Kapital 08: Rotes Eis


Vor fünfzehn Jahren:

"Shigen, sind Sie verrückt geworden?!" brüllte Gendo, der sich im Leitstand von Mobil-03 befand.

"Feuern Sie weiter!" kam es zurück.

Licht umgab den Rennenden.

Mit fahrigen Händen griff Ikari nach seinem Fernglas und blickte durch die Frontscheibe des Raupenfahrzeuges.

Aus dem Rücken Thomas Shigens wuchsen filigrane Schwingen...
Das ihn umgebende Licht wurde immer stärker...
Seine Augen begannen, in einem unheiligen Feuer zu glühen...
Direkt vor dem Arachiden blieb er stehen, brüllte etwas.

Die Worte drangen über die Funkverbindung auch an Ikaris Ohr. Obwohl er die Sprache nicht verstand, erkannte er ihre Bedeutung.
Eine Herausforderung...

Die Antwort kam umgehend in Form eines Donnergrollens, aus dem ein Wort deutlich
herauszuhören war:
"Tabris..."

Und eine Feuerwelle walzte sich von dem Arachiden ausgehend auf seinen im Vergleich winzigen Gegner zu...

...und über ihn hinweg...

Thomas stand immer noch, die Hände zu Fäusten geballt, geschützt von seinem leuchtenden Kraftfeld. Er holte zum Gegenschlag aus, schleuderte eine Kugel reiner Energie aus seiner Hand, sprang gleichzeitig in die Höhe, emporgetragen von kräftigen Flügelschlägen.

"Weiter feuern!" befahl Gendo dem Bordschützen. "Zielen Sie auf die Beine!"

Die eisige Ebene verwandelte sich in ein Inferno, als Shigens Energiekugel auf das Kraftfeld des Arachiden traf, als die Laserblitze das geschwächte Feld durchdrangen und die Beine auf der linken Seite abtrennten, als Thomas eine glühende Hand in den Leib Matriels stieß und eine Kettenreaktion in Gang setzte.

Eine Explosion ließ die Erde erzittern, der sie begleitende Blitz nahm Gendo die Sicht.

Einen Augenblick lang vermeinte er, die Umrisse eines humanoiden Giganten inmitten des Feuersturmes zu sehen.

Dann verblaßte alles, auf der Ebene befanden sich nur noch die aufgeplatzten Überreste des Arachiden und eine einzelne menschliche Gestalt, die sich auf die Raupenfahrzeuge zuschleppte, mit schwersten Verbrennungen am ganzen Körper, aus denen blaues Blut quoll, und einem seltsam deformierten Schädel, einer Verletzung, die einen Menschen getötet hätte...


***


Heute:

Nachdem Shinji und Rei sich von den anderen getrennt hatten, gingen auch Asuka und Hikari ihrer Wege - und Touji und Kensuke waren ganz froh, daß die beiden niemals auf die Idee gekommen wären, sie zu fragen, ob sie sie bei ihrem Schaufensterbummel begleiten wollten, zumindest bei Asuka konnten sie sich da ganz sicher sein.

"Ikari hat schon ganz schön Schwein", erklärte Kensuke.

"Hm?" machte Touji, wie jedesmal, wenn Kensuke über Dinge zu sprechen begann, die nicht mit Waffen, Computern oder ähnlichem zu tun hatten.

"Naja, schließlich kennen er und Rei sich erst seit zwei Tagen, aber man könnte meinen, die beiden sind schon länger zusammen. Was sie jetzt wohl gerade machen?"

"Bist du sicher, daß die beiden sich nicht schon länger kennen?"

"Woher denn? Rei ist doch erst nach Tokio gezogen."

"Hm..." machte Touji wieder und fragte sich, woher diese seltsame Ahnung stammte...


***


Die beiden Personen, über die Kensuke und sich unterhielten, saßen derweile in einer Eisdiele, jeweils eine große Portion Eis mit Sahne vor sich, und ließen es sich schmecken, während sie sich über allerlei unverfängliches unterhielten, es dabei vermieden, das Gespräch auf die seltsamen Erinnerungsfetzen zu bringen, die in den letzten Tagen immer wieder kurzfristig ihre Wahrnehmung überlagert hatten.

Rei erzählte von Osaka, ihrer Mutter und ihrer Großmutter, während Shinji diverse Familienannekdoten von seinem Onkel in das Gespräch einflocht. Wahrscheinlich wäre dies so stundenlang weitergegangen, hätte nicht unvermittelt die Bedienung neben ihrem Tisch gestanden und gefragt, ob sie noch etwas wollten, wobei ihrem Tonfall zu entnehmen war, daß die beiden im Falle keiner Bestellung das Weite suchen sollten.

So machten sie sich auf den Heimweg. In der Nähe der Schule trennten sich ihre Wege, sie standen jedoch noch eine ganze Weile an der Ecke und unterhielten sich, ehe sie ihre eigenen Wege gingen.

Derweil saß Ryoji Kaji hinter dem Steuer seines Wagens, der mit laufendem Motor auf der anderen Seite stand, als warte er auf einen Mitfahrer, und trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Lenkrad.
"Ah, Junge, jetzt sag ihr schon Gute Nacht, oder gib ihr einen Abschiedskuß... oder geh mit ihr nachhause... nur setzt euch endlich in Bewegung!" murmelte er.

Die beiden hörten natürlich nichts davon, wie sie so an der Straßenecke standen, etwa einen Meter Abstand zwischen sich.

"Dann bis morgen, Rei."

"Ja. Und wenn du wieder eine... Vision haben solltest, dann bleib ruhig... warte..."
Sie kramte in ihrer Tasche, beförderte Papier und einen Stift zutage, schrieb etwas auf.
"Hier, Telephon und Adresse, wenn etwas passieren sollte, dann ruf mich an."

"Uhm, Rei, das..."

"Es betrifft uns beide."

"Ja. Einen Augenblick..."
Er zog ein Stück knittriges Papier aus der Hosentasche, glättete es und lieh sich ihren Stift aus, um ihr ebenfalls seine Telephonnummer zu geben.
"Wo ich wohne, weißt du ja."

"Ja."

"Woher eigentlich?"

Sie lächelte.
"Es steht in der Datenbank der Klasse, frei zugänglich für jeden."

"Oh", machte er und setzte einen verlegenen Gesichtsausdruck auf. "Äh, es wird spät..."

"Ja."
Plötzlich machte einen Schritt nach vorn und berührte kurz mit den Lippen seine Wange, es dauerte einen Augenblick, bis es Shinji dämmerte, daß sie ihn gerade geküßt hatte.

"Ah... ich..."

"Bis morgen."
Sie winkte ihm noch einmal zu, dann drehte sie sich um und lief die Straße hinunter.

Shinji war derart verwirrt, daß er den dunklen Wagen nicht bemerkte, der sich nun in Bewegung setzte und langsam die Straße hinunterfuhr.
Und sie hat mir gar nicht die Nase zugehalten...
Da war es wieder, dieses Gefühl, eine Situation bereits einmal erlebt zu haben.
Nein, nicht sie... wer dann? Rot... rotes Haar... Asuka! Asuka hat mich geküßt?
Die Erinnerung wurde von dem Eindruck, keine Luft mehr zubekommen, begleitet.
Wohl eher ein Mordversuch...
Seine Verwirrung steigerte sich mit jeder Sekunde, die er darüber nachdachte.
Aber warum hat sie mich geküßt?
´Shinji, mir ist langweilig...´ erklang ihre Stimme als Antwort auf seine Frage in
seinem Kopf.
Langeweile... das würde zu ihr passen... Rei hat mich geküßt, weil sie mich mag... und ich stand nur da... ich Idiot...
Zugleich fragte er sich, was er hätte tun sollen, hätte er sie in seine Arme ziehen sollen wie im Fernsehen?

Er grübelte immer noch, als ein grüner Kleinwagen neben ihm hielt, am Steuer saß Yui Ikari, seine Mutter.

"Kann ich dich mitnehmen?" fragte sie.

Er hob den Kopf.
"Mutter...?"
Dann wurde er der Tatsache gewahr, daß sie direkt vor ihm saß.

"Na los, spring rein."
Sie beugte sich zur Seite und öffnete die Beifahrertür.

"Ja."
Er ging um den Wagen herum und nahm neben ihr Platz.
"Hast du schon Feierabend?"
Shinji sah auf die Uhr.

Yui fuhr los.
"Nicht wirklich, aber wir konnten im Institut nichts mehr erledigen bei der ganzen Polizei..." seufzte sie.

"Polizei?"

"Ja, im Institut ist eingebrochen worden, wir haben es erst gegen Mittag gemerkt und ich mußte dableiben, um unsere Bestände zu überprüfen."

"Und, was wurde gestohlen?"

"Mehrere Gewebeproben aus der Kühlkammer, darunter auch etwas, das mit einem Projekt von mir in Verbindung steht. Es ist eine Schande... von der Forschung her ist das entwendete Material völlig wertlos, ohne meine Daten kann niemand etwas damit anfangen."

"Und wenn... und wenn der Dieb diese Daten schon hat?"

"Wie kommst denn darauf? Das wäre..."

Die Heimfahrt verlief schweigsam, beide hingen ihren eigenen Gedanken nach, während Shinjis sich mehr mit den seltsamen Erinnerungen, die seine waren, und die er doch nicht mit seinem Leben in Einklang bringen konnte, beschäftigte, dachte seine Mutter mehr über den Einbruch in das Forschungsinstitut nach.

Der Finger und die darauf basierenden Genproben - verschwunden... Gestern der Besuch dieses Lorenz Keel... Hängt es zusammen? Aber welche Bedeutung könnte der Finger haben, und weshalb interesiert sich jetzt jemand dafür, acht Jahre nachdem er mir zugespielt wurde?

Fast wäre sie an der Einfahrt des Parkplatzes vor ihrem Haus vorbeigefahren, lenkte im letzten Moment ein.

Gendo Ikari traf eine Stunde später ein und vertiefte sich sofort in die Tageszeitung, welche er am Morgen vergessen hatte mitzunehmen, wodurch das Abendessen recht schweigsam ausfiel.

Shinji bemerkte immer wieder den Blick seines Vaters auf sich ruhen, wenn dieser die Zeitung umblätterte. Gendos Blick wirkte besorgt...


***


Rei traf ihre Mutter in der gemeinsamen Wohnung an, als sie nach Hause kam.

Ritsuko Akagi war gerade dabei, das Abendessen zuzubereiten, ihre Katze, Daishi, strich schnurrend um ihre Beine.

"Hallo, Mama!" rief sie fröhlich, ehe sie in ihrem Zimmer verschwand, um sich umzuziehen.

Ritsuko sah auf.
"Rei, du bist ja so gut gelaunt, was gibt es denn?"

"Ach, alles ist bestens." antwortete Rei.

"Und dein kleiner Freund, Shinji Ikari?"
Sie hörte ein Rumsen aus dem Nachbarzimmer.
"Hast du dir etwas getan?"

"Nein, Mama", kam es mit einem beleidigten Tonfall zurück. "Der Stuhl ist nur umgefallen."

"Aha. Also, wie sieht es aus?"

Rei kam in die Küche, ihr Gesicht war hochrot.
"Shinji ist nicht mein ´kleiner Freund´, Mama."

"So, dann vielleicht dein großer Freund?" neckte sie ihre Tochter weiter.

"Nein, das... Mama, wie ist es, wenn man verliebt ist?"

Ritsuko erstarrte, drehte sich langsam um, betrachtete Rei von oben bis unten.
"Sag mal, wann bist du so groß geworden? Habe ich dir nicht letztens erst noch Gute-Nacht-Geschichten erzählt? Und jetzt sind wir bei solchen Themen angekommen..."
Sie seufzte.
"Ich schätze, es ist Zeit für ein ausführliches Mutter-Tochter-Gespräch, was?"

"Äh..."
Rei schien das ganze peinlich zu sein.

"Gut... Hm, wenn man verliebt ist... Rei, wenn du an diesen Jungen denkst, was fühlst du dann?"

"Es ist... so ein eigenartiges Kribbeln im Bauch..."

"Wie Schmetterlinge?"

"Schmetterlinge? ... das könnte hinkommen... ja, wie Schmetterlinge, die ganz schnell mit den Flügeln schlagen."

"Und du bist ganz aufgeregt?"

"Ja."
Rei sah zu Boden.
"Es ist schwer, die Kontrolle zu behalten."

Ritsuko seufzte wieder.
"Kontrolle... du willst immer ruhig bleiben, die Kontrolle über dich und deine Gefühle behalten... Rei, ich sage dir das jetzt, damit nicht vielleicht den gleichen Fehler machst wie ich, ja? Also hör mir zu."

"Ja, Mama."

"In Ordnung... Du kennst diesen Shinji erst ein paar Tage..."
Sie glaubte etwas in den Augen ihrer Tochter zu sehen, das sie als Widerspruch deutete, bemerkte auch, daß Rei zu einer Erwiderung ansetzte, dann aber den Mund wieder schloß.
"...deshalb ist es wohl ganz gut, daß du dich derart unter Kontrolle hast. Weißt du, ich kannte deinen Vater nur etwa drei Stunden, bevor... bevor ´es´ passiert ist. Du weißt doch, wovon ich rede, oder?"

Rei nickte stumm.

"Gut, dann bleibt mir wenigstens das erspart, ´ist ein recht peinliches Thema, oder?"

Wieder nickte Rei.

"Und am nächsten Tag war er fort, ich habe ihn nie wieder gesehen und auch nicht von ihm gehört. Mit ziemlicher Sicherheit weiß er nicht einmal, daß unsere gemeinsame Nacht Folgen hat-te..."

"Wie war mein Vater?" fragte das Mädchen scheu.

"Hm, das ist schwer zu sagen... ich kannte ihn kaum... es war eine wilde Zeit damals, ich war gerade mit der Schule fertig, hatte mich auf der Universität eingeschrieben und war alt genug, um in der Öffentlichkeit Alkohol zu trinken... und das nicht zu knapp... ich hatte eine gute Freundin damals, mit der ich in einigen Vorlesungen saß, Misato, wir waren oft zusammen unterwegs und haben uns amüsiert... und an einem solchen Abend traf ich deinen Vater... ich erinnere mich noch, daß er allein an der Theke der Disko saß, die wir frequentierten, weil sie gerade angesagt war... ich könnte ihn dir heute nicht einmal mehr beschreiben... aber du hast seine Augen... ich glaube, er war genauso voll wie ich... naja und irgendwie kam eins zum anderen und neun Monate später..."
Sie ging auf Rei zu und schloß sie in die Arme.
"Aber ich bereue es nicht."

"Danke, Mama", kam es weich zurück.

"Dennoch muß ich dir sagen, daß du achtgeben mußt, ihr seid alle in einem Alter, in dem die Hormone verrückt spielen und..."

"Misato-sensei nennt das die Pubertät."

"Ja, genau... Moment, Misato-sensei? Eure Lehrerin heißt genauso wie meine alte Freundin von der Uni, mit der ich mir ein Zimmer geteilt habe...?"

"Misato Katsuragi."

Ritsuko trat einen Schritt zurück.
"Ja... Rei, etwa so groß, purpurfarbenes Haar und recht... offenherzige Kleidung?"

"Ja, Mama."

"Das ist ja ein Zufall..." murmelte Ritsuko. "Nach deiner Geburt haben wir uns aus den Augen verloren. Na, die wird staunen... Wann ist der nächste Elternabend?"

"Warte, ich hole mein Notizbuch, da steht das..."
Rei brach mitten im Satz ab und faßte sich mit beiden Händen an den Kopf, preßte die Hände gegen die Schläfen und krümmte sich zusammen.

"Rei, was ist mit dir?" rief Ritsuko und fing ihre Tochter auf, als diese ohnmächtig zusammenbrach.


***


Tief unter Tokio, im Geosektor, erging es Seléne Shigen ähnlich. Die Leiterin des Projektes E krümmte sich wie unter starken Schmerzen im Kommandosessel auf der Brücke zusammen.

"Chef, geht es Ihnen nicht gut?" fragte Makoto Hyuga, der ihr gerade die Berichte der ver-schiedenen Abteilungen gebracht hatte, als der Anfall begann.

Seléne stieß ein langgezogenes Ächzen aus.
"Danke, Leutnant, es geht schon wieder", erwiderte sie schwach.
Aus ihrer Nase lief ein dünner Blutfaden und in ihren Augäpfeln waren mehrere Adern ge-platzt, so daß ihre goldgesprenkelten nachtschwarzen Augen in Blut zu schwimmen schienen.
"Könnten Sie mir ein Glas Wasser bringen?"

"Natürlich, Chef, sofort, bin gleich zurück."
Damit hastete er von der Brücke.

Seléne stemmte sich in die Höhe, stützte sich schwer mit den Händen auf das Pult vor sich.

Ein einzelner roter Blutstropfen fiel klatschend auf das blankpolierte Metall und bildete ein surrealistisches Muster.

"Gab es in den letzten Minuten Aktivitäten am Portal?" fragte sie mit aller Kraft, die sie derzeit aufbringen konnte, dennoch klang ihre Stimme leise.

Zwei Ebenen tiefer arbeitete Captain Shigeru Aoba hektisch an den Kontrollen seiner Station.
"Chef, der Kontakt mit Antarktika ist unterbrochen, ein extrem starker Funkimpuls scheint... ah, Augenblick, wir erhalten wieder eine Verbindung."

Der große, mehrere etagenhohe Bildschirm leuchtete auf, zeigte das Abbild eines kahlköpfigen Schwarzen in einer Uniform der Vereinten Nationen mit den Rangabzeichen eines Majors.
"Festung ruft Hauptquartier, bitte antworten Sie!"

Seléne justierte ihr Headset, das während des Anfalles verrutscht war.
"Hier Hauptquartier. Major Banks, was ist bei Ihnen vorgefallen?"

"Die vom Portal ausgehende Energie ist ohne Vorwarnung plötzlich in völlig untypischem Maße angestiegen, dann fingen unsere Geräte einen Funkimpuls mit solcher Stärke auf, daß die Primärsystem den Geist aufgaben."

"Ist etwas durch das Portal gekommen?"

"Negativ. Der Energiepegel ist jetzt wieder bei dem Wert vor der Entladung angekommen, liegt sogar etwas darunter. MELCHIOR ist der Ansicht, daß sich dadurch der Countdown, bis die volle Feldstärke erreicht ist, um zwei bis drei Tage verlängert hat."

Seléne nickte, bemerkte den Leutnant, der ihr das gewünschte Glas Wasser gebracht und neben ihr auf den Tisch gestellt hatte.
"Danke, Major. Informieren Sie mich umgehend, wenn eine Veränderung eintritt."

"Selbstverständlich. Antarktika Ende."

Seléne ließ sich auf ihren Stuhl zurücksinken und griff nach dem Glas.
"Danke, Leutnant, Sie können auf Ihren Posten zurückkehren."

"Soll ich noch einen Arzt anfordern..."

"Das ist nicht nötig."

"Ja, Chef."

"Captain Aoba, wurde das Funksignal aufgezeichnet?"

"Bestätigt."

"Die MAGI sollen sich an die Entschlüsselung machen, sollten die hiesigen Kapazitäten nicht ausreichen, kann das System in Osaka hinzugezogen werden."

"Schon bei der Arbeit."

Shigeru Aoba wandte sich der Metalltreppe zu, die nach unten zur Ebene des tokioter MAGI-Systems führte. Die drei Supercomputer mit Namen SOKRATES, PLATON und ARISTOTE-LES bildeten in ihren rechteckigen Kästen ein gleichschenkliges Dreieck.
Entsprechende Systeme existierten in Antarktika, Osaka, sowie den Werftanlagen im deutschen Wilhelmshaven und an der nordamerikanischen Westküste.

Seléne aktivierte ihre Kom-Konsole, gab den persönlichen Rufcode ihres Bruders ein.

Es dauerte mehrere Minuten, ehe sie Antwort erhielt und sich ein winziges Hologramm Thomas´ auf der Projektorfläche aufbaute. Soweit sie das erkennen konnte, sah er um einiges schlechter aus als sie selbst.

"Du hast es auch gespürt." stellte Seléne knapp fest.

"Ja, was ist passiert?"

"Ein starker Funkimpuls kam von der anderen Seite des Portals."

Er atmete scharf ein.
"Ein Aktivierungsimpuls... also haben sie mittlerweile erkannt, wohin wir uns abgesetzt haben..."

"Bist du sicher, daß es ein Aktivierungsimpuls war?"

Thomas nickte.
"Ich habe geglaubt, die Stimme der Imperatrix in meinem Kopf zu hören..."

"Dann müssen wir vorbereitet sein. Die MAGI analysieren gerade die Botschaft, vielleicht erfahren wir, an wen sie gerichtet ist."

"Oder an was... es gibt wahrscheinlich noch einige Angeloi-Hinterlassenschaften aus dem Dunklen Zeitalter, die wir noch nicht gefunden haben."

"Ja... Wie geht es dir?"

Er grinste, wodurch sein Gesicht Ähnlichkeit mit einem Totenschädel erhielt.
"Schlecht." sagte er mit monotoner Stimme, als verdiene sein Zustand keine weitere Aufmerksamkeit.

"Soll ich Doktor Takanawa verständigen? Sie kann in einer Stunde in Beijing sein und dich durchchecken."

"Nein. Ich komme hier gerade recht gut vorran, Premier Lau ist in recht guter Stimmung."

"Wie du meinst."

"Gibt es Neuigkeiten aus Deutschland?"

"Die ODYSSEUS ist voll einsatzbereit. Die UN stellen uns eine Begleitflotte. Sobald die CHRONOS fertiggestellt ist, bekommen wir ebenfalls einen Konvoi."

"Gut... Wieder ein Schritt mehr... Was sagt Antarktika? Ist sonst noch etwas geschehen?"

"Nein. Außer, daß wir anscheinend zwei Tage gewonnen haben, weil die Feldstärke des Portales wieder gesunken ist."

"Hoffentlich haben wir die zwei Tage auch und nicht jede Menge zusätzlichen Ärger..."


***


"Sie können eintreten."
Der Bedienstete deutete auf die Tür hinter sich und öffnete sie für den Besucher.

Schweren Schrittes ging Kozo Fuyutsuki in den abgedunkelten Raum hinein.

"Haben Sie es?" kam es aus den Schatten.

"Ja..."

"Gut. Legen Sie es auf den Tisch."

Fuyutsuki legte ein Päckchen auf einen schmalen Beistelltisch.
"Ich habe getan, was Sie wollten..."

"Ja, Professor. Und dafür wird niemand von den Spielschulden Ihres Sohnes erfahren."
Eine graue fleckige Hand schob ein Bündel Papiere zu ihm hinüber.
"Hier sind die Schuldscheine."

Fuyutsuki ergriff das Bündel hastig und ließ es in seiner Jackentasche verschwinden.
"War es das, Keel?"

"Wir haben, was wir wollten... das genetische Muster und die Daten..."

"Ja", murmelte der Professor bitter.

"Sie können gehen... Sollten Sie uns noch einmal von Nutzen sein können, werden wir uns wieder an Sie wenden..."

"Sie haben gesagt..."

"Und wagen Sie es nicht, sich uns entziehen zu wollen, Ihre Familie würde es bereuen."