sein Wachstum etwas verlangsamt, aber wenn die ODYSSEUS Ende der Woche von Wilhelmshaven in Deutschland aus aufbricht, sollten wir wieder voll im Zeitplan liegen. Ich setze gerade eine weitere Nährlösung für noch zwei Klone an, Sie müssen nur geeignete Piloten finden."

"Lassen Sie das meine Sorge sein, Tests laufen bereits."

"Gut, Herr Shigen. Es stehen noch ein paar Tests aus, sind Sie bereit?"

"Selbstverständlich, Doktor Takanawa."

"Dann folgen Sie mir. Ich benötige auch noch etwas Rückenmark."

"Oh, toll."
Der einäugige verzog das Gesicht.

"Früher waren Sie nicht so empfindlich."

"Früher war ich auch noch im Vollbesitz meiner Kräfte, Doc."
Er wandte sich seinem Schwager zu.
"Ich fliege im Anschluß wie geplant aufs Festland, der chinesische Premierminister erwartet mich zu einer Partie Wei qi, erwartet mich also nicht vor Ablauf der Woche zurück."

"Er ist gut."

"Ja, aber ich habe vom besten gelernt."

Falk grinste.
"Dann sehen wir uns in Tokio zum großen Familientreffen, Schwager."

Thomas lachte kurz.
"Premier Lau ist ein zäher Verhandlungspartner, aber wir brauchen die Chinesen, wenn der Plan aufgehen soll, sonst überlegen es sich die Amerikaner oder die Russen anders."

"Ja, das haben wir ja schon besprochen. Die Amerikaner sind übrigens auf DEFCON-3 gegangen. Unsere Warnungen scheinen gefruchtet zu haben."

Der Einäugige nickte.
"Und General Talbot hat die Abwechslung, auf die er solange gehofft hat..."

"Das wohl... Also, in einer Woche."