Phase 4 - Invasion



Kapitel 20: Birth of NERV


Seit zwei Tagen war der UN-Konvoi unterwegs.

Neben dem massigen Schiffskörper der PROMETHEUS mit den vier angedockten Frachtmodulen wirkten die beiden Flugzeugträger schmächtig, die Kreuzer und Schlachtschiffe wie Zwerge. In regelmäßigen Abständen starteten und landeten Flugzeuge von den Trägern. Zuweilen konnte man vom Deck der PROMETHEUS die schlanken Metallkörper der U-Boote im klaren Wasser sehen, die zum Konvoi gehörten.

Die Flotte verfügte über genug Feuerkraft, um einen Krieg zu beginnen - oder ihn zu gewinnen...


***


"Wir erreichen australische Hoheitsgewässer, Sir."

"Danke." bestätigte Kapitän Tamakura.

"Kontakt mit dem australischen Teil des Konvois."

"Auf den Schirm. - Admiral Gattaker, ich bin Kapitän Tamakura."

"Kapitän. Wir sollen Sie den Rest des Weges begleiten."

"Tja, dann willkommen. Wir übermitteln Ihnen die Daten für den Konvoi."

"Bestätigt. Ich melde mich wieder. Ende."

"PROMETHEUS Ende. - Funker, geben Sie mir Admiral Tsujimoko."

"Verbindung wird hergestellt."

"Ah, Kapitän Tamakura, sicher wollen Sie mich darüber informieren, daß die Zeit des Abschiedes gekommen ist."

"Nun, Admiral, alle guten Dinge müssen einmal enden."

"Ja, wie wahr. Besuchen Sie mich doch auf dem Flaggschiff, wenn Sie wieder in Japan sind."

"Gern, Admiral."

"Wir überlassen dann den Australiern das Feld. Gute Reise."

"Vielen Dank. Gute Heimreise."

"Danke. Flaggschiff Ende."

"Bestätigt. PROMETHEUS Ende."


***


Rei stand auf dem Deck der PROMETHEUS und beobachtete, wie die japanischen Schiffe aus dem Konvoi ausscherten.

"Sie kehren heim..."

Rei drehte sich um, sah Thomas Shigen hinter sich stehen.
"Kommandant."

Er musterte sie.
"Wer bist du?"

Sie blinzelte.
"Rei Akagi... aber das wissen Sie doch."

"Warum bist du hier?"

"Ich... um einen EVANGELION im Kampf gegen die Angeloi zu steuern."

"Nur deshalb?"

Sie blinzelte erneut. Seine Worte hatten einen harten Klang, der ein Klingeln in ihren Ohren hervorrief. Dann wurde ihr klar, daß er eine Sprache benutzte, bei der es sich weder um Japa-nisch, noch um Englisch, oder eine andere Sprache handelte, mit der sie jemals in Kontakt ge-kommen war - und daß sie intuitiv in derselben Sprache geantwortet hatte.
"Wie... wieso verstehe ich, was Sie sagen?"

Er schloß sein verbliebenes Auge, lächelte traurig.
"Bewahre dir deine Menschlichkeit... vergiß das nie, sonst verlierst du ihn..."
Damit wandte er sich ab und kehrte in den stählernen Schiffsrumpf zurück.

Menschlichkeit... echote es in ihr nach.


***


Australien blieb hinter dem Konvoi zurück. Mittlerweile hatte sich die Zahl der Begleitschiffe fast verdoppelt. Weiter ging die Reise nach Süden.

Wie so oft in den letzten Tagen standen Shinji und Rei an der Reling am Schiffsbug und sahen stumm in die Ferne. Sie brauchten keine Worte, um sich zu verständigen.

"Hach, die erste Liebe..." seufzte Misato. Sie und Reis Mutter, Ritsuko Akagi, saßen auf Plastikstühlen im Heckbereich des Decks, bewehrt mit Sonnenbrille und -hüten.
"Aber warum willst du die beiden immer im Auge behalten?"

"Misato, ich bin Reis Mutter, ich habe doch wohl ein Recht darauf, besorgt zu sein."

"Ja, schon, aber man kann es auch übertreiben. Was sollen die beiden schon anstellen?"

"Und das fragst du?"

"Äh..."

"Sicher ist sicher."

"Und wenn du sie dazu bringst zu rebellieren? Als Pädagogin kann ich nur davon abraten, die beiden unter ständige Überwachung zu stellen, das heißt, das Schicksal herauszufordern. Ich wüßte jedenfalls, daß ich mich unter diesen Bedingungen der Aufsicht zu entziehen versuchen würde."

"Aber wir sind auf einem Schiff, wo sollten sie schon hin?"

"Oh, es gibt hier genug dunkle Winkel..."

"Was? Du hast doch nicht etwa..."

Misato grinste nur.

"...mit diesem Kaji?"

"..."

Ritsuko konnte nur den Kopf schütteln.

Am Bug brach Rei das Schweigen.
"Shinji, ich würde gern etwas ausprobieren..."

"Uhm, was, Rei-chan?"

"Hör nur zu."
Sie schluckte, bemühte sich zu erinnern.
"Ich bin hier, um einen EVANGELION im Kampf gegen die Angeloi zu steuern."

Er machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
"Rei, was war das?"

"Soll ich noch einmal...?"

"Nein, bitte. Was hast du gesagt? Und welche Sprache war das?"

"Ich weiß nicht. Du hast mich nicht verstanden?"

"Nein... nur EVANGELION... die Worte haben in den Ohren geschmerzt..."

"Das wollte ich nicht. Der Kommandant hat vor kurzem in dieser Sprache mit mir gesprochen... und ich konnte ihn verstehen, obwohl ich noch nie zuvor eine solche Sprache auch nur gehört hatte."

"Das ist seltsam... Was hat er gesagt?"

"Ich soll mir meine Menschlichkeit bewahren."

"Deine... Menschlichkeit?"

"Ja."

"Rei, ich glaube, ich kenne niemanden, der härter um seine Menschlichkeit gekämpft hat, als dich..."

"Weil ich zur Hälfte ein Engel bin... nein, war?"

"Ja. Obwohl du zum Teil eines der Wesen warst, die uns vernichten wollten, hast du an unserer Seite gekämpft... und gelitten... du bist sogar..."
Er schluckte hart.

"... gestorben." vervollständigte Rei den Satz.

"Uhm... ja..."

"Um dich zu beschützen."

"Bitte, Rei-chan, sag das nicht..."

"Menschlichkeit... ja, ich glaube, ich bin ein Mensch."

"Was sonst solltest du sein?"

"Ich... ich weiß nicht... als ich den Kommandanten das erste Mal sah, hatte ich ein Gefühl von Vertrautheit, als ob ich ihn kennen müßte..."

"Eine Erinnerung?"

"Nein. Eher ein Gefühl von... wie nennt man es, wenn man glaubt, eine Situation schon einmal erlebt zu haben?"

"Uhm... Ich glaube du meinst Deva Vu..."

"Ja. So ein Gefühl war es... als ob ich hätte wissen müssen, wer er ist..."

"Hm... ich wünschte...Aber warum sollst du deine Menschlichkeit...?"

"Vielleicht hängt es mit den EVAs zusammen..."

"Ich weiß es nicht... Shinji, dürfte ich dich um noch etwas bitten?"

"Was? Uhm, ich meine, alles - solange du nicht wieder diese seltsame Sprache benutzt."

"Nein. Du weißt, ich würde dich nie absichtlich..."

"Ich weiß, Rei-chan."

"Dann... würdest du mich küssen?"

"Uh..."
Er sah über die Schulter, warf ihrer Mutter einen hoffentlich unauffälligen Blick zu.
"Hier?"

"Ja."

"Uh... jetzt?"

"Ja... aber wenn du nicht möchtest..."

"Ich... uh... doch... ah... natürlich..."
Er schluckte wieder, sah sie an, fixierte ihre Lippen, von denen ein leiser Sirenenruf auszugehen schien.

Rei schloß die Augen, beugte sich ihm entgegen.

Shinji atmete tief ein.
Jetzt oder nie...

Am anderen Ende des Decks riß Ritsuko Akagi die Augen auf.
"Argh! Was tut er mit meiner Tochter!"

"Ritsuko, bleib hier. Die beiden sind doch niedlich. Irgendwie erinnern sie mich an diesen Film aus dem letzten Jahrhundert... aber da ist das Schiff am Ende untergegangen..."

"Aber das ist meine Rei!"

"Und?"

"Sie küssen sich, Misato, bist du denn blind?"

"Doch ich sehe es."

"Obwohl wir hier sind."

"Tja, erinnere dich an meine Worte - zuviel mütterliche Sorge provoziert Rebellion."

"Ja, aber was soll ich denn machen?"

"Solange sie nur Händchenhalten und hier ein Küßchen, da ein Kuß... du hast doch vorhin selbst gesagt, daß du Vertrauen zu deiner Tochter hast."

"Ja, aber in letzter Zeit verhält sie sich manchmal seltsam... als ob sie vor mir Angst hätte... und dann habe ich das Gefühl, als wäre das nicht mehr meine Rei..."

"Deine Kleine ist in der Pubertät, da verhalten Kinder sich seltsam. Solange sie nicht die Absicht äußert, mit Shinji in die Kiste zu hüpfen, mit dem Rauchen, Saufen oder schlimmeren anfängt, sich die Nächte um die Ohren schlägt oder generell Chaos anstellt, bist du noch vollkommen im Grünen Bereich."

"Du sprichst aus Erfahrung, was?"

"Naja, meine Mutter hatte nach Vaters Tod wohl ziemlichen Streß mit mir... kein Wunder, daß wir nicht mehr miteinander reden."

"Hm..."


***


Am Abend saß Rei wieder auf dem Deck, doch diesesmal spielte sie auf ihrer Viola.
Die Melodie, die sie den Saiten entlockte, war schön und traurig zugleich.

Ritsuko stand in eine dicke Jacke gehüllt im Schatten eines Deckaufbaus.
"Sie spielt wunderschön, nicht wahr?" flüsterte sie in Richtung des dritten Menschen an Deck, von dem nur ein Schatten zu sehen war.

"Ja... es bricht mir das Herz", antwortete Thomas leise. "Du hast es ihr nicht gesagt, oder?"

"Nein. Sie hat genug um die Ohren... aber ich denke, ich kann sie dir anvertrauen."

"Warum?"

"Deine Leute sprechen nur in den höchsten Tönen von dir. So ein Ruf kann nicht ganz aus der Luft gegriffen sein."

"Ich weiß nicht... Vielleicht ist mein Ruf schon größer als ich selbst."

"Was wird sein, wenn diese Sache erledigt ist?"

"Was glaubst du?"

"Ich werde es ihr dann sagen - wer ihr Vater ist."

"Gut."

"Wirst du dann..."

"...ihr der Vater sein, nach dem sie sich sehnt?"

"Ja."

"Wenn ich es kann..."
Für einen Moment glühte in der Dunkelheit ein rotes Auge auf und stand zugleich der Haupt computer des Schiffes kurz davor, Alarm zu schlagen...


***


Das Ziel der Reise rückte näher.

Die Kinder verbrachten die Zeit mit Synchrontests mit den EVAs, wobei EVA-00 und -03 abwechselnd von Rei, Hikari, Touji und Kensuke benutzt wurden, während niemand außer Shinji etwas mit Einheit-01 zu tun haben wollte, ohne einen Grund dafür nennen zu können, und Asuka sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, daß jemand anders EVA-02 benutzte, und Unterricht bei Misato Katsuragi. Natürlich hatten sie auch Freizeit, doch entdeckten sie schnell, daß an Bord des Schiffes ihre Möglichkeiten arg eingeschränkt waren, die ihnen zugänglichen Bereiche der PROMETHEUS waren rasch erforscht, die Aussicht in der Regel die gleiche.

Einmal nahm Colonel Ikari die sechs mit dem Hubschrauber zu einem Rundflug mit, ein anderes Mal brachte das Andocken eines Versorgungsschiffes kurzfristige Abwechslung in die Monotonie.
Zugleich kamen die Kinder zu dem Schluß, daß es kälter wurde, ein wichtiges Indiz hierfür war auch die Tatsache, daß aus dem Magazin pelzbesetzte Winterjacken an sie ausgegeben wurden.

Irgendwann sahen sie die ersten Eisberge in der Ferne.

Und es kam der Tag, nach einer Woche auf See, an dem NERV-Kommandant Thomas Shigen die sechs und ihre beiden erwachsenen Betreuer aufforderte, in den Besprechungsraum zu kommen.

Der erste Gedanke, den die meisten von ihnen hatten, galt einem möglichen Angeloi-Angriff.


***


Der Kommandant deutete auf die freien Plätze.
"Setzt euch."

"Ist es ein Angriff? Wurde ein Angeloi geortet? Vielleicht noch ein Fisch?" fragte Kensuke. Die Worte schossen mit der Geschwindigkeit und der Präzision eines Maschinengewehres aus seinem Mund.

"Nein. Wir erreichen heute abend das nächste Etappenziel, einen UN-Versorgungshafen auf dem Ross-Eisschelf."
Thomas deutete auf die holographische Projektion in der Tischmitte, welche den antarktischen Kontinent zeigte.
"Von dort aus geht es nach kurzem Aufenthalt weiter zum Festungsstützpunkt Antarktica am Südpol. Angesicht dessen, daß ich versprochen hatte, mehr über die Hintergründe des Unternehmens darzulegen, denke ich, daß jetzt der passende Zeitpunkt gekommen ist..."


***


"Es begann vor über vierzehn Jahren, damals kam es zu drei Ereignissen, welche dafür verantwortlich sind, daß wir uns heute hier aufhalten.

Im Februar des Jahres 2000 registrierten verschiedene Beobachtungssatelliten ein seltsames Phänomen am Südpol. Die Bilder, welche sie übertrugen, zeigten in einem Gebiet mit einem Durchmesser von etwa zwei Meilen überhaupt nichts außer Schwärze, als hätte jemand etwas auf die Objektive der Aufzeichnungsgeräte geklebt. Zugleich wurde ein Strahlungsanstieg festgestellt, der sich ebenfalls einer näheren Analyse entzog.
Als Folge entsandte der Krisenstab der UN ein Forscherteam in das Herz des eisigen Kontinents - da aufgrund verschiedener Verträge die Antarktis niemandem gehört, war die UN dafür zuständig. Dieses Team wurde von Professor Katsuragi, Fräulein Katsuragis Vater geleitet. Es wurde von mehreren UN-Soldaten unter dem Befehl des damaligen Captain Gendo Ikari begleitet - richtig, Shinji, dein Vater. Ebenfalls mit der Partie waren Kapitän Tamakura und meine Wenigkeit als Beobachter. Wir erreichten die südliche Polregion ohne Probleme, konnten auch in das betroffene Gebiet vordringen. Nun, wir kamen beinahe zu spät... Am Südpol hatte sich ein Matriel materialisiert - keine Fragen jetzt, ja, ich werde versuchen, alles in Zusammenhang zu bringen. Es gelang uns unter schweren Verlusten, den Angeloi zu vernichten.

Nun, dies war in gewisser Weise der Tag, an dem der Grundstein für NERV gelegt wurde.
Aber ich sprach von drei Ereignissen.

Das zweite war die Fertigstellung des ersten sogenannten MAGI-Rechners, des ersten Biocomputers, durch Doktor Naoko Akagi, Mutter der anwesenden Ritsuko Akagi, Leiterin von Projekt Gehirn im Dienst des OE-Konzerns. Nach der ersten Inbetriebnahme zeigte es sich, daß der Rechner eine fortgeschrittene Künstliche Intelligenz auszubilden begann. Diese KI war uns in den Folgejahren bei der Analyse der Geschehnisse am Pol äußerst behilflich, allerdings hat sich dieses Ereignis nicht wiederholt, weitere MAGI-Rechner haben keine eigene Persönlichkeit entwickelt.

Das dritte Ereignis schließlich erfolgte in der Stadt Jerusalem. An der dortigen Universität gelang es dem Altertumsforscher, Linguisten und Kabbalisten Samuel Schuster, die Rollen von Qum´ram zu entschlüsseln. Bei diesen Schriftrollen handelt es sich um eine uralte Sammlung erhaltener religiöser Texte und Überlieferungen. Professor Schuster allerdings entdeckte, daß sich in den Texten eine Botschaft verbarg, eine Warnung. Und es gelang ihm, diese Warnung zu entschlüsseln.

Es war eine Warnung vor den Angeloi...

Ohne die Geschehnisse am Südpol wäre Schuster niemals ernst genommen worden, doch so lieferte er uns weitere Argumente, welche schließlich zur Gründung von NERV führten. Die Vereinten Nationen beauftragten uns mit der Verteidigung der Erde gegen die Bedrohung durch die Angeloi.

In den nächsten Jahren wurden ungeheure Ressourcen aufgewand, um zum einen die Festung am Südpol zu errichten und zum anderen nach Hinterlassenschaften der Angeloi zu suchen.
Und wir wurden fündig - im Jahre 2004 entdeckte Major Ikari den Geosektor unter Tokio, wo NERV sein Ausbildungs- und Verwaltungszentrum errichtete. Im Jahre 2006 begannen wir in Zusammenarbeit mit verschiedenen Wirtschaftsmächten mit der Konstruktion der EVANGELIONs als ultimative Waffe gegen die Angeloi. Und im letzten Jahr begannen wir mit der Suche nach Piloten, nachdem es sich gezeigt hatte, daß die EVAs nur unzureichend auf Fernsteuerung reagierten.

Vor einem halben Jahr wurde ein erneuter Strahlungsanstieg am Südpol festgestellt, woraufhin eine Reihe von Countdowns in Gang gesetzt wurde. Anhand der Stärke der Strahlung können wir berechnen, wann wieder Angeloi auf der Erde erscheinen werden..."

Er machte eine Pause, sah in die Runde.

"Wie wir mittlerweile wissen, befindet sich am Südpol ein Portal, über welches die Angeloi zur Erde gelangen können. Wir gehen davon aus, der Matriel, der vor fünfzehn Jahren erschien, nur ein Kundschafter war. Während der Auseinandersetzung kam es wahrscheinlich zu einem Feedback, welches die Geräte der Angeloi auf der anderen Seite des Portales beeinflußte, so daß sie fünfzehn Jahre brauchten, ehe sie einen weiteren Versuch starten konnten, nun, wie ich gerade dargelegt habe, wurde diese Zeit von uns genutzt, um uns vorzubereiten.

Aber woher wußten unsere Vorfahren von den Angeloi... woher stammte das in den Qum´ramrollen gesammelte Wissen... und woher kam der Gaghiel... nun, die Antwort ist recht einfach und zugleich erschreckend:

Die Angeloi waren schon einmal auf der Erde, in der Zeit vor der großen Flut. Es heißt, sie kamen aus der Dunkelheit. Wahrscheinlich ist damit das Weltall gemeint, womit wir bei einem außerirdischen Ursprung der Gefahr sind.
Wir wissen nicht, woher sie genau kamen und wie sie auf die Erde aufmerksam geworden sind, ob sie freiwillig kamen, oder ob das Schicksal sie hierher verschlug, wir wissen nur, daß sie als Eroberer kamen. Sie lebten nicht unter den Menschen, sondern von den Menschen... und so gingen sie in unsere Überlieferungen ein, als Dämonen und Götter des Todes. Luzifer, der gefallene Engel, und jene, die ihm folgten... Pluton und Hades, Kali, Seth, Amatsu-mikaboshi... um nur ein paar Namen zu nennen, unter denen wir uns an sie erinnern. Die Angeloi sind die Quellen unserer Legenden über Teufel, Vampire, Menschenfresser und Schwarze Männer.

Die Schriftrollen sagen nicht viel darüber aus, wie sie besiegt und vertrieben wurden, nur soviel, daß die Menschen eines Tages genug vom Treiben der Angeloi hatten und sich zusammen gegen sie stellten, um sie in die Dunkelheit zurückzutreiben, aus der sie gekommen waren. Die MAGI-Rechner gehen davon aus, daß hierin der Ursprung vieler Heldensagen und Legenden liegt. Wahrscheinlich zogen sich die Angeloi in die Antarktis zurück und flohen dann über das Portal in ihre Heimat.

Doch als Abschiedsgeschenk für die Rebellen lösten sie die große Flut aus...

Ja... hm, und was den Gaghiel angeht - wahrscheinlich haben es nicht alle Angeloi geschafft, sich der Flucht anzuschließen. Einige blieben zurück, manche davon wurden von den Überlebenden der Sintflut zur Strecke gebracht, andere starben an ihren Verletzungen oder an Altersschwäche - und manche widerum versanken in Starre. Vor knapp vier Wochen wurde das Portal kurzfristig aktiv, durch die Verbindung wurde ein Signal gesandt, welches die Schläfer erweckte. Zum Glück scheint der Gaghiel der mächtigste unter den Zurückgebliebenen gewesen zu sein, jedenfalls hat NERV in der Zwischenzeit bereits mehrere Nester ausgehoben."

Wieder machte er eine Pause.

"Soviel zum Stand der Dinge. Aber etwas habe ich noch... Vielleicht möchtet ihr etwas über die Wesen erfahren, gegen die wir kämpfen - was sind die Angeloi eigentlich?

Unseres Wissens handelt es sich nicht um ein Volk im direkten Sinne, außer man ist bereit, den Begriff des Volkes auf eine Handvoll Individuen einzuschränken. Die Mehrheit der Wesen, die wir unter dem Oberbegriff Angeloi führen, sind biomechanische Drohnen, mit kybernetischen Teilen aufgerüstete Züchtungen ohne Seele, welche den Anweisungen der Schwarmmütter folgen.

Die Gesellschaft der Angeloi hat Ähnlichkeit mit einem Bienenschwarm. An ihrer Spitze befindet sich eine uneingeschränkte Herrscherin, die Imperatrix, Herrin über Leben und Tod. Sie gebietet über dreizehn Schwärme, jeder Schwarm repräsentiert eine bestimmte Kaste der Angeloi - Arbeiter, Techniker, Forscher, Diener, Soldaten... wodurch sich die Schwärme in Größe und Zusammensetzung voneinander unterscheiden.

Jeder Schwarm untersteht einer Schwarmmutter, einer Tochter der Imperatrix, ihr zu Seite steht eine Art oberster Aufseher, bei den kriegsführenden Schwärmen heißt dieses Wesen Kriegsherr, bei den Arbeitern Vorarbeiter und so weiter. Diese Wesen, die Schwarmmütter, die Aufseher und die Imperatrix, machen das eigentliche Volk der Angeloi aus, sie allein verfügen über einen freien Willen, wobei sie alle den Befehlen der Imperatrix folgen müssen."

"Also müßte man nur diese Imperatrix ausschalten und..." begann Kensuke, der in seinem Hinterkopf bereits dabei war, ein militärisches Szenario zu erstellen.

"Wenn das so einfach wäre... Stirbt die Imperatrix, tritt eine der Schwarmmütter an ihre Stelle. In der Folge werden die anderen Schwarmmütter und Aufseher eliminiert und durch die Brut der neuen Imperatrix ersetzt, das ist die einzige Gelegenheit, zu der neue wahre Angeloi geboren werden."

"Ja, genau, ein Bürgerkrieg! Sollen sie sich doch gegenseitig plattmachen!"

"Ich weiß deinen Enthusiasmus zu schätzen, Kensuke Aida, aber die Imperatrix wird von den Truppen der Schwärme geschützt... womit wir beim nächsten Punkt wären.

Die niederen Angeloi setzen sich aus zwei Haupttypen zusammen.

Einmal wären da die Matriels, je nach Schwarmzugehörigkeit fungieren sie als Techniker, Wissenschaftler oder Späher. Durch die besondere Konfiguration ihrer Körper sind sie imstande, die meisten Hindernisse zu überwinden. Im übrigen verfügen nur die Soldaten über Säurekammern.

Der andere Haupttyp ist der Zeruel... - möchtest du etwas trinken, Shinji? Du bist plötzlich so blaß... Da drüben steht eine Flasche mit Saft... - Der Zeruel ist im wahrsten Sinn des Wortes der Mann für´s Grobe. Als Mitglied eines Arbeiterschwarmes ist er für den Transport von Lasten zuständig, als Soldat ist er imstande, so ziemlich alle Hindernisse einfach zu zerschmettern. Besonders gefährlich sind Mitglieder der Imperialen Garde, während der letzten Simulation ist euch ein solcher Gardist begegnet, da sie mit zusätzlichen kybernetischen Waffensystemen ausgerüstet sind.

Ferner gibt es noch weitere Typen von Angeloi, die allerdings auf zwei bis drei Schwärme beschränkt sind, zum einen der Satchiel, welcher nur in den kriegsführenden Schwärmen auftaucht, sowie der Shamshiel und der Gaghiel, der eine quasi die Angeloi-Luftwaffe, der andere ihre Navy. Schließlich gibt es noch verschiedene Untertypen, die wir als Infiltratoren bezeichnen, zu ihnen gehören der Bardiel-Gehirnparasit und die Armisael-Gedankensonde.

Jeder dieser Typen ist auf seine Art hochgefährlich und erfordert eine eigene Strategie. Wenn wir in der Festung angelangt sind, werdet ihr diese Strategien trainieren, wir verfügen dort über ein ausgereiftes Simulationssystem.

Unser Vorteil ist, daß die Transportkapazitäten des Portales beschränkt sind, die Höchstzahl an Gegnern, welche theoretisch erscheinen kann, liegt bei zwei bis drei ausgewachsenen Angeloi-Kriegern. Wenn es diesen allerdings gelingt, die Festung zu erobern und einen Brückenkopf zu errichten, ist es aus. Bisher haben wir die dortigen Einrichtungen des Portales soweit erforscht, daß wir es zwar nicht abschalten, wohl aber den Energiefluß eindämmen konnten, wenn sie diese Einrichtungen in die Hand bekommen, unterliegen sie keinen Beschränkungen mehr und könnten ganze Armeen herholen."

"Ähm, und was, uhm, geschähe dann?"

Der Kommandant stieß einen tiefen Seufzer aus.
"Das Ende der Menschheit... Ich sagte schon, daß die Angeloi sich früher von den Menschen ernährt hätten... Für sie ist die Lebensenergie der Lillims, wie sie die Menschen nennen, ein Quell der Vitalität. Und für die derzeitige Imperatrix wahrscheinlich der Schlüssel zur Unsterblichkeit..."

"Vam-Vampire..." flüsterte Kensuke - und sah sich hektisch nach etwas um, das er als Eichenholzpflock verwenden könnte.

"So ähnlich... die Quelle der Legenden... Unseren Szenarien nach würden sie über die Menschen herfallen, jeden Widerstand zerschmettern... die Lillim zusammentreiben und..."

"Bitte, hören Sie auf."
Hikari war blaß geworden.
"Aber warum können nur wir sie aufhalten?"

"Das hängt mit etwas zusammen, daß die Angeloi als Absolutes-Terror-Feld bezeichnen..."

"AT-Feld..."

"Ja, Shinji... Hm, also dieses AT-Feld, über welches alle Krieger der Angeloi verfügen, ist eine Art Schutzfeld, welches unsere Waffen kaum knacken können. Bei der Erschaffung der EVAs ist es uns allerdings gelungen, AT-Projektoren einzubauen, die nach dem Vorbild des Matriels von 2000 gebaut wurden. Allerdings ist es nötig, daß die EVA-eigenen AT-Felder mit den Angeloi-Feldern in direkten Kontakt kommen, um sie zu neutralisieren.
Aus diesem Grund wurden die EVAs auch hauptsächlich für den Nahkampf ausgelegt. Ein Angeloi ohne dieses AT-Feld ist immer noch äußerst widerstandsfähig, allerdings ist der Festungsgürtel von Antarktica auch entsprechend mit Offensivwaffen ausgestattet.
Und warum wir euch ausgewählt haben...
Die EVAs verfügen über keinen eigenen Willen, allerdings scheint die organische Komponente, das heißt das zentrale Nervensystem, unsere extra dazu entwickelte Fernsteuerung abzulehnen. Wir haben uns daher nach Personen umgesehen, die über die nötigen Reflexe und ein gehörige Portion Anpassungsfähigkeit verfügen. Am Ende sind wir bei euch gelandet, nachdem sogar die besten Piloten der Luftwaffe sich als unfähig erwiesen haben, mit den Einheiten in ausreichendem Rahmen zu synchonisieren.
Und deshalb brauchen wir euch... deshalb braucht die Menschheit euch..."


***


Deiko und Thomas waren allein im Besprechungsraum zurückgeblieben.

Der Kommandant starrte über den Grat seiner gefalteten Hände auf einen imaginären Punkt an der Wand.

"Ich glaube, sie haben verstanden, worum es geht."

"Ja, Deiko... Aber ich konnte ihnen wohl schlecht die Wahrheit sagen..."

"Über dich?"

"Nein, daß die Angeloi früher Menschen waren... daß sie es wieder werden könnten, wenn sie es nur wollten... Ich habe dem Gegner das Gesicht eines Dämons gegeben, um es ihnen leichter zu machen, für uns zu kämpfen..."


***


Am Abend dieses Tages trennte sich die PROMETHEUS von ihren Geleitschiffen und folgte einer von zwei mächtigen Eisbrechern geschaffenen Schneise im Ross-Eismeer bis zum vereisten Festland.

Dort ging sie in einem relativ kleinen Verladehafen vor Anker.

Die Frachtmodule mit EVA-02 und -03 wurden abgekoppelt und an Land geschafft, wo sie auf Eisenbahnwagons verladen wurden. Eine einsame Schienenstrecke führte geradewegs ins Innere des weißen Kontinents...

Kommandant Shigen, Kapitän Tamakura, Colonel Ikari und ein Teil des taktischen Stabes standen, ebenso wie die anwesenden Kinder, Ritsuko und Misato, in dicke Jacken gehüllt auf dem Deck und beobachteten den Verladevorgang.

Eine kleine schwarz-weiße Gestalt kam über das Deck gewatschelt.
"Wark!"

Misato ging in die Hocke.
"Ja, was bist du denn für einer?"

"Einer unserer Pinguine", erklärte Aoba.

"Ihre Pinguine?"

"Ja, sehen Sie, er ist mit einem Sender und einer kleinen Kamera ausgestattet."

Tatsächlich trug der Pinguin ein Halsband und eine kleine Linse vor der Brust.

"Die Wissenschaftler der US-Navy haben einige Hundert von ihnen gezähmt und wir setzen sie ein, um die Perimeter unserer Basen an der Küste zu überwachen."

"Wark-Wark!"

"Hm, er scheint dich zu mögen, Katsuragi", ließ sich Kaji vernehmen.

"Der ist aber auch niedlich..."

Der Pinguin kam zu ihr hinübergewatschelt und blieb neben ihr stehen, als gehöre er zu der Gruppe.
"Wark!"

Sofort umringten ihn die Kinder, gingen aber nach kurzer Intervention Ritsukos wieder auf Abstand.

"Manchmal kommen sie an Bord unserer Schiffe und wollen mitgenommen werden... wohl eine Folge der Gewöhnung an den Menschen", fuhr Aoba fort.

"Wark!" bestätigte der Pinguin.

"So, du willst also an Bord bleiben, Kleiner... Aber das geht nicht..." redete Misato auf den Frackträger ein.

"Das ist kein Problem. In Antarktica laufen ein paar herum... Einwanderer sozusagen." warf Deiko Tamakura ein.

"Wirklich?"

"Ja. Auf einen Passagier mehr oder weniger kommt es ohnehin nicht an", seufte die Kapitänin.

Und so kamen Misato und die Kinder zu einem Haustier...

Shinji zupfte am Jackenärmel seines Vaters.
"Uhm, Vater?"

"Ja?"

"Wie kommen wir denn nun nach, äh, Antarktica? Wir müssen sicher von Bord und auf den Zug, und..."

"Nein. Wir..."
Gendo sah Thomas fragend an.

Dieser nickte.
"Wir fliegen."