Kapitel 09: Sorge
"Nein, keine allergische Reaktion... nein, das ist bisher nicht vorgekommen... Jetzt hören Sie, meine Tochter ist plötzlich ohnmächtig geworden, ich habe keine Ahnung weshalb... Ich bin selbst Ärztin... Kommen Sie jetzt endlich, oder muß ich sie persönlich zu Ihnen bringen? ... Ja, die Adresse ist... Danke..."
Wie aus weiter Ferne hörte Rei die Stimme ihrer Mutter im Flur, ebenso wie diese schließlich den Telephonhörer auf die Gabel knallte und in das kleine Wohnzimmer zurückkehrte.
"Ah... Mama..." flüsterte sie mit schwacher Stimme. Die Augen zu öffnen schien eine Ewigkeit zu dauern und ihre letzten Kraftreserven zu verbrauchen.
"Shhh. Bleib liegen, mein Schatz. Der Notarzt ist schon unterwegs."
"Ja..."
Ihr Kopf schmerzte, als hätte sie etwas Schweres mit voller Wucht gegen die Stirn getroffen.
"Ich habe mich so erschrocken... Wie fühlst du dich?"
"Schwach... und mein Kopf tut weh... das..."
Sie hob den auf der Sofalehne ruhenden Kopf leicht an, sah plötzlich Sterne und glaubte, daß ihre Kopfschmerzen sich verzehnfacht hätten, ließ sich zurücksinken.
"Was ist das, Mama?"
Ritsukos Stimme war voller Sorge und Furcht, als sie antwortete.
"Ich weiß es nicht. Der Arzt müßte gleich dasein, man wird dich ins nächste Krankenhaus bringen und dort gründlich untersuchen."
"Ja..."
Rei unterdrückte ein Zittern. Sie haßte Krankenhäuser...
***
Die Untersuchungen waren ergebnislos verlaufen, die Aufnahmen von Reis Schädel zeigten weder Hinweise auf einen Tumor oder Blutungen, auch die Knochen waren intakt.
"Aber weshalb ist sie dann zusammengebrochen?" fragt Ritsuko den behandelnden Arzt, einen Amerikaner, der sich als ´Doktor John Carter, Mitnehmer am Mediziner-Austausch-Programm´ vorgestellt hatte.
Carter zuckte mit den Schultern.
"Die Aufnahmen zeigen jedenfalls keine physischen Gründe. Die Blutuntersuchung sollte gleich abgeschlossen sein. Hatte Ihre Tochter in der letzten Zeit erhöhten Streß?"
"Eigentlich nicht."
"Eigentlich?"
"Nun, wir sind gerade erst von Osaka nach Tokio gezogen... die Umstellung, eine neue Schule, neue Gesichter... der erste Freund..."
"Hm, das könnten die Ursachen für Streß sein, aber sie erschien mir bei der Untersuchung recht widerstandsfähig."
"Ja, das ist sie, deshalb bin ich auch so besorgt... Sehen Sie, in ihrer Kindheit war sie eigentlich nie wirklich krank, gut, hier eine Erkältung, da eine Grippe oder eine Magenverstimmung, aber nichts Ernstes, verstehen Sie? Wir haben ein gutes Verhältnis, sie erzählt mir eigentlich alles."
"Sie sind alleinerziehend?"
Ritsuko nickte.
"Soll der Vater verständig werden?"
"Nein... ich wüßte auch nicht, wie ich ihn erreichen könnte."
"Verstehe. Ah, die Ergebnisse der Blutuntersuchung... hm, die Werte bewegen sich in normalen Bereichen, keine Unregelmäßigkeiten, nichts, das auf Drogen oder fremde Substanzen hinweisen könnte..."
"Meine Tochter nimmt keine Drogen, Doktor Carter!"
"Das wollte ich auch nicht andeuten, Frau Akagi, tut mir leid, wenn es so geklungen hat, mein Japanisch ist noch nicht so gut."
"Ja... Also, weshalb ist sie dann umgekippt?"
"Um ehlich zu sein... ich habe keine Ahnung. Am besten behalten wir sie über Nacht zur Beobachtung hier."
"Ich... gut. Kann ich noch kurz zu ihr?"
"Natürlich, gehen Sie nur."
Ritsuko betrat das Krankenzimmer, wo Rei in einem Krankenhausbett lag. Sie trug ein weißes Krankenhausnachthemd mit blauen Punkten.
"Schatz, wie fühlst du dich?"
Ritsuko ließ sich auf der Bettkante nieder und fuhr ihrer Tochter streichelnd durchs Haar.
"Etwas besser. Die Kopfschmerzen haben nachgelassen."
"Gut. Der Arzt sagt, du wärst körperlich in Ordnung, aber sie wollen dich bis morgen hierbehalten. Das heißt, ich fahre erst einmal heim, nehme für morgen Urlaub und komme dann morgen vormittag wieder."
"Ja, Mama... Aber ich komme schon klar, du mußt dir nicht extra Urlaub nehmen, schließlich hast du im Institut erst angefangen."
"Doktor Ikari ist ein sehr verständnisvoller Mensch, sie wird mir daraus keinen Strick drehen... muß ich halt bei Gelegenheit ein paar Überstunden machen, oder für einen Kollegen eine Schicht im Labor übernehmen."
Ritsuko lächelte.
"Kein Problem. Außerdem bist du zum ersten Mal seit deiner Geburt in einem Krankenhaus, und dann auch noch über Nacht. Leider lassen sie mich nicht bleiben."
"Danke, Mama. Was würde ich nur ohne dich tun..."
"Ah, laß... Rei, der Arzt, dieser Doktor Carter, meint, du könntest aufgrund von starkem Streß zusammengebrochen sein, ist das möglich?"
Rei schüttelte schwach den Kopf, jede stärkere Bewegung hätte ihre Kopfschmerzen wieder aufflackern lassen.
"Auch nicht mit dem Jungen, Shinji Ikari?"
"Nein. Shinji würde mir nie Kummer bereiten."
Ritsuko stutzte angesichts der Überzeugung und des liebevollen Untertones, mit dem ihre Tochter gesprochen hatte.
"Rei... ist zwischen dir und diesem Shinji etwas geschehen, das ich wissen sollte? Du weiß doch noch, worüber wir uns heute abend unterhalten hatten..."
"Mama!" kam es mit schwacher Entrüstung zurück. "Für so etwas bin ich noch gar nicht alt genug."
Ritsuko blinzelte.
Mit den eigenen Argumenten geschlagen... Meine Tochter wird langsam viel zu clever für mich...
Sie seufzte in Gedanken.
"Gut. Versprich mir nur, daß du dich zu nichts drängen läßt, ja?"
"Shinji würde niemals..."
"Du klingst, als wärst du dir ziemlich sicher."
"Ja", hauchte Rei.
"Rei, ich bin selbst kein Experte für menschliche Beziehungen, weiß Gott nicht, sonst hättest du einen Vater, der sich um dich kümmern würde... aber geht das nicht ein wenig schnell? Du kennst diesen Jungen doch erst ein paar Tage."
"Mir ist, als würde ich ihn schon eine Ewigkeit kennen."
Diesesmal fiel Ritsukos Seufzer in hörbarer Lautstärke aus.
Ich habe eine verliebte Teenie-Tochter... was habe ich nur verbrochen...?
"Ja... Aber dann möchte ich ihn bei Gelegenheit kennenlernen, wenn das nicht zuviel verlangt ist."
"Mama!" protestierte Rei, wollte sich aufsetzen, verzog das Gesicht und ließ sich wieder zurücksinken.
"Rei, ist es schlimmer geworden?"
"Nein, aber eben dachte ich, mein Kopf würde explodieren."
Es klopfte an der Tür. Carter sah ins Zimmer.
"Frau Akagi, ich habe in zehn Minuten Schichtwechsel, bis dahin können Sie noch bleiben, aber ich muß Sie bitten, dann heimzugehen."
"Ja, danke, Doktor."
Der andere nickte, er wirkte verständnisvoll.
"Ich werde Doktor Mizuno von der Nachtschicht Bescheid geben, daß sie ab und an nach Ihrer Tochter sieht." Er wandte sich Rei zu. "Und du, junge Dame, schlägst Alarm, falls die Kopfschmerzen schlimmer werden sollten."
"Ja."
"Schön."
Mit einem Lächeln auf den Lippen zog er die Tür wieder zu.
"Du hast ihn gehört, Rei, ich muß los. Aber ich bin gleich morgen früh wieder hier und hole dich ab."
"Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen, Mama."
"Das tue ich aber, ich bin deine Mutter, das gehört praktisch zum Job. So, also bevor ich es vergesse - ich möchte deinen neuen Freund kennenlernen, nur kurz, keine Angst, ich werde dir keinen Grund geben, dich für mich schämen zu müssen."
Rei nickte mit einem schwachen Lächeln.
"Einverstanden."
"Na also. Siehst du, deine Mutter weiß es immer noch am besten."
Ritsuko zwinkerte und beugte sich zu ihrer Tochter hinunter, um ihr einen Gute-Nacht-Kuß auf die Stirn zu geben, dann verließ sie das Krankenzimmer.
Kurz darauf erschien eine Schwester, wünschte Rei eine Gute Nacht und löschte das Licht.
Rei lag noch eine Weile so in der Dunkelheit da und starrte die Decke an, während das Hämmern hinter ihrer Stirn langsam nachließ. Schließlich fielen ihr die Augen zu und sie schlief ein.
***
Währenddessen hatte draußen auf dem Flur Ryoji Kaji Position bezogen, sein Ausweis vom Innenministerium und ein von ihm gänzlich ungewohnter abweisender Gesichtsausdruck verhinderten, daß jemand ihm unangenehme Fragen stellte.
Die Chefin klang recht erschrocken, als ich ihr den Grund für den Krankenhausaufenthalt des Mädchens mitgeteilt habe...
Er bereitete sich auf eine lange Nacht vor...
***
Das lautet Piepen des Weckers riß Shinji Ikari aus recht angenehmen Träumen. Mit einer weitausholenden Bewegung schlug er auf die Wecktaste, schaffte es aber nur, den Wecker von dem Tischchen neben dem Bett auf den Boden zu befördern, wo er weiterlärmte.
Shinji gab eine langgezogene Mischung aus Stöhnen und Seufzten von sich, als er schließlich dem Piepen nachgab und den Kopf unter dem Kissen hervorzog, sich aufsetzte und nach dem Wecker angelte.
"Und alles nur, weil Asuka aus irgendwelchen Gründen meint, stinksauer sein zu müssen..."
Schon am Vortag war er zu spät zum Unterricht erschienen, weil Asuka, die ein Stockwerk über ihnen wohnte, ihn nicht wie gewohnt geweckt hatte.
Schlaftrunken marschierte er ins Bad.
Während er sich wusch, hörte er, wie im Wohnzimmer das Telephon klingelte. Schon erklan-gen rasche Schritte, die er seiner Mutter zuordnete.
"Ikari? ... Ah, Doktor Akagi... ja... hm... ja... Ja, das geht in Ordnung, nehmen Sie sich den Tag frei... Nein, nein, wenn nicht klar ist, woran es liegt... wir Mütter müssen schließlich zusammenhalten... ja, gut... ich werde Sie beim Wort nehmen... ´wiederhören."
Shinji drehte sich um und öffnete die Badezimmertür.
"Mutter, wer war das denn?"
Yui stand noch im Flur des Apartments und sah ihn überrascht an.
"Oh, du hast es tatsächlich geschafft, rechtzeitig allein aus den Federn zu kommen. Das war eine Kollegin aus dem Institut."
"Doktor Akagi?"
"Ja. Du gehst mit ihrer Tochter in eine Klasse, wenn ich mich recht erinnere."
"Ja, ja, Rei."
"Hm, sie wollte mir sagen, daß sie heute nicht ins Institut kommt, weil ihre Tochter ins Krankenhaus mußte."
Shinji riß die Augen auf.
"Ist etwas mit Rei? Was?"
Yui machte eine Geste der Unwissenheit.
"Das hat sie mir nicht gesagt."
"Und welches Krankenhaus?"
"Das Städtische, nehme ich an, ist am nächsten. Warum fragst du das alles?"
Doch da war Shinji bereits wieder in seinem Zimmer verschwunden, hüpfte kurz darauf mit seinen Hosen kämpfend wieder auf den Flur und stieg in seine Schuhe.
"Willst du nichts essen?" rief seine Mutter.
"Nein, ich muß wissen, was mit Rei ist."
In der Küche ließ Gendo die Zeitung sinken.
"Shinji!" brüllte er unvermittelt, gleichzeitig schlug die Wohnungstür zu.
Vor Schreck ließ Yui ihre Tasse fallen.
"Gendo, was schreist du so?"
"Ich wußte, daß dieses Mädchen nur Ärger machen würde", murmelte er und stand abrupt auf. "Ich muß zur Arbeit, mein Dienst beginn in einer halben Stunde."
Yui unterdrückte einen Fluch, dessen bloße Kenntnis man ihr gar nicht zugetraut hätte.
***
Im Treppenhaus stieß Shinji fast mit Asuka zusammen, die vor der Wohnungstür der Ikaris stand und anscheinend überlegt hatte, ob sie klingeln sollte.
"Ah, kannst du nicht aufpassen, Baka-Shinji!" bedachte sie ihn mit einer ihrer üblichen Begrüßungen.
"Keine Zeit, Asuka", stieß er im Vorbeilaufen hervor.
"Wo willst du denn hin?" fragte sie überrascht, zugleich glaubte sie, aus der Ikari-Wohnung Shinijs Vater den Namen seines Sohnes schreien zu hören.
"Rei... Rei ist im Krankenhaus, ich muß sehen, was mit ihr ist", kam Shinjis Stimme von zwei Treppenabsätzen tiefer. "Kannst du mir die Hausaufgaben von heute mitbringen?"
"Ja", antwortete sie überrumpelt, dann traten ihr Temperament und ihre Vorsätze bezüglich ih-res ältesten Freundes wieder zutage.
"Hey, heißt das, du kommst nicht zur Schule? Wegen Wondergirl? Wie komme ich denn dazu..."
Das Schlagen der Haustür verriet ihr, daß er sie schon nicht mehr hören konnte.
Asuka schüttelte den Kopf.
"Baka-Shinji... lauf nur zu ihr... lauf doch..."
Sie wußte selbst nicht, weshalb sie sich derart abweisend verhielt, sobald das Thema Rei aufkam, schließlich waren sie und Shinji nur gute Freunde, die zusammen aufgewachsen waren... aber weshalb verspürte sie dann jedesmal einen Stich in der Herzgegend, wenn sie die beiden zusammen sah?
***
"Wurde eine Rei Akagi bei Ihnen eingewiesen?" fragte Shinji außer Atem die Krankenschwester am Empfang.
"Mal sehen. Akagi... Akagi, Rei... ja, gestern."
"Welches Zimmer?"
"Bist du mit ihr verwandt?"
"Nein", antwortete er, obwohl ein kleiner Teil von ihm sich gegen diese Antwort sträubte, jener Teil, der schon zuviele der alternativen Erinnerungen gesehen hatte, um noch objektiv bleiben zu können.
"Station 12, Zimmer 402, aber frage erst die Stationsschwester, ja?"
"Ja." nickte er und lief zum Aufzug.
Zimmer 402...
Die Zahl löste bei ihm wieder einen kurzen Erinnerungsschub aus, diesesmal bestehend aus einem seiner eigenen Gedankenfetzen.
Eine unvertraute Zimmerdecke...
***
Als Ritsuko hörte, daß sich jemand hinter ihr bei der Stationsschwester nach ihrer Tochter erkundigte, runzelte sie die Stirn und drehte sich um.
Am Eingang der Station stand ein etwa vierzehnjähriger Junge mit dunkelbraunen, ungekämmten Haaren, gekleidet in dunkle Jeans und ein helles Hemd.
***
Nachdem er von der Schwester die gewünschte Information erhalten hatte, wollte Shinji den Korridor hinunter gehen.
Ich habe eben gehört, daß du zu meiner Tochter möchtest?"
Shinji wandte den Kopf, vor ihm stand eine Frau mit hellblonden Haaren und einem Muttermal am Mundwinkel.
"Ah, uhm, ja... Sind Sie Reis Mutter?"
Ritsuko nickte.
"Und du? - Vielleicht Shinji Ikari?"
"Äh, ja... Woher kennen Sie meinen Namen?"
Ritsuko lächelte.
"Und woher weißt du, daß sie hier ist?"
"Ich habe gehört, wie Sie mit meiner Mutter gesprochen haben."
" - Und bist sofort hergekommen..."
Erstaunlich... Und ich dachte, Rei würde übertreiben...
Shinji nickte hastig.
"Was fehlt ihr?" fragte er besorgt.
"Sie hatte gestern einen Ohnmachtsanfall. Weißt du zufällig etwas darüber?"
"N-Nein", stotterte Shinji.
Eine weitere Erinnerung? So heftig, daß sie zusammengebrochen ist?
Warum stottert er plötzlich? Weiß er etwas oder ist er einfach nur besorgt?
Ritsuko sah ihn einen Moment lang an, entschied dann, nicht weiter nachzuhaken.
"Komm mit, wir sehen mal nach ihr."
Als sie Reis Zimmer betraten, leuchteten Reis Augen auf.
"Shinji..."
Trotz der wenig eleganten Krankenhauskleidung sprang sie aus dem Bett und lief auf den Jungen zu, stoppte direkt vor ihm, als sie ihrer Mutter gewahr wurde und ließ die ausgebrei-teten Arme sinken.
"Wie...?"
"Hallo, Rei." sagte Shinji und lächelte verlegen.
"Nun schau ´mal, wer mir da auf dem Flur begegnet ist. Hast du für deine Mutter keine Begrüßung übrig?" kam es von Ritsuko.
"Entschuldige..."
Rei umarmte ihre Mutter kurz.
Shinji starrte einen Moment lang auf den tiefen Rückenausschnitt des Nachthemdes, wandte sich dann mit hochrotem Gesicht dezent ab, etwas, das Ritsuko bemerkte.
Rei wandte sich wieder Shinji zu, der aus dem Fenster zu blicken vorgab.
"Wo schaust du denn hin?"
"Äh, nirgendwohin."
Lachend warf Ritsuko Akagi ihrer Tochter einen Bademantel zu, der hinter der Tür gehangen hatte.
"Zieh dir den besser über, dein Freund ist etwas schüchtern."
"Mama!"
"Schon gut, schon gut."
Sie trat einen Schritt zurück.
"Und, wie fühlst du dich?"
Rei berührte kurz ihre Stirn.
"Die Kopfschmerzen sind fort."
"Gut, dann werde ich jetzt ´mal nachfragen, ob ich dich mitnehmen kann."
Sie nickte Shinji zu.
"Dann könnt ihr euch einen Moment ungestört unterhalten. Aber macht keinen Unfug!"
"Mama!"
Immer noch lachend verließ Ritsuko das Zimmer, nachdem sie eine Tasche neben der Tür abgestellt hatte.
Rei schlüpfte in den Bademantel.
"Du kannst hersehen, Shinji-kun."
"Uhm, ja."
"Warum ist es dir peinlich?"
"Es ist... ich respektiere dich, Rei... und wenn ich dich anstarren würde, während du..., ah,..."
"Während ich herumlaufe wie Misato-sensei?" fragte sie mit schiefem Lächeln und blitzenden Augen, setzte sich auf die Bettkante und zeigte verhältnismäßig viel Bein.
"Äh, ja, wenn ich dich dann anstarren würde, wäre das wohl kaum ein Zeichen von..., uh, Respekt..."
Sie sah ihn kurz an, nickte dann.
"Und wenn ich wollte, daß du mich ansiehst?"
Shinji lief hochrot an, stotterte unzusammenhängende Silben.
Rei lachte.
"Shinji, bitte, es tut mir leid, ich wollte dich nicht wieder in Verlegenheit bringen."
"Ja... Rei, weshalb bist du hier? Deine Mutter sagte etwas von einem Ohnmachtsanfall..."
"Ich hatte plötzlich sehr starke Kopfschmerzen, zugleich war mir, als hätte eine sehr laute Stimme etwas direkt in meinem Kopf geschrien... und dann bin ich auf dem Sofa wieder zu mir gekommen und der Notarzt kam. Aber jetzt ist es wieder in Ordnung."
"Hattest du... ich meine... eine Vision?"
"Nein, keine weiteren Erinnerungen. Und du?"
"Auch nicht... oder... ein paar Fetzen, ein Wort hier, ein Gedanke da."
"Hm... Wie hast du überhaupt erfahren, daß ich hier bin?"
"Uhm, deine Mutter hat bei uns angerufen und ich habe gehört, wie meine Mutter mit ihr gesprochen hat, und dann habe ich sie gefragt, was denn war, und sie hat..." sprudelte es aus ihm hervor.
Rei hob abwehrend die Hände.
"Schon gut, schon gut, ich kann es mir vorstellen... Und du bist gleich hergekommen..."
Sie sah ihn an und lächelte. Es war nicht das Lächeln, welches sie sonst der Welt präsentierte, sondern ein ganz spezielles Lächeln, welches bei ihm eine erneute Erinnerung auslöste - sie hatte schon einmal so gelächelt, für ihn... Damals nach dem Sieg über den Engel Ramiel auf dem Berg Fugotoyama...
Er kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf.
Falsch... es gibt kein Damals... ich sehe dieses Lächeln zum ersten Mal...
"Shinji?"
"Nichts, nur..."
"... eine Erinnerung", beendete sie den Satz für ihn.
"Ja. Mach dir keine Gedanken."
"Shinji, es quält dich, also mache ich mir deswegen Gedanken, das ist so natürlich wie zu atmen..."
"Rei..."
Noch immer lächelte sie.
"Du bist sofort gekommen... hast dir nicht einmal die Haare gekämmt... und ein Hemdsknopf steht auch offen..."
"Äh..."
"Shinji, das war lieb von dir."
"Ich..."
"Danke."
"Ich konnte nicht anders... Es war so natürlich wie zu atmen..." wiederholte er ihre Worte.
"Und dafür danke ich dir... Shinji, ich... Ich erinnere mich gerade... es ist dunkel und dein Arm liegt um meine Schultern... etwas ist gerade passiert, du hattest Angst um mich... und du hast gesagt, daß wir irgendwann zu dem Schluß kommen werden, es sei gut zu leben."
"Rei, das..."
Ihre Worte rissen auch bei ihm verschüttete Erinnerungssequenzen an ein anderes Leben hevor.
Sie spricht von den Ereignissen, nachdem ich Ramiel abgeschossen und sie aus dem Entry-Plug geholt hatte...
In diesem Moment kam Ritsuko zurück, bemerkte den seltsamen Blick, mit dem die beiden einander ansahen, als verbinde sie ein Band, daß nur sie selbst wahrnehmen konnten, als teilten sie ein Geheimnis, in dem Ritsuko keinen Platz hatte.
Im ersten Moment fühlte sie sich ausgeschlossen und fast eifersüchtig, dann seufzte sie wieder unhörbar.
Die erste Liebe...
***
Misato Katsuragi zählte ihre Schüler ab, kam zu dem Schluß, daß zwei fehlten, identifizierte die fehlenden als Rei Akagi und Shinji Ikari.
"Also, von ihrer Mutter weiß ich, daß Rei krank ist, kann mir jemand sagen, was mit Shinji ist?"
Sie machte einen entsprechenden Eintrag ins Klassenbuch neben dem Namen Akagi, Rei, blickte dann auf.
"Asuka? Weißt du etwas?"
Asuka stand auf.
"Ähm... Shinji ist auch krank", erklärte Asuka nach kurzem Zögern. "Wahrscheinlich hat er sich bei Rei angesteckt."
"Hm, gut, sag ihm, er soll mir eine schriftliche Entschuldigung mitbringen."
"Ja, Sensei."
Sie setzte sich wieder.
Und jetzt lüge ich auch noch für den Trottel...
"He, Asuka", flüsterte Kensuke, der hinter ihr saß.
"Was willst du, Doofmann?"
"Waren die beiden heute nacht zusammen und waren zu erschöpft für den Unterricht?"
Kensuke kicherte, stellte sich das ganze in Gedanken vor und wünschte sich, dabei gewesen zu sein.
Asuka wünschte sich nur ein Gewehr...
"Nein, keine allergische Reaktion... nein, das ist bisher nicht vorgekommen... Jetzt hören Sie, meine Tochter ist plötzlich ohnmächtig geworden, ich habe keine Ahnung weshalb... Ich bin selbst Ärztin... Kommen Sie jetzt endlich, oder muß ich sie persönlich zu Ihnen bringen? ... Ja, die Adresse ist... Danke..."
Wie aus weiter Ferne hörte Rei die Stimme ihrer Mutter im Flur, ebenso wie diese schließlich den Telephonhörer auf die Gabel knallte und in das kleine Wohnzimmer zurückkehrte.
"Ah... Mama..." flüsterte sie mit schwacher Stimme. Die Augen zu öffnen schien eine Ewigkeit zu dauern und ihre letzten Kraftreserven zu verbrauchen.
"Shhh. Bleib liegen, mein Schatz. Der Notarzt ist schon unterwegs."
"Ja..."
Ihr Kopf schmerzte, als hätte sie etwas Schweres mit voller Wucht gegen die Stirn getroffen.
"Ich habe mich so erschrocken... Wie fühlst du dich?"
"Schwach... und mein Kopf tut weh... das..."
Sie hob den auf der Sofalehne ruhenden Kopf leicht an, sah plötzlich Sterne und glaubte, daß ihre Kopfschmerzen sich verzehnfacht hätten, ließ sich zurücksinken.
"Was ist das, Mama?"
Ritsukos Stimme war voller Sorge und Furcht, als sie antwortete.
"Ich weiß es nicht. Der Arzt müßte gleich dasein, man wird dich ins nächste Krankenhaus bringen und dort gründlich untersuchen."
"Ja..."
Rei unterdrückte ein Zittern. Sie haßte Krankenhäuser...
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Die Untersuchungen waren ergebnislos verlaufen, die Aufnahmen von Reis Schädel zeigten weder Hinweise auf einen Tumor oder Blutungen, auch die Knochen waren intakt.
"Aber weshalb ist sie dann zusammengebrochen?" fragt Ritsuko den behandelnden Arzt, einen Amerikaner, der sich als ´Doktor John Carter, Mitnehmer am Mediziner-Austausch-Programm´ vorgestellt hatte.
Carter zuckte mit den Schultern.
"Die Aufnahmen zeigen jedenfalls keine physischen Gründe. Die Blutuntersuchung sollte gleich abgeschlossen sein. Hatte Ihre Tochter in der letzten Zeit erhöhten Streß?"
"Eigentlich nicht."
"Eigentlich?"
"Nun, wir sind gerade erst von Osaka nach Tokio gezogen... die Umstellung, eine neue Schule, neue Gesichter... der erste Freund..."
"Hm, das könnten die Ursachen für Streß sein, aber sie erschien mir bei der Untersuchung recht widerstandsfähig."
"Ja, das ist sie, deshalb bin ich auch so besorgt... Sehen Sie, in ihrer Kindheit war sie eigentlich nie wirklich krank, gut, hier eine Erkältung, da eine Grippe oder eine Magenverstimmung, aber nichts Ernstes, verstehen Sie? Wir haben ein gutes Verhältnis, sie erzählt mir eigentlich alles."
"Sie sind alleinerziehend?"
Ritsuko nickte.
"Soll der Vater verständig werden?"
"Nein... ich wüßte auch nicht, wie ich ihn erreichen könnte."
"Verstehe. Ah, die Ergebnisse der Blutuntersuchung... hm, die Werte bewegen sich in normalen Bereichen, keine Unregelmäßigkeiten, nichts, das auf Drogen oder fremde Substanzen hinweisen könnte..."
"Meine Tochter nimmt keine Drogen, Doktor Carter!"
"Das wollte ich auch nicht andeuten, Frau Akagi, tut mir leid, wenn es so geklungen hat, mein Japanisch ist noch nicht so gut."
"Ja... Also, weshalb ist sie dann umgekippt?"
"Um ehlich zu sein... ich habe keine Ahnung. Am besten behalten wir sie über Nacht zur Beobachtung hier."
"Ich... gut. Kann ich noch kurz zu ihr?"
"Natürlich, gehen Sie nur."
Ritsuko betrat das Krankenzimmer, wo Rei in einem Krankenhausbett lag. Sie trug ein weißes Krankenhausnachthemd mit blauen Punkten.
"Schatz, wie fühlst du dich?"
Ritsuko ließ sich auf der Bettkante nieder und fuhr ihrer Tochter streichelnd durchs Haar.
"Etwas besser. Die Kopfschmerzen haben nachgelassen."
"Gut. Der Arzt sagt, du wärst körperlich in Ordnung, aber sie wollen dich bis morgen hierbehalten. Das heißt, ich fahre erst einmal heim, nehme für morgen Urlaub und komme dann morgen vormittag wieder."
"Ja, Mama... Aber ich komme schon klar, du mußt dir nicht extra Urlaub nehmen, schließlich hast du im Institut erst angefangen."
"Doktor Ikari ist ein sehr verständnisvoller Mensch, sie wird mir daraus keinen Strick drehen... muß ich halt bei Gelegenheit ein paar Überstunden machen, oder für einen Kollegen eine Schicht im Labor übernehmen."
Ritsuko lächelte.
"Kein Problem. Außerdem bist du zum ersten Mal seit deiner Geburt in einem Krankenhaus, und dann auch noch über Nacht. Leider lassen sie mich nicht bleiben."
"Danke, Mama. Was würde ich nur ohne dich tun..."
"Ah, laß... Rei, der Arzt, dieser Doktor Carter, meint, du könntest aufgrund von starkem Streß zusammengebrochen sein, ist das möglich?"
Rei schüttelte schwach den Kopf, jede stärkere Bewegung hätte ihre Kopfschmerzen wieder aufflackern lassen.
"Auch nicht mit dem Jungen, Shinji Ikari?"
"Nein. Shinji würde mir nie Kummer bereiten."
Ritsuko stutzte angesichts der Überzeugung und des liebevollen Untertones, mit dem ihre Tochter gesprochen hatte.
"Rei... ist zwischen dir und diesem Shinji etwas geschehen, das ich wissen sollte? Du weiß doch noch, worüber wir uns heute abend unterhalten hatten..."
"Mama!" kam es mit schwacher Entrüstung zurück. "Für so etwas bin ich noch gar nicht alt genug."
Ritsuko blinzelte.
Mit den eigenen Argumenten geschlagen... Meine Tochter wird langsam viel zu clever für mich...
Sie seufzte in Gedanken.
"Gut. Versprich mir nur, daß du dich zu nichts drängen läßt, ja?"
"Shinji würde niemals..."
"Du klingst, als wärst du dir ziemlich sicher."
"Ja", hauchte Rei.
"Rei, ich bin selbst kein Experte für menschliche Beziehungen, weiß Gott nicht, sonst hättest du einen Vater, der sich um dich kümmern würde... aber geht das nicht ein wenig schnell? Du kennst diesen Jungen doch erst ein paar Tage."
"Mir ist, als würde ich ihn schon eine Ewigkeit kennen."
Diesesmal fiel Ritsukos Seufzer in hörbarer Lautstärke aus.
Ich habe eine verliebte Teenie-Tochter... was habe ich nur verbrochen...?
"Ja... Aber dann möchte ich ihn bei Gelegenheit kennenlernen, wenn das nicht zuviel verlangt ist."
"Mama!" protestierte Rei, wollte sich aufsetzen, verzog das Gesicht und ließ sich wieder zurücksinken.
"Rei, ist es schlimmer geworden?"
"Nein, aber eben dachte ich, mein Kopf würde explodieren."
Es klopfte an der Tür. Carter sah ins Zimmer.
"Frau Akagi, ich habe in zehn Minuten Schichtwechsel, bis dahin können Sie noch bleiben, aber ich muß Sie bitten, dann heimzugehen."
"Ja, danke, Doktor."
Der andere nickte, er wirkte verständnisvoll.
"Ich werde Doktor Mizuno von der Nachtschicht Bescheid geben, daß sie ab und an nach Ihrer Tochter sieht." Er wandte sich Rei zu. "Und du, junge Dame, schlägst Alarm, falls die Kopfschmerzen schlimmer werden sollten."
"Ja."
"Schön."
Mit einem Lächeln auf den Lippen zog er die Tür wieder zu.
"Du hast ihn gehört, Rei, ich muß los. Aber ich bin gleich morgen früh wieder hier und hole dich ab."
"Du brauchst dich nicht um mich zu sorgen, Mama."
"Das tue ich aber, ich bin deine Mutter, das gehört praktisch zum Job. So, also bevor ich es vergesse - ich möchte deinen neuen Freund kennenlernen, nur kurz, keine Angst, ich werde dir keinen Grund geben, dich für mich schämen zu müssen."
Rei nickte mit einem schwachen Lächeln.
"Einverstanden."
"Na also. Siehst du, deine Mutter weiß es immer noch am besten."
Ritsuko zwinkerte und beugte sich zu ihrer Tochter hinunter, um ihr einen Gute-Nacht-Kuß auf die Stirn zu geben, dann verließ sie das Krankenzimmer.
Kurz darauf erschien eine Schwester, wünschte Rei eine Gute Nacht und löschte das Licht.
Rei lag noch eine Weile so in der Dunkelheit da und starrte die Decke an, während das Hämmern hinter ihrer Stirn langsam nachließ. Schließlich fielen ihr die Augen zu und sie schlief ein.
***
Währenddessen hatte draußen auf dem Flur Ryoji Kaji Position bezogen, sein Ausweis vom Innenministerium und ein von ihm gänzlich ungewohnter abweisender Gesichtsausdruck verhinderten, daß jemand ihm unangenehme Fragen stellte.
Die Chefin klang recht erschrocken, als ich ihr den Grund für den Krankenhausaufenthalt des Mädchens mitgeteilt habe...
Er bereitete sich auf eine lange Nacht vor...
***
Das lautet Piepen des Weckers riß Shinji Ikari aus recht angenehmen Träumen. Mit einer weitausholenden Bewegung schlug er auf die Wecktaste, schaffte es aber nur, den Wecker von dem Tischchen neben dem Bett auf den Boden zu befördern, wo er weiterlärmte.
Shinji gab eine langgezogene Mischung aus Stöhnen und Seufzten von sich, als er schließlich dem Piepen nachgab und den Kopf unter dem Kissen hervorzog, sich aufsetzte und nach dem Wecker angelte.
"Und alles nur, weil Asuka aus irgendwelchen Gründen meint, stinksauer sein zu müssen..."
Schon am Vortag war er zu spät zum Unterricht erschienen, weil Asuka, die ein Stockwerk über ihnen wohnte, ihn nicht wie gewohnt geweckt hatte.
Schlaftrunken marschierte er ins Bad.
Während er sich wusch, hörte er, wie im Wohnzimmer das Telephon klingelte. Schon erklan-gen rasche Schritte, die er seiner Mutter zuordnete.
"Ikari? ... Ah, Doktor Akagi... ja... hm... ja... Ja, das geht in Ordnung, nehmen Sie sich den Tag frei... Nein, nein, wenn nicht klar ist, woran es liegt... wir Mütter müssen schließlich zusammenhalten... ja, gut... ich werde Sie beim Wort nehmen... ´wiederhören."
Shinji drehte sich um und öffnete die Badezimmertür.
"Mutter, wer war das denn?"
Yui stand noch im Flur des Apartments und sah ihn überrascht an.
"Oh, du hast es tatsächlich geschafft, rechtzeitig allein aus den Federn zu kommen. Das war eine Kollegin aus dem Institut."
"Doktor Akagi?"
"Ja. Du gehst mit ihrer Tochter in eine Klasse, wenn ich mich recht erinnere."
"Ja, ja, Rei."
"Hm, sie wollte mir sagen, daß sie heute nicht ins Institut kommt, weil ihre Tochter ins Krankenhaus mußte."
Shinji riß die Augen auf.
"Ist etwas mit Rei? Was?"
Yui machte eine Geste der Unwissenheit.
"Das hat sie mir nicht gesagt."
"Und welches Krankenhaus?"
"Das Städtische, nehme ich an, ist am nächsten. Warum fragst du das alles?"
Doch da war Shinji bereits wieder in seinem Zimmer verschwunden, hüpfte kurz darauf mit seinen Hosen kämpfend wieder auf den Flur und stieg in seine Schuhe.
"Willst du nichts essen?" rief seine Mutter.
"Nein, ich muß wissen, was mit Rei ist."
In der Küche ließ Gendo die Zeitung sinken.
"Shinji!" brüllte er unvermittelt, gleichzeitig schlug die Wohnungstür zu.
Vor Schreck ließ Yui ihre Tasse fallen.
"Gendo, was schreist du so?"
"Ich wußte, daß dieses Mädchen nur Ärger machen würde", murmelte er und stand abrupt auf. "Ich muß zur Arbeit, mein Dienst beginn in einer halben Stunde."
Yui unterdrückte einen Fluch, dessen bloße Kenntnis man ihr gar nicht zugetraut hätte.
***
Im Treppenhaus stieß Shinji fast mit Asuka zusammen, die vor der Wohnungstür der Ikaris stand und anscheinend überlegt hatte, ob sie klingeln sollte.
"Ah, kannst du nicht aufpassen, Baka-Shinji!" bedachte sie ihn mit einer ihrer üblichen Begrüßungen.
"Keine Zeit, Asuka", stieß er im Vorbeilaufen hervor.
"Wo willst du denn hin?" fragte sie überrascht, zugleich glaubte sie, aus der Ikari-Wohnung Shinijs Vater den Namen seines Sohnes schreien zu hören.
"Rei... Rei ist im Krankenhaus, ich muß sehen, was mit ihr ist", kam Shinjis Stimme von zwei Treppenabsätzen tiefer. "Kannst du mir die Hausaufgaben von heute mitbringen?"
"Ja", antwortete sie überrumpelt, dann traten ihr Temperament und ihre Vorsätze bezüglich ih-res ältesten Freundes wieder zutage.
"Hey, heißt das, du kommst nicht zur Schule? Wegen Wondergirl? Wie komme ich denn dazu..."
Das Schlagen der Haustür verriet ihr, daß er sie schon nicht mehr hören konnte.
Asuka schüttelte den Kopf.
"Baka-Shinji... lauf nur zu ihr... lauf doch..."
Sie wußte selbst nicht, weshalb sie sich derart abweisend verhielt, sobald das Thema Rei aufkam, schließlich waren sie und Shinji nur gute Freunde, die zusammen aufgewachsen waren... aber weshalb verspürte sie dann jedesmal einen Stich in der Herzgegend, wenn sie die beiden zusammen sah?
***
"Wurde eine Rei Akagi bei Ihnen eingewiesen?" fragte Shinji außer Atem die Krankenschwester am Empfang.
"Mal sehen. Akagi... Akagi, Rei... ja, gestern."
"Welches Zimmer?"
"Bist du mit ihr verwandt?"
"Nein", antwortete er, obwohl ein kleiner Teil von ihm sich gegen diese Antwort sträubte, jener Teil, der schon zuviele der alternativen Erinnerungen gesehen hatte, um noch objektiv bleiben zu können.
"Station 12, Zimmer 402, aber frage erst die Stationsschwester, ja?"
"Ja." nickte er und lief zum Aufzug.
Zimmer 402...
Die Zahl löste bei ihm wieder einen kurzen Erinnerungsschub aus, diesesmal bestehend aus einem seiner eigenen Gedankenfetzen.
Eine unvertraute Zimmerdecke...
***
Als Ritsuko hörte, daß sich jemand hinter ihr bei der Stationsschwester nach ihrer Tochter erkundigte, runzelte sie die Stirn und drehte sich um.
Am Eingang der Station stand ein etwa vierzehnjähriger Junge mit dunkelbraunen, ungekämmten Haaren, gekleidet in dunkle Jeans und ein helles Hemd.
***
Nachdem er von der Schwester die gewünschte Information erhalten hatte, wollte Shinji den Korridor hinunter gehen.
Ich habe eben gehört, daß du zu meiner Tochter möchtest?"
Shinji wandte den Kopf, vor ihm stand eine Frau mit hellblonden Haaren und einem Muttermal am Mundwinkel.
"Ah, uhm, ja... Sind Sie Reis Mutter?"
Ritsuko nickte.
"Und du? - Vielleicht Shinji Ikari?"
"Äh, ja... Woher kennen Sie meinen Namen?"
Ritsuko lächelte.
"Und woher weißt du, daß sie hier ist?"
"Ich habe gehört, wie Sie mit meiner Mutter gesprochen haben."
" - Und bist sofort hergekommen..."
Erstaunlich... Und ich dachte, Rei würde übertreiben...
Shinji nickte hastig.
"Was fehlt ihr?" fragte er besorgt.
"Sie hatte gestern einen Ohnmachtsanfall. Weißt du zufällig etwas darüber?"
"N-Nein", stotterte Shinji.
Eine weitere Erinnerung? So heftig, daß sie zusammengebrochen ist?
Warum stottert er plötzlich? Weiß er etwas oder ist er einfach nur besorgt?
Ritsuko sah ihn einen Moment lang an, entschied dann, nicht weiter nachzuhaken.
"Komm mit, wir sehen mal nach ihr."
Als sie Reis Zimmer betraten, leuchteten Reis Augen auf.
"Shinji..."
Trotz der wenig eleganten Krankenhauskleidung sprang sie aus dem Bett und lief auf den Jungen zu, stoppte direkt vor ihm, als sie ihrer Mutter gewahr wurde und ließ die ausgebrei-teten Arme sinken.
"Wie...?"
"Hallo, Rei." sagte Shinji und lächelte verlegen.
"Nun schau ´mal, wer mir da auf dem Flur begegnet ist. Hast du für deine Mutter keine Begrüßung übrig?" kam es von Ritsuko.
"Entschuldige..."
Rei umarmte ihre Mutter kurz.
Shinji starrte einen Moment lang auf den tiefen Rückenausschnitt des Nachthemdes, wandte sich dann mit hochrotem Gesicht dezent ab, etwas, das Ritsuko bemerkte.
Rei wandte sich wieder Shinji zu, der aus dem Fenster zu blicken vorgab.
"Wo schaust du denn hin?"
"Äh, nirgendwohin."
Lachend warf Ritsuko Akagi ihrer Tochter einen Bademantel zu, der hinter der Tür gehangen hatte.
"Zieh dir den besser über, dein Freund ist etwas schüchtern."
"Mama!"
"Schon gut, schon gut."
Sie trat einen Schritt zurück.
"Und, wie fühlst du dich?"
Rei berührte kurz ihre Stirn.
"Die Kopfschmerzen sind fort."
"Gut, dann werde ich jetzt ´mal nachfragen, ob ich dich mitnehmen kann."
Sie nickte Shinji zu.
"Dann könnt ihr euch einen Moment ungestört unterhalten. Aber macht keinen Unfug!"
"Mama!"
Immer noch lachend verließ Ritsuko das Zimmer, nachdem sie eine Tasche neben der Tür abgestellt hatte.
Rei schlüpfte in den Bademantel.
"Du kannst hersehen, Shinji-kun."
"Uhm, ja."
"Warum ist es dir peinlich?"
"Es ist... ich respektiere dich, Rei... und wenn ich dich anstarren würde, während du..., ah,..."
"Während ich herumlaufe wie Misato-sensei?" fragte sie mit schiefem Lächeln und blitzenden Augen, setzte sich auf die Bettkante und zeigte verhältnismäßig viel Bein.
"Äh, ja, wenn ich dich dann anstarren würde, wäre das wohl kaum ein Zeichen von..., uh, Respekt..."
Sie sah ihn kurz an, nickte dann.
"Und wenn ich wollte, daß du mich ansiehst?"
Shinji lief hochrot an, stotterte unzusammenhängende Silben.
Rei lachte.
"Shinji, bitte, es tut mir leid, ich wollte dich nicht wieder in Verlegenheit bringen."
"Ja... Rei, weshalb bist du hier? Deine Mutter sagte etwas von einem Ohnmachtsanfall..."
"Ich hatte plötzlich sehr starke Kopfschmerzen, zugleich war mir, als hätte eine sehr laute Stimme etwas direkt in meinem Kopf geschrien... und dann bin ich auf dem Sofa wieder zu mir gekommen und der Notarzt kam. Aber jetzt ist es wieder in Ordnung."
"Hattest du... ich meine... eine Vision?"
"Nein, keine weiteren Erinnerungen. Und du?"
"Auch nicht... oder... ein paar Fetzen, ein Wort hier, ein Gedanke da."
"Hm... Wie hast du überhaupt erfahren, daß ich hier bin?"
"Uhm, deine Mutter hat bei uns angerufen und ich habe gehört, wie meine Mutter mit ihr gesprochen hat, und dann habe ich sie gefragt, was denn war, und sie hat..." sprudelte es aus ihm hervor.
Rei hob abwehrend die Hände.
"Schon gut, schon gut, ich kann es mir vorstellen... Und du bist gleich hergekommen..."
Sie sah ihn an und lächelte. Es war nicht das Lächeln, welches sie sonst der Welt präsentierte, sondern ein ganz spezielles Lächeln, welches bei ihm eine erneute Erinnerung auslöste - sie hatte schon einmal so gelächelt, für ihn... Damals nach dem Sieg über den Engel Ramiel auf dem Berg Fugotoyama...
Er kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf.
Falsch... es gibt kein Damals... ich sehe dieses Lächeln zum ersten Mal...
"Shinji?"
"Nichts, nur..."
"... eine Erinnerung", beendete sie den Satz für ihn.
"Ja. Mach dir keine Gedanken."
"Shinji, es quält dich, also mache ich mir deswegen Gedanken, das ist so natürlich wie zu atmen..."
"Rei..."
Noch immer lächelte sie.
"Du bist sofort gekommen... hast dir nicht einmal die Haare gekämmt... und ein Hemdsknopf steht auch offen..."
"Äh..."
"Shinji, das war lieb von dir."
"Ich..."
"Danke."
"Ich konnte nicht anders... Es war so natürlich wie zu atmen..." wiederholte er ihre Worte.
"Und dafür danke ich dir... Shinji, ich... Ich erinnere mich gerade... es ist dunkel und dein Arm liegt um meine Schultern... etwas ist gerade passiert, du hattest Angst um mich... und du hast gesagt, daß wir irgendwann zu dem Schluß kommen werden, es sei gut zu leben."
"Rei, das..."
Ihre Worte rissen auch bei ihm verschüttete Erinnerungssequenzen an ein anderes Leben hevor.
Sie spricht von den Ereignissen, nachdem ich Ramiel abgeschossen und sie aus dem Entry-Plug geholt hatte...
In diesem Moment kam Ritsuko zurück, bemerkte den seltsamen Blick, mit dem die beiden einander ansahen, als verbinde sie ein Band, daß nur sie selbst wahrnehmen konnten, als teilten sie ein Geheimnis, in dem Ritsuko keinen Platz hatte.
Im ersten Moment fühlte sie sich ausgeschlossen und fast eifersüchtig, dann seufzte sie wieder unhörbar.
Die erste Liebe...
***
Misato Katsuragi zählte ihre Schüler ab, kam zu dem Schluß, daß zwei fehlten, identifizierte die fehlenden als Rei Akagi und Shinji Ikari.
"Also, von ihrer Mutter weiß ich, daß Rei krank ist, kann mir jemand sagen, was mit Shinji ist?"
Sie machte einen entsprechenden Eintrag ins Klassenbuch neben dem Namen Akagi, Rei, blickte dann auf.
"Asuka? Weißt du etwas?"
Asuka stand auf.
"Ähm... Shinji ist auch krank", erklärte Asuka nach kurzem Zögern. "Wahrscheinlich hat er sich bei Rei angesteckt."
"Hm, gut, sag ihm, er soll mir eine schriftliche Entschuldigung mitbringen."
"Ja, Sensei."
Sie setzte sich wieder.
Und jetzt lüge ich auch noch für den Trottel...
"He, Asuka", flüsterte Kensuke, der hinter ihr saß.
"Was willst du, Doofmann?"
"Waren die beiden heute nacht zusammen und waren zu erschöpft für den Unterricht?"
Kensuke kicherte, stellte sich das ganze in Gedanken vor und wünschte sich, dabei gewesen zu sein.
Asuka wünschte sich nur ein Gewehr...
