Kapitel 15: Brennendes Herz
Die Unterkunft, die man Shinji zugewiesen hatte, war recht großzügig eingerichtet.
Unter einem großen Fenster stand ein Schreibtisch mit einem Stuhl, daneben ein bequem wirkendes Bett. An der Wand stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, daneben ein Regal, in dessen oberstem Fach ein kleiner Fernseher stand.
Diese Unterkunft ist anders als jene in der anderen... Welt...
Er erinnerte sich an den winzigen Raum, den sie damals Kaworu zugewiesen hatten.
Damals, vor... einer Ewigkeit? einem Leben? wenigen Tagen?
Shinji seufzte und trat ans Fenster.
Sogar der Ausblick ist anders... diesem Ort haftet nicht der Eindruck an, eine Festung, ein Fluchtpunkt zu sein... Lagerhallen, Unterkünfte... dort hinten, große Gartenanlagen und Obstplantagen... wieso wächst etwas hier unten?
Wieder gab er ein Seufzen von sich.
Soviele Fragen und keine Antworten...
Er wandte sich ab, ging zur Tür und verließ den Raum, trat auf den Korridor.
Auf beiden Seiten des Ganges waren Türen, doch jene auf der anderen Seite waren ohne Kenn-zeichnung und dafür mit Zahlenschlössern ausgestattet.
Lagerräume... ohne Fenster... schoß es ihm durch den Kopf, ehe er sich nach links zur nächsten Tür wandte und klopfte.
Auf dem Türschild stand: Rei Akagi.
"Herein." kam es monoton von drinnen. "Die Tür ist offen."
Shinji trat ein - und blieb überrascht stehen.
Der zu Reis Quartier gehörende Tisch war in die Mitte des Raumes gerückt worden.
Um den Tisch herum saßen Rei, Asuka und Hikari und spielten Karten - Schwarzer Peter...
Asukas rechtes Augenlid zuckte, als sie von Rei eine Karte zog. Reis Gesicht hingegen war völlig ausdruckslos.
Asuka gab ein abfälliges Brummen von sich.
"Uhm, hi... störe ich?"
"Du störst nicht", sagte Rei, ohne den Kopf zu drehen, ihre Aufmerksamkeit ganz den Karten in ihrer Hand gewidmet. Doch in ihrer Stimme lag ein warmer Unterton, von dem er wußte, daß er allein für ihn reserviert war.
"Hallo, Shinji!"
Hikari nickte ihm zu.
"Willst du mitspielen? Wir müßten gleich fertig sein - wenn Asuka nur nicht immer so lange brauchen würde..."
"Was muß Rei auch so ein Pokergesicht machen?!" schimpfte Asuka. "Ich habe schon wieder den Schwarzen Peter!"
Im nächsten Moment schlug sie sich mit der Hand vor den Mund, während Hikari zu lachen begann.
"Asuka, das ist kein Spiel für dich."
"Ach nein?"
"Nein. Und - du solltest nie um Geld spielen, wenn dir dein Taschengeld lieb ist."
"Wenn du nicht meine beste Freundin wärst..."
Shinji holte sich den Stuhl vom Schreibtisch und setzte sich ebenfalls an den Tisch, bemerkte Reis Seitenblick und das Lächeln, welches kurz über ihr Gesicht huschte.
Worum erinnern nur wir beide uns daran, was geschehen ist? Ich werde sie fragen, wenn wir allein sind...
"Ah, hat man euch schon gesagt, wann die Synchronisationstest beginnen?"
"Wir sollen heute nachmittag um zwei Uhr im Test-Center sein." erklärte Rei.
"Ja..."
"Ich bin ja schon so gespannt, wie ein richtiger EVA sein wird."
Shinji sah Asuka an.
Erinnert sie sich wirklich nicht? Sie ist in EVA-02 gestor...
Er spürte, wie seine Knie zu zittern begannen, obwohl er die Muskeln anspannte.
Sie ist nicht tot. Sie sitzt neben mir... Sie kann nicht gestorben sein...
Dennoch erinnerte er sich ganz deutlich, wie er die zerschmetterten Überreste des EntryPlugs geborgen hatte... wie etwas aus den Resten der Kapsel gerollt war, etwas, das von roten Haaren umgeben gewesen war...
Nein... nein... nein...
"Baka-Shinji, hör auf so zu zappeln!"
"Shinji-kun, was hast du?"
Rei legte die Hand auf seinen Oberarm.
"Nichts", preßte er zwischen den Zähnen hervor.
"Du siehst wirklich nicht gut aus, vielleicht sollten dich die Ärzte hier einmal durchchecken", schlug Hikari vor.
Asuka preßte nur die Lippen zusammen.
"Es geht schon wieder."
Er zwang sich zu einem Lächeln.
"Danke für deine Bedenken, Klassensprecherin."
"Hm, ohne Klasse bin ich wohl kaum Klassensprecherin... Hoffentlich kommen meine Schwestern ohne mich klar, der Kommandant konnte nicht genau sagen, wie lange ich fort sein würde."
"Also, ich finde es toll, daß wir endlich ´mal etwas zusammen unternehmen - und deine Schwe-stern kommen schon klar."
"Danke, Asuka. Es ist nur so, weil meine Mutter oft krank ist, kümmere ich mich um den Haushalt und koche... meine Schwester ältere Nadoko könnte sogar Wasser anbrennen lassen."
´Oh, da kenne ich auch jemanden´, lag es Shinji auf der Zunge, doch zugleich begriff er, daß keine Ahnung hatte, wie es um die Kochkünste der Misato Katsuragi dieser Welt stand.
Misato... hier ist sie Lehrerin... jemand mit ihrem Temperament und Unterrichten...
"Ah, Hikari, die kommen schon klar - wozu gibt es notfalls Bringdienste. Seit meine Eltern sich nur noch streiten, habe ich oft Fertiggerichte bekommen, oder bin in die Nudelküche um die Ecke gegangen."
"Wie ist das, Asuka, wenn die Eltern nur miteinander streiten?"
"Nicht schön..."
Die rothaarige warf einen letzten Blick auf ihre Karten.
"Ich hab´ keine Lust mehr."
"Es tut mir leid, Asuka, ich wollte nicht..."
"Nein, nein, die beiden streiten ja laut genug, daß es die halbe Stadt wissen muß. Mein Vater geht fremd und meine Mutter möchte ihn am liebsten erwürgen."
Hikari sah Asuka mit geweiteten Augen an.
"Und das kannst du hier einfach so sagen?"
"Warum sollte es mir noch peinlich sein? In der Verwandtschaft weiß es inzwischen jeder, die Nachbarn wissen es und die meisten Bekannten ebenfalls. Wahrscheinlich lassen sie sich bald scheiden."
"Und was machst du? Ich meine, zu welchem Elternteil wirst du ziehen?"
"Keine Ahnung."
Shinji spürte, daß ihre scheinbare Abgebrühtheit nur gespielt war. Viel zu oft hatte er bemerkt, daß sie geweint hatte, oder ihr leises Schluchzen gehört, schließlich wohnten Soryus direkt über ihnen und lag Asukas Zimmer genau über dem seinen. Daß das ganze Haus von den Streitigkeiten ihrer Eltern wußte, war ihm ebenfalls bekannt.
"Uhm, vielleicht renkt es sich wieder ein?!" sagte er wider besseres Wissen.
Asuka verzog das Gesicht zu einem verunglückten Lächeln.
"Vielleicht... aber wenn nicht... ich glaube, ich käme auch allein zurecht."
"Wirklich?" fragte Hikari ungläubig.
"Oder vielleicht ziehe ich auch bei Shinji ein... na, Shinji-chan, wie würde dir das gefallen?", flötete Asuka.
"Ah..."
Ihm sackte die Kinnlade nach unten.
"Das wüßte ich aber." murmelte Rei.
"Ah, komm schon, Rei, etwas Spaß muß sein."
"Hm."
"Na, jedenfalls waren meine Eltern ganz froh, mich aus dem Haus zu haben, so müssen sie die nächsten Tage nicht einmal so tun, als würden sie Rücksicht nehmen. Und eigentlich ist es ja auch ganz nett hier."
"Ja." bestätigte Rei.
"Wow, Rei stimmt mir zu... wenn das kein gutes Zeichen ist... los, Hikari, zieh eine Karte!"
"Ich dachte, du..."
"Ha! Komm, eine Karte."
"Na gut..."
Asuka machte ein enttäuschtes Gesicht, während Hikari ein Kartenpäarchen ablegte.
"Verdammt... Okay, lassen wir es."
Sie legte ihre Kartenhand offen vor sich hin.
"Wie du meinst."
Rei sammelte die Karten ein und verstaute sie in der Papphülle.
"Warum sie uns rekrutiert haben, ist mir ja klar... aber weshalb sind Touji und Kensuke auch hier?"
"Vielleicht weil sie ebenfalls fähige Piloten sind?" konterte Shinji.
"Baka-Shinji, quatsch mir nicht ´rein! Ich bin gerade dabei, die Überlegenheit der weiblichen Hälfte der Menschheit zu beweisen!"
Hikari kicherte.
"Und wie willst du das machen?"
"Ach, Baka, das ist doch ganz einfach. Soetwas nennt man Augenscheinsbeweis!"
Asuka stand auf, trat vom Tisch weg. Dann ließ sie die Schultern nach vorn sinken und zog eine Grimasse, indem sie den Unterkiefer vorschob und nuschelte:
"Hallo, ich bin Touji! Ich bin der größte Sportler an der Schule!"
Dabei machte sie Handbewegungen, als dribble sie einen Ball.
"Oh, Asuka! Das ist gemein!" erklärte Hikari, konnte aber nicht aufhören zu kichern.
Als Antwort ging Asuka leicht in die Knie, so daß sie einen wackelnden Gang hatte, riß dazu die Augen auf.
"Und ich bin Kensuke, mein bester Freund ist mein Computer."
"Asuka, hör auf, sie sind meine Freunde!" protestierte Shinji.
"Womit wir beim letzten Beweis wären..." lachte Asuka. "Wir Frauen sind viel besser als ihr. Eigentlich müßtet ihr uns auf Händen tragen, jawohl!"
"Asuka! ... Rei, sag doch auch ´was."
"Hm... auf Händen tragen... daran könnte ich mich gewöhnen."
Rei zwinkerte Shinji zu.
"Wo stecken die beiden anderen Trottel eigentlich?"
"Also, Asuka, Touji nachzuahmen ist eine Sache, aber ihn als Trottel zu bezeichnen..."
Asuka musterte Hikari.
"Sag bloß - du magst ihn doch nicht etwa?"
"Ah... uhm..."
Hikari lief rot an.
"Das ist ja obsön!" rief Asuka und grinste.
Hikari funkelte sie an.
"Wenn eine von euch Touji etwas erzählt, dann... dann bringe ich sie um! - Das gilt auch für dich, Shinji!"
Der Junge zuckte heftig zusammen.
"Ah, ja."
"He, Hikari, das war mein Text! - Aber im Ernst, wo sind die beiden?"
"Uhm, sie wollten sich etwas in der Geofront umsehen... Kensuke wollte zur Werft."
"Typisch, die beiden bringen sich doch nur in Schwierigkeiten! Aida wird in irgendeine Hochsicherheitszone ´reinstolpern und..."
In diesem Moment gellten Alarmsirenen auf.
"Was ist denn jetzt los?" rief Asuka. "Ich habe doch nur Spaß gemacht..."
Shinji sprang auf, lief auf den Korridor, nur um zu sehen, daß sich an beiden Enden dicke Panzerschotten schlossen. Zugleich fuhr eine Metalljalousie vor das Fenster von Reis Quartier.
Er kehrte in den Raum zu den anderen zurück, berichtete, was er gesehen hatte.
Rei stand mittlerweile vor dem Fernseher und hatte eine kleine Schalttafel freigelegt.
"Ich versuche, jemanden zu kontaktieren..."
Der Bildschirm blitzte auf, zeigte das Gesicht eines jungen Mannes mit schulterlangen Haaren. Er sagte etwas, das Shinji nicht hören konnte.
Rei drehte sich um.
"Wir sollen hier bleiben, er sagt, wir wären sicher."
"Hat er gesagt, was los ist?"
"Nein, Asuka. - Nur, daß wir zusammenbleiben sollen."
***
In der Kommandozentrale unterbrach Shigeru Aoba die Verbindung zu den Quartieren der Kinder.
"Vier von ihnen sind in ihren Räumen, die anderen beiden befinden sich bei den Docks."
"Gut, sie sollen dort bleiben."
Thomas blickte über den Grat seiner gefalteten Hände hinweg nach unten.
"Haben wir schon die Ursache des Alarmes?"
"Die MAGI sind noch dabei, das blaue Muster näher zu bestimmen."
"Ein Angeloi-Konstrukt mitten im Hauptquartier..." murmelte Deiko, die schräg hinter Thomas stand.
"Arbeiten die Reserve-Systeme korrekt?"
"Keine Probleme. Die beiden neuen Rechner arbeiten zuverlässig. Aber das Ziel ist zu klein für die POLARIS-Sensoren im Orbit... Moment, Ziel lokalisiert... Arrestbereich!"
"Arresttrakt?"
Thomas hielt den Atem an.
"Midori..."
"Du glaubst doch nicht etwa..."
Er sah sie voller Traurigkeit an. Dann stand er auf.
"Was hast vor?"
"Was ich muß..."
Noch einmal sah er zurück auf die tieferen Ebenen der Zentrale.
"Captain Aoba, die Sicherheit der Piloten hat Vorrang..."
"Verstanden. Kommandant, das Ziel hat den Arresttrakt verlassen!"
"Haben wir keine Bildverbindung?" fragte Deiko.
"Negativ, Übertragung ist gestört. Die Daten deuten auf die Existenz eines schwachen AT-Feldes hin.
"AT-Feld... das war zu erwarten..." flüsterte der Einäugige.
"Nochmal: Was hast du vor?"
"Ich hätte die Gefahr eher erkennen müssen... Deiko, Midori ist von einem Bardiel befallen - ich hätte es bemerken müssen!"
"Das ist nicht sicher, Thomas."
Er schüttelte nur den Kopf.
"Captain, öffnen Sie einen Weg zu meinem Quartier durch die Absperrmaßnahmen. Dann nehmen Sie ein Team und bringen die Kinder nach draußen. Und evakuieren Sie die tieferen Ebenen!"
Damit verließ er die Zentrale.
"Warte, verdammt noch ´mal", zischte Deiko und schloß zu ihm auf. "Du hast doch nicht wirklich vor, was ich denke."
"Hier im Hauptquartier können wir keinen Angeloi bekämpfen, ohne die Zielanlage NIMRODs zu gefährden. Ich werde den Angeloi auf den unteren Ebenen aufhalten, wenn es nicht klappt, dann flutet die Kelleranlagen mit Bakelit."
Sie erreichten die Wohnquartiere des Kommandanten.
"Das ist doch nicht dein Ernst... Was sollen wir denn ohne dich machen?"
"Ihr kommt schon klar."
Er verschwand kurz in seinen Räumen, kehrte mit einer Waffe zurück, einem fast zwei Meter langen Speer mit Spitzen an beiden Enden.
Kurz wirbelte er die Waffe durch die Luft, die Speerspitzen zuckten aus ihren Halterungen, verlängerten sich zu sichelförmigen vibrierenden Klingen.
"Dein Khadja... du hast es lange nicht mehr geführt."
"Es gab keinen Grund."
Sie sah ihm in sein gesundes Auge, fand keine Gnade mehr darin und kaum Menschlichkeit...
"Thomas..."
"Deiko, wenn ich versage... wenn ich scheitere und es dem Bardiel gelingt, auch mich zu übernehmen... dann weißt du, was du zu tun hast..."
"Bleib hier!"
"Ich muß es tun, das bin ich ihr schuldig... ich muß es wenigstens versuchen!"
Und damit eilte er den Korridor hinab zur nächsten Treppe, während sich hinter ihm ein Sicherheitsschott schloß.
"Verdammter Narr..." flüsterte Deiko und wandte sich der nächsten Kommunikationskonsole zu.
"Zentrale, hier ist Kapitän Tamakura. Kommandant Shigen ist unterwegs zu den tieferen Ebenen. In Ermanglung der Anwesenheit höherrangiger Offiziere übernehme ich den Befehl."
"Bestätigt", meldete Shigeru.
"Ich erwarte eine voll ausgerüstete Truppe in fünf Minuten bei meinen Koordinaten."
"Ja. Aoba Ende."
Deiko zog ihre Pistole aus dem Schulterhalfter und überprüfte das Magazin, lud die einzigen beiden Positroenladungen, die für dieses Waffenformat existierten, in die leeren Kammern.
***
Thomas lief die Feuertreppe hinab. Er spürte schon nach dem dritten Treppenabsatz, wie sein Herz beschleunigte und erste Schmerzen in seinem linken Knie einsetzten.
Früher war das nie ein Problem... aber jetzt summieren sich die ganzen alten Verletzungen zu ziemlichen Problemen auf...
Es brannte nur die Notbeleuchtung, dennoch fand er seinen Weg blind.
In Gedanken gingen er die ihm möglichen Strategien für den Kampf gegen einen Bardiel durch den Kopf - und er fragte sich, ob er wirklich in der Lage sein würde, sie anzuwenden...
"Ziel betritt Ebene Neun", wisperte Aobas Stimme aus dem Headset.
"Ich bin gleich da."
Seine eigene keuchende Stimme erschreckte ihn.
"Entsichern Sie die Feuertür."
"Bestätigt. Die Sektion mit den Kindern ist sicher, Evakuierung ist vorbereitet."
"Verstanden."
"Kapitän Tamakura ist mit Verstärkung unterwegs."
"Ja..."
"Wir haben keinen Kontakt zu Ebene Neun mehr."
"Befinden sich noch welche von unseren Leuten dort?"
"Nein, Evakuierung ist vollständig."
***
Auf Ebene Neun herrschte Dunkelheit.
Thomas verharrte an der Tür, hinter ihm rastete die automatische Verriegelung ein.
Allein...
Er entfernte seine Kontaktlinse.
Ein einzelnes rotes Auge glühte in der Dunkelheit auf.
Wo ist sie...?
Das Khadja zum Schlag bereit, ging er den Korridor hinab, ohne ein Geräusch zu machen.
Er war der Kriegsherr...
***
Eines der Panzerschotten wurde geöffnet.
Shigeru Aoba winkte den wartenden Kindern zu.
"Wir bringen euch ins Freie."
"Was ist denn geschehen?" fragte Shinji.
"Probleme auf den tieferen Ebenen."
"Ein Engel? - Äh, ein Angeloi?" verbesserte der Junge sich.
Aoba nickte.
"Ein Eindringling."
"Wir müssen zu den EVAs, dann können wir ihn aufhalten."
"Nein, Junge, mit den Mechas könnt ihr hier nichts ausrichten. Der Kommandant ist selbst unterwegs, um den Angeloi aufzuhalten."
***
Vor ihm glühten zwei Augen in der Finsternis.
Er blieb stehen.
"Midori", flüsterte er.
Ein Blinzeln...
"Tabris..."
Es war ihre Stimme, doch sie klang rauh und haßerfüllt.
"Verräter an der Imperatrix..."
Thomas ging mit dem Khadja in eine Abwehrstellung.
"Midori, du mußt dagegen ankämpfen!"
"Sinnlos. Midori ist irrelevant."
"Was ist dein Auftrag?"
"Die Ankunft der Imperatrix vorzubereiten. Bist du bereit zu sterben, Abtrünniger?"
Ein Leuchten umgab Midori Sekigahamas Gestalt, als der Bardiel sein AT-Feld ausdehnt.
"Ich werde dich aufhalten."
"Versuche es, Tabris."
Licht schoß aus ihren Augen, traf auf sein passives AT-Feld, schleuderte ihn zurück.
Schmerz durchzuckte ihn, als er gegen die Wand flog.
"Midori, kämpfe dagegen, ich weiß, daß du es kannst!"
Er warf sich zur Seite, rollte sich ab, kam auf die Beine, eine der Khadja-Klingen auf sie gerichtet.
Sie sah ihn an. Einen Moment lang flackerte das AT-Feld.
"Ich versuche es... aber es ist so schwer..." flüsterte Midori.
Einen Sekundenbruchteil lang erlosch das Glühen ihrer Augen, kehrte dann umso stärker zurück. Ihre Hände verformten sich zu Krallen, dann stürzte sie sich auf ihn.
Thomas drehte das Khadja im letzten Augenblick, so daß er sie nur aufhielt, statt sie aufzuspießen.
Der Bardiel grinste ihn an.
"Du bist schwach, Tabris. Die Lilims haben dich schwach gemacht."
"Nein... Midori!"
Sie warf ihn erneut gegen die Wand, er schlug hart mit dem Kopf auf, sah Sterne, wich dem nächsten Angriff aus, benutzte seine Waffe, um ihr die Beine unter den Leib wegzuschlagen, hatte die Klinge im nächsten Moment an ihrer Kehle.
"Gib sie frei!"
"Nein."
Ein Zittern durchlief Midoris Körper. Wieder erlosch das Glühen einen Augenblick lang.
"Töte mich..."
"Nein!"
Die Hände des Bardiel zuckten nach oben, packten die Klinge an seiner Kehle, stießen sie fort, obwohl dabei die Hände zerschnitten wurden.
"Du hättest es tun sollen, als du die Gelegenheit hattest."
Wuchtig trat er gegen Thomas´ linkes Knie.
Der Einäugige knickte ein.
Der nächste Tritt traf ihn vor die Brust, brach mehrere Rippen. Er verlor das Khadja.
"Und nun, Tabris? Es gibt keinen Platz, an dem du dich verstecken könntest"
Als der nächste Tritt kam, fing er den Fuß ab und zog.
Ein Schlag des Bardiel traf ihn mitten ins Gesicht, hinterließ ein brennendes Gefühl.
Er hielt ihr Handgelenk fest, als sie mit der anderen Hand nach ihm schlug, packte er auch dieses.
"Letzte Chance, Midori..." flüsterte er. "Kämpfe!"
Mit einem Ruck zog er sie zu sich, preßte seine Lippen auf die ihren.
Die Augen des Bardiel weiteten sich. Das Glühen der Augen wurde schwächer.
Kämpfe... kämpfe dagegen an... ich liebe dich...
Der Körper in seinem Griff wurde schlaff. Dennoch unterbrach er den Kontakt nicht, setzte seine Kräfte weiterhin gegen den Parasiten ein, ließ nur ihre Handgelenke los und hielt sie fest.
Und irgendwann schließlich beendete er den Kuß, der den Bardiel abgetötet hatte, und eine einzelne blutige Träne lief über sein Gesicht, als ihm klar wurde, daß er schlußendlich versagt hatte...
Die Unterkunft, die man Shinji zugewiesen hatte, war recht großzügig eingerichtet.
Unter einem großen Fenster stand ein Schreibtisch mit einem Stuhl, daneben ein bequem wirkendes Bett. An der Wand stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, daneben ein Regal, in dessen oberstem Fach ein kleiner Fernseher stand.
Diese Unterkunft ist anders als jene in der anderen... Welt...
Er erinnerte sich an den winzigen Raum, den sie damals Kaworu zugewiesen hatten.
Damals, vor... einer Ewigkeit? einem Leben? wenigen Tagen?
Shinji seufzte und trat ans Fenster.
Sogar der Ausblick ist anders... diesem Ort haftet nicht der Eindruck an, eine Festung, ein Fluchtpunkt zu sein... Lagerhallen, Unterkünfte... dort hinten, große Gartenanlagen und Obstplantagen... wieso wächst etwas hier unten?
Wieder gab er ein Seufzen von sich.
Soviele Fragen und keine Antworten...
Er wandte sich ab, ging zur Tür und verließ den Raum, trat auf den Korridor.
Auf beiden Seiten des Ganges waren Türen, doch jene auf der anderen Seite waren ohne Kenn-zeichnung und dafür mit Zahlenschlössern ausgestattet.
Lagerräume... ohne Fenster... schoß es ihm durch den Kopf, ehe er sich nach links zur nächsten Tür wandte und klopfte.
Auf dem Türschild stand: Rei Akagi.
"Herein." kam es monoton von drinnen. "Die Tür ist offen."
Shinji trat ein - und blieb überrascht stehen.
Der zu Reis Quartier gehörende Tisch war in die Mitte des Raumes gerückt worden.
Um den Tisch herum saßen Rei, Asuka und Hikari und spielten Karten - Schwarzer Peter...
Asukas rechtes Augenlid zuckte, als sie von Rei eine Karte zog. Reis Gesicht hingegen war völlig ausdruckslos.
Asuka gab ein abfälliges Brummen von sich.
"Uhm, hi... störe ich?"
"Du störst nicht", sagte Rei, ohne den Kopf zu drehen, ihre Aufmerksamkeit ganz den Karten in ihrer Hand gewidmet. Doch in ihrer Stimme lag ein warmer Unterton, von dem er wußte, daß er allein für ihn reserviert war.
"Hallo, Shinji!"
Hikari nickte ihm zu.
"Willst du mitspielen? Wir müßten gleich fertig sein - wenn Asuka nur nicht immer so lange brauchen würde..."
"Was muß Rei auch so ein Pokergesicht machen?!" schimpfte Asuka. "Ich habe schon wieder den Schwarzen Peter!"
Im nächsten Moment schlug sie sich mit der Hand vor den Mund, während Hikari zu lachen begann.
"Asuka, das ist kein Spiel für dich."
"Ach nein?"
"Nein. Und - du solltest nie um Geld spielen, wenn dir dein Taschengeld lieb ist."
"Wenn du nicht meine beste Freundin wärst..."
Shinji holte sich den Stuhl vom Schreibtisch und setzte sich ebenfalls an den Tisch, bemerkte Reis Seitenblick und das Lächeln, welches kurz über ihr Gesicht huschte.
Worum erinnern nur wir beide uns daran, was geschehen ist? Ich werde sie fragen, wenn wir allein sind...
"Ah, hat man euch schon gesagt, wann die Synchronisationstest beginnen?"
"Wir sollen heute nachmittag um zwei Uhr im Test-Center sein." erklärte Rei.
"Ja..."
"Ich bin ja schon so gespannt, wie ein richtiger EVA sein wird."
Shinji sah Asuka an.
Erinnert sie sich wirklich nicht? Sie ist in EVA-02 gestor...
Er spürte, wie seine Knie zu zittern begannen, obwohl er die Muskeln anspannte.
Sie ist nicht tot. Sie sitzt neben mir... Sie kann nicht gestorben sein...
Dennoch erinnerte er sich ganz deutlich, wie er die zerschmetterten Überreste des EntryPlugs geborgen hatte... wie etwas aus den Resten der Kapsel gerollt war, etwas, das von roten Haaren umgeben gewesen war...
Nein... nein... nein...
"Baka-Shinji, hör auf so zu zappeln!"
"Shinji-kun, was hast du?"
Rei legte die Hand auf seinen Oberarm.
"Nichts", preßte er zwischen den Zähnen hervor.
"Du siehst wirklich nicht gut aus, vielleicht sollten dich die Ärzte hier einmal durchchecken", schlug Hikari vor.
Asuka preßte nur die Lippen zusammen.
"Es geht schon wieder."
Er zwang sich zu einem Lächeln.
"Danke für deine Bedenken, Klassensprecherin."
"Hm, ohne Klasse bin ich wohl kaum Klassensprecherin... Hoffentlich kommen meine Schwestern ohne mich klar, der Kommandant konnte nicht genau sagen, wie lange ich fort sein würde."
"Also, ich finde es toll, daß wir endlich ´mal etwas zusammen unternehmen - und deine Schwe-stern kommen schon klar."
"Danke, Asuka. Es ist nur so, weil meine Mutter oft krank ist, kümmere ich mich um den Haushalt und koche... meine Schwester ältere Nadoko könnte sogar Wasser anbrennen lassen."
´Oh, da kenne ich auch jemanden´, lag es Shinji auf der Zunge, doch zugleich begriff er, daß keine Ahnung hatte, wie es um die Kochkünste der Misato Katsuragi dieser Welt stand.
Misato... hier ist sie Lehrerin... jemand mit ihrem Temperament und Unterrichten...
"Ah, Hikari, die kommen schon klar - wozu gibt es notfalls Bringdienste. Seit meine Eltern sich nur noch streiten, habe ich oft Fertiggerichte bekommen, oder bin in die Nudelküche um die Ecke gegangen."
"Wie ist das, Asuka, wenn die Eltern nur miteinander streiten?"
"Nicht schön..."
Die rothaarige warf einen letzten Blick auf ihre Karten.
"Ich hab´ keine Lust mehr."
"Es tut mir leid, Asuka, ich wollte nicht..."
"Nein, nein, die beiden streiten ja laut genug, daß es die halbe Stadt wissen muß. Mein Vater geht fremd und meine Mutter möchte ihn am liebsten erwürgen."
Hikari sah Asuka mit geweiteten Augen an.
"Und das kannst du hier einfach so sagen?"
"Warum sollte es mir noch peinlich sein? In der Verwandtschaft weiß es inzwischen jeder, die Nachbarn wissen es und die meisten Bekannten ebenfalls. Wahrscheinlich lassen sie sich bald scheiden."
"Und was machst du? Ich meine, zu welchem Elternteil wirst du ziehen?"
"Keine Ahnung."
Shinji spürte, daß ihre scheinbare Abgebrühtheit nur gespielt war. Viel zu oft hatte er bemerkt, daß sie geweint hatte, oder ihr leises Schluchzen gehört, schließlich wohnten Soryus direkt über ihnen und lag Asukas Zimmer genau über dem seinen. Daß das ganze Haus von den Streitigkeiten ihrer Eltern wußte, war ihm ebenfalls bekannt.
"Uhm, vielleicht renkt es sich wieder ein?!" sagte er wider besseres Wissen.
Asuka verzog das Gesicht zu einem verunglückten Lächeln.
"Vielleicht... aber wenn nicht... ich glaube, ich käme auch allein zurecht."
"Wirklich?" fragte Hikari ungläubig.
"Oder vielleicht ziehe ich auch bei Shinji ein... na, Shinji-chan, wie würde dir das gefallen?", flötete Asuka.
"Ah..."
Ihm sackte die Kinnlade nach unten.
"Das wüßte ich aber." murmelte Rei.
"Ah, komm schon, Rei, etwas Spaß muß sein."
"Hm."
"Na, jedenfalls waren meine Eltern ganz froh, mich aus dem Haus zu haben, so müssen sie die nächsten Tage nicht einmal so tun, als würden sie Rücksicht nehmen. Und eigentlich ist es ja auch ganz nett hier."
"Ja." bestätigte Rei.
"Wow, Rei stimmt mir zu... wenn das kein gutes Zeichen ist... los, Hikari, zieh eine Karte!"
"Ich dachte, du..."
"Ha! Komm, eine Karte."
"Na gut..."
Asuka machte ein enttäuschtes Gesicht, während Hikari ein Kartenpäarchen ablegte.
"Verdammt... Okay, lassen wir es."
Sie legte ihre Kartenhand offen vor sich hin.
"Wie du meinst."
Rei sammelte die Karten ein und verstaute sie in der Papphülle.
"Warum sie uns rekrutiert haben, ist mir ja klar... aber weshalb sind Touji und Kensuke auch hier?"
"Vielleicht weil sie ebenfalls fähige Piloten sind?" konterte Shinji.
"Baka-Shinji, quatsch mir nicht ´rein! Ich bin gerade dabei, die Überlegenheit der weiblichen Hälfte der Menschheit zu beweisen!"
Hikari kicherte.
"Und wie willst du das machen?"
"Ach, Baka, das ist doch ganz einfach. Soetwas nennt man Augenscheinsbeweis!"
Asuka stand auf, trat vom Tisch weg. Dann ließ sie die Schultern nach vorn sinken und zog eine Grimasse, indem sie den Unterkiefer vorschob und nuschelte:
"Hallo, ich bin Touji! Ich bin der größte Sportler an der Schule!"
Dabei machte sie Handbewegungen, als dribble sie einen Ball.
"Oh, Asuka! Das ist gemein!" erklärte Hikari, konnte aber nicht aufhören zu kichern.
Als Antwort ging Asuka leicht in die Knie, so daß sie einen wackelnden Gang hatte, riß dazu die Augen auf.
"Und ich bin Kensuke, mein bester Freund ist mein Computer."
"Asuka, hör auf, sie sind meine Freunde!" protestierte Shinji.
"Womit wir beim letzten Beweis wären..." lachte Asuka. "Wir Frauen sind viel besser als ihr. Eigentlich müßtet ihr uns auf Händen tragen, jawohl!"
"Asuka! ... Rei, sag doch auch ´was."
"Hm... auf Händen tragen... daran könnte ich mich gewöhnen."
Rei zwinkerte Shinji zu.
"Wo stecken die beiden anderen Trottel eigentlich?"
"Also, Asuka, Touji nachzuahmen ist eine Sache, aber ihn als Trottel zu bezeichnen..."
Asuka musterte Hikari.
"Sag bloß - du magst ihn doch nicht etwa?"
"Ah... uhm..."
Hikari lief rot an.
"Das ist ja obsön!" rief Asuka und grinste.
Hikari funkelte sie an.
"Wenn eine von euch Touji etwas erzählt, dann... dann bringe ich sie um! - Das gilt auch für dich, Shinji!"
Der Junge zuckte heftig zusammen.
"Ah, ja."
"He, Hikari, das war mein Text! - Aber im Ernst, wo sind die beiden?"
"Uhm, sie wollten sich etwas in der Geofront umsehen... Kensuke wollte zur Werft."
"Typisch, die beiden bringen sich doch nur in Schwierigkeiten! Aida wird in irgendeine Hochsicherheitszone ´reinstolpern und..."
In diesem Moment gellten Alarmsirenen auf.
"Was ist denn jetzt los?" rief Asuka. "Ich habe doch nur Spaß gemacht..."
Shinji sprang auf, lief auf den Korridor, nur um zu sehen, daß sich an beiden Enden dicke Panzerschotten schlossen. Zugleich fuhr eine Metalljalousie vor das Fenster von Reis Quartier.
Er kehrte in den Raum zu den anderen zurück, berichtete, was er gesehen hatte.
Rei stand mittlerweile vor dem Fernseher und hatte eine kleine Schalttafel freigelegt.
"Ich versuche, jemanden zu kontaktieren..."
Der Bildschirm blitzte auf, zeigte das Gesicht eines jungen Mannes mit schulterlangen Haaren. Er sagte etwas, das Shinji nicht hören konnte.
Rei drehte sich um.
"Wir sollen hier bleiben, er sagt, wir wären sicher."
"Hat er gesagt, was los ist?"
"Nein, Asuka. - Nur, daß wir zusammenbleiben sollen."
***
In der Kommandozentrale unterbrach Shigeru Aoba die Verbindung zu den Quartieren der Kinder.
"Vier von ihnen sind in ihren Räumen, die anderen beiden befinden sich bei den Docks."
"Gut, sie sollen dort bleiben."
Thomas blickte über den Grat seiner gefalteten Hände hinweg nach unten.
"Haben wir schon die Ursache des Alarmes?"
"Die MAGI sind noch dabei, das blaue Muster näher zu bestimmen."
"Ein Angeloi-Konstrukt mitten im Hauptquartier..." murmelte Deiko, die schräg hinter Thomas stand.
"Arbeiten die Reserve-Systeme korrekt?"
"Keine Probleme. Die beiden neuen Rechner arbeiten zuverlässig. Aber das Ziel ist zu klein für die POLARIS-Sensoren im Orbit... Moment, Ziel lokalisiert... Arrestbereich!"
"Arresttrakt?"
Thomas hielt den Atem an.
"Midori..."
"Du glaubst doch nicht etwa..."
Er sah sie voller Traurigkeit an. Dann stand er auf.
"Was hast vor?"
"Was ich muß..."
Noch einmal sah er zurück auf die tieferen Ebenen der Zentrale.
"Captain Aoba, die Sicherheit der Piloten hat Vorrang..."
"Verstanden. Kommandant, das Ziel hat den Arresttrakt verlassen!"
"Haben wir keine Bildverbindung?" fragte Deiko.
"Negativ, Übertragung ist gestört. Die Daten deuten auf die Existenz eines schwachen AT-Feldes hin.
"AT-Feld... das war zu erwarten..." flüsterte der Einäugige.
"Nochmal: Was hast du vor?"
"Ich hätte die Gefahr eher erkennen müssen... Deiko, Midori ist von einem Bardiel befallen - ich hätte es bemerken müssen!"
"Das ist nicht sicher, Thomas."
Er schüttelte nur den Kopf.
"Captain, öffnen Sie einen Weg zu meinem Quartier durch die Absperrmaßnahmen. Dann nehmen Sie ein Team und bringen die Kinder nach draußen. Und evakuieren Sie die tieferen Ebenen!"
Damit verließ er die Zentrale.
"Warte, verdammt noch ´mal", zischte Deiko und schloß zu ihm auf. "Du hast doch nicht wirklich vor, was ich denke."
"Hier im Hauptquartier können wir keinen Angeloi bekämpfen, ohne die Zielanlage NIMRODs zu gefährden. Ich werde den Angeloi auf den unteren Ebenen aufhalten, wenn es nicht klappt, dann flutet die Kelleranlagen mit Bakelit."
Sie erreichten die Wohnquartiere des Kommandanten.
"Das ist doch nicht dein Ernst... Was sollen wir denn ohne dich machen?"
"Ihr kommt schon klar."
Er verschwand kurz in seinen Räumen, kehrte mit einer Waffe zurück, einem fast zwei Meter langen Speer mit Spitzen an beiden Enden.
Kurz wirbelte er die Waffe durch die Luft, die Speerspitzen zuckten aus ihren Halterungen, verlängerten sich zu sichelförmigen vibrierenden Klingen.
"Dein Khadja... du hast es lange nicht mehr geführt."
"Es gab keinen Grund."
Sie sah ihm in sein gesundes Auge, fand keine Gnade mehr darin und kaum Menschlichkeit...
"Thomas..."
"Deiko, wenn ich versage... wenn ich scheitere und es dem Bardiel gelingt, auch mich zu übernehmen... dann weißt du, was du zu tun hast..."
"Bleib hier!"
"Ich muß es tun, das bin ich ihr schuldig... ich muß es wenigstens versuchen!"
Und damit eilte er den Korridor hinab zur nächsten Treppe, während sich hinter ihm ein Sicherheitsschott schloß.
"Verdammter Narr..." flüsterte Deiko und wandte sich der nächsten Kommunikationskonsole zu.
"Zentrale, hier ist Kapitän Tamakura. Kommandant Shigen ist unterwegs zu den tieferen Ebenen. In Ermanglung der Anwesenheit höherrangiger Offiziere übernehme ich den Befehl."
"Bestätigt", meldete Shigeru.
"Ich erwarte eine voll ausgerüstete Truppe in fünf Minuten bei meinen Koordinaten."
"Ja. Aoba Ende."
Deiko zog ihre Pistole aus dem Schulterhalfter und überprüfte das Magazin, lud die einzigen beiden Positroenladungen, die für dieses Waffenformat existierten, in die leeren Kammern.
***
Thomas lief die Feuertreppe hinab. Er spürte schon nach dem dritten Treppenabsatz, wie sein Herz beschleunigte und erste Schmerzen in seinem linken Knie einsetzten.
Früher war das nie ein Problem... aber jetzt summieren sich die ganzen alten Verletzungen zu ziemlichen Problemen auf...
Es brannte nur die Notbeleuchtung, dennoch fand er seinen Weg blind.
In Gedanken gingen er die ihm möglichen Strategien für den Kampf gegen einen Bardiel durch den Kopf - und er fragte sich, ob er wirklich in der Lage sein würde, sie anzuwenden...
"Ziel betritt Ebene Neun", wisperte Aobas Stimme aus dem Headset.
"Ich bin gleich da."
Seine eigene keuchende Stimme erschreckte ihn.
"Entsichern Sie die Feuertür."
"Bestätigt. Die Sektion mit den Kindern ist sicher, Evakuierung ist vorbereitet."
"Verstanden."
"Kapitän Tamakura ist mit Verstärkung unterwegs."
"Ja..."
"Wir haben keinen Kontakt zu Ebene Neun mehr."
"Befinden sich noch welche von unseren Leuten dort?"
"Nein, Evakuierung ist vollständig."
***
Auf Ebene Neun herrschte Dunkelheit.
Thomas verharrte an der Tür, hinter ihm rastete die automatische Verriegelung ein.
Allein...
Er entfernte seine Kontaktlinse.
Ein einzelnes rotes Auge glühte in der Dunkelheit auf.
Wo ist sie...?
Das Khadja zum Schlag bereit, ging er den Korridor hinab, ohne ein Geräusch zu machen.
Er war der Kriegsherr...
***
Eines der Panzerschotten wurde geöffnet.
Shigeru Aoba winkte den wartenden Kindern zu.
"Wir bringen euch ins Freie."
"Was ist denn geschehen?" fragte Shinji.
"Probleme auf den tieferen Ebenen."
"Ein Engel? - Äh, ein Angeloi?" verbesserte der Junge sich.
Aoba nickte.
"Ein Eindringling."
"Wir müssen zu den EVAs, dann können wir ihn aufhalten."
"Nein, Junge, mit den Mechas könnt ihr hier nichts ausrichten. Der Kommandant ist selbst unterwegs, um den Angeloi aufzuhalten."
***
Vor ihm glühten zwei Augen in der Finsternis.
Er blieb stehen.
"Midori", flüsterte er.
Ein Blinzeln...
"Tabris..."
Es war ihre Stimme, doch sie klang rauh und haßerfüllt.
"Verräter an der Imperatrix..."
Thomas ging mit dem Khadja in eine Abwehrstellung.
"Midori, du mußt dagegen ankämpfen!"
"Sinnlos. Midori ist irrelevant."
"Was ist dein Auftrag?"
"Die Ankunft der Imperatrix vorzubereiten. Bist du bereit zu sterben, Abtrünniger?"
Ein Leuchten umgab Midori Sekigahamas Gestalt, als der Bardiel sein AT-Feld ausdehnt.
"Ich werde dich aufhalten."
"Versuche es, Tabris."
Licht schoß aus ihren Augen, traf auf sein passives AT-Feld, schleuderte ihn zurück.
Schmerz durchzuckte ihn, als er gegen die Wand flog.
"Midori, kämpfe dagegen, ich weiß, daß du es kannst!"
Er warf sich zur Seite, rollte sich ab, kam auf die Beine, eine der Khadja-Klingen auf sie gerichtet.
Sie sah ihn an. Einen Moment lang flackerte das AT-Feld.
"Ich versuche es... aber es ist so schwer..." flüsterte Midori.
Einen Sekundenbruchteil lang erlosch das Glühen ihrer Augen, kehrte dann umso stärker zurück. Ihre Hände verformten sich zu Krallen, dann stürzte sie sich auf ihn.
Thomas drehte das Khadja im letzten Augenblick, so daß er sie nur aufhielt, statt sie aufzuspießen.
Der Bardiel grinste ihn an.
"Du bist schwach, Tabris. Die Lilims haben dich schwach gemacht."
"Nein... Midori!"
Sie warf ihn erneut gegen die Wand, er schlug hart mit dem Kopf auf, sah Sterne, wich dem nächsten Angriff aus, benutzte seine Waffe, um ihr die Beine unter den Leib wegzuschlagen, hatte die Klinge im nächsten Moment an ihrer Kehle.
"Gib sie frei!"
"Nein."
Ein Zittern durchlief Midoris Körper. Wieder erlosch das Glühen einen Augenblick lang.
"Töte mich..."
"Nein!"
Die Hände des Bardiel zuckten nach oben, packten die Klinge an seiner Kehle, stießen sie fort, obwohl dabei die Hände zerschnitten wurden.
"Du hättest es tun sollen, als du die Gelegenheit hattest."
Wuchtig trat er gegen Thomas´ linkes Knie.
Der Einäugige knickte ein.
Der nächste Tritt traf ihn vor die Brust, brach mehrere Rippen. Er verlor das Khadja.
"Und nun, Tabris? Es gibt keinen Platz, an dem du dich verstecken könntest"
Als der nächste Tritt kam, fing er den Fuß ab und zog.
Ein Schlag des Bardiel traf ihn mitten ins Gesicht, hinterließ ein brennendes Gefühl.
Er hielt ihr Handgelenk fest, als sie mit der anderen Hand nach ihm schlug, packte er auch dieses.
"Letzte Chance, Midori..." flüsterte er. "Kämpfe!"
Mit einem Ruck zog er sie zu sich, preßte seine Lippen auf die ihren.
Die Augen des Bardiel weiteten sich. Das Glühen der Augen wurde schwächer.
Kämpfe... kämpfe dagegen an... ich liebe dich...
Der Körper in seinem Griff wurde schlaff. Dennoch unterbrach er den Kontakt nicht, setzte seine Kräfte weiterhin gegen den Parasiten ein, ließ nur ihre Handgelenke los und hielt sie fest.
Und irgendwann schließlich beendete er den Kuß, der den Bardiel abgetötet hatte, und eine einzelne blutige Träne lief über sein Gesicht, als ihm klar wurde, daß er schlußendlich versagt hatte...
