Kapitel 22: In die Dunkelheit
Vor fünfzehn Jahren:
Die Zeit stand still...
Deiko Tamakura fror.
Es war nicht die am Südpol herrschende Eiseskälte, welche langsam durch ihre dickgefütterte Kleidung kroch, welche sie zittern ließ. Dadurch, daß sie auf dem Rücken im Schnee lag, war sie dem frostigen Wind kaum ausgesetzt.
Vielmehr war es die Tatsache, daß mit jedem Atemzug mehr von ihrem Leben aus ihrem Körper wich, daß ihr Körper immer weiter gefühlslos wurde.
Sie konnte sich kaum noch bewegen, ihr fehlte einfach die Kraft.
Ihr rechter Arm schien gar nicht mehr zu existieren. Nun, das war in gewisser Weise ein Vorteil, mußte sie doch nicht mehr die Schmerzen erfahren, die von den zerschmetterten Knochen ausgingen.
Der Vernichtungsstrahl des Matriel hatte sie nur kurz gestreift, doch dies hatte genügt, um ihre rechte Körperhälfte in Schmerzen zu baden und die Struktur ihrer Armknochen einfach zu zerfetzen.
Ihr Blick klebte am blauen Himmel. Allmählich schmolz ihr Blickfeld zusammen, beginnend an den Rändern. Zugleich ließ ihr Gehör nach, verebbte der Kampflärm, so daß sie nicht mehr verfolgen konnte, ob der Matriel weitere Erfolge gegen den Konvoi erzielte, oder ob die Gegenoffensive erfolgreich war.
Es war ihr egal...
Ihre ganzen Denken schien in einem zähflüssigen Morast gefangen zu sein, auf ganz banale Dinge reduziert zu sein.
Jemand trat in ihr Blickfeld, beugte sich über sie.
Im ersten Moment erkannte sie ihn nicht, sein ganzer Kopf wirkte verbrannt, die Haare hingen in schwarz verkohlten Klumpen an Fetzen der Kopfhaut. Sein eines Auge fehlte, an seiner Stelle befand sich nur ein dunkler Krater.
"Thomas..." flüsterte sie seinen Namen.
Er berührte ihre Lippen mit den Fingerspitzen.
Der Geruch verbrannten Fleisches fraß sich in ihre Nase.
"Shhh. Sprich nicht."
Ihm war anzusehen, daß das Formen der Worte ihm Schmerzen bereitete.
"Ich versuche, dir zu helfen. Mein Leben für das deine, Kleine Schwester..."
Seine Finger begannen zu leuchten, wobei sie nicht sagen konnte, ob sie es sich nicht vielleicht nur einbildete. Dann floß ein Strom von Kraft von ihm auf sie über, erfüllte mit sie Wärme, welche die Kälte zurückdrängte.
In diesem Moment wurden ihr die möglichen Konsequenzen seines Handelns bewußt.
"Nein..."
***
Heute:
Das sogenannte Portal, die noch ruhenden Verbindung zur Welt der Angeloi, befand sich am Südpol der Erde. Nun, eigentlich nicht am geographischen Südpol, sondern vielmehr am magnetischen Südpol, welcher eigentlich der magnetische Nordpol ist, aber das weiter auszuführen, würde nur Verwirrung hervorrufen.
Die physische Manifestation des Portales bestand aus einer zwei Meilen durchmessenden spiegelglatten Eisfläche von knapp fünfzig Metern Dicke. Das Eis war vollkommen klar, derart klar, daß man sehen konnte, daß unter der Eisfläche ein Hohlraum lag, und daß in diesem Hohlraum Gebäude errichtet worden waren.
Für einen ausgewachsenen Angeloi, wie etwa einen Zeruel, waren diese Gebäude bestenfalls Notunterkünfte, doch für die Menschen, welche diesen Ort ausgesucht hatten, um die letzte Verteidigungslinie der Menschheit gegen die Invasion zu errichten, war es eine Stadt. In den Gebäuden mußten nur weitere Decken und Zwischenwände gezogen werden, um diese menschlichen Bedürfnissen anzupassen.
Eines der Gebäude war eine halbe Pyramide, die sich fast im Zentrum der antarktischen Geofront befand. Hier hatte der Kommandostab Quartier bezogen und hier befand sich auch die Kommandozentrale der Festungsstadt, sie trug die Bezeichnung ´Adlernest´...
***
"Nun, Colonel, was sagen Sie?"
Thomas Shigen, Kommandant der UN-Organisation NERV, sah den Leiter seines taktischen Stabes nicht an, als er ihm diese Frage stellte. Er hockte vornübergebeugt in seinem Sessel auf der obersten Ebene der Kommandozentrale der Festungsstadt Antarktica und beobachtete die Vorgänge auf den tieferen Ebenen über den Grat seiner gefalteten Hände hinweg.
"Es hat sich einiges verändert, seit ich zum letzten Mal in der Gegend war."
UN-Colonel Gendo Ikari vermittelte nicht gerade den Eindruck, daß er sich sonderlich wohl fühlte. Er stand schräg hinter dem Kommandanten, die Arme vor der Brust verschränkt.
Der dritte Anwesende auf der Kommandoebene lachte.
"Das können Sie laut sagen... Vor fünfzehn Jahren gab es zwar die tiefe Stadt bereits, aber weder den Festungsring, noch unsere Einrichtungen unterhalb des Portales."
Major Ryoji Kaji stand lässig gegen die Brüstung der balkonartigen Kommandoebene gelehnt, augenscheinlich ignorierend, daß es in seinem Rücken mehrere Stockwerke tief nach unten ging.
"Aber die Innenarchitekten von NERV haben einiges mit der alten Angeloi-Stadt angestellt, soviel muß ich doch sagen..."
Ikari verdrehte die Augen. Für ihn trat der Major viel zu lässig auf, so als ob er die der Menschheit drohende Gefahr nicht ernstnahm.
"Colonel, wie geht es Ihrem Sohn und den anderen Kindern? Haben sie sich bereits eingewöhnt?"
"Es ist eine ungewohnte Umgebung, Kommandant."
Und für Gendo war es immer noch ungewohnt, den Mann, den er unter dem Namen Thomas Shigen kennengelernt hatte, als seinen Vorgesetzten zu behandeln zu müssen.
"Ja. Aber der Mensch ist anpassungsfähig, mehr als Sie vielleicht glauben würden..."
***
Shinjis Blick wanderte an den Gebäuden hinauf, die in den Himmel zu wachsen schienen. Erst als er an der größtenteils aus Eis bestehenden Höhlendecke angelangt war, wurde ihm wieder die Realität bewußt.
"Das ist eine zweite Geofront..."
"Cool!" rief Kensuke.
Die sechs standen auf einem großen Platz vor dem Gebäude, welches die Kommandozentrale beherbergte. Bei ihnen waren Ritsuko Akagi, Misato Katsugari und Captain Shigeru Aoba, welcher der Gruppe als Aufpasser zur Seite gestellt worden war, sowie der Pinguin, der ihnen bei der Ankunft auf dem Ross-Eisschelf zugelaufen war, und den Misato Pen-Pen genannt hatte.
Shinji wurde warm in seiner dicken Jacke, so daß er den Reißverschluß öffnete.
"Warum ist es hier unten so warm?"
Der Captain lächelte.
"Die Angeloi betreiben ihr Portal mit Magmakraftwerken, die aus ihren Bohrlöchern aufsteigende Wärme sorgt dafür, daß in der Geofront eine stabile Temperatur von etwa dreizehn Grad herrscht."
Misato hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte nach oben, so als würde sie in der Höhe etwas sehen, das sich nur ihr zeigte.
Ritsuko räusperte sich.
"Misato, als Doktor der Medizin kann ich dir nur raten, den Kopf wieder in eine gewöhnliche Haltung zu bringen, wenn du die nächsten Tage nicht Probleme mit einem steifen Genick haben willst."
"Wie? Äh, ja... Es ist nur... Es ist seltsam, wieder an diesem Ort zu sein. Dort oben, an der Oberfläche, starb vor über vierzehn Jahren mein Vater..."
Sie erschauderte, als sie sich erinnerte, als sie noch einmal miterlebte, wie plötzlich die mechanoide Riesenspinne auftauchte und einen gleißend hellen Strahl auf die Raupenkettenfahrzeuge der Expedition abfeuerte, wie ihr Vater durch die Luft flog und mit einem lauten Klatschen gegen die Außenhaut des einen Fahrzeuges prallte. Einen Moment lang hatte sie seine gebrochenen Augen gesehen...
"Hm, verstehe... Keine schöne Erinnerung."
"Überhaupt nicht... aber sag mal, wieviele Doktortitel hast du dir eigentlich in den letzten Jahren zugelegt?"
"Laß mal sehen... Humanmedizin, Humangenetik, Biologie, Pharmazie, Ingenieurswesen und Informatik."
"Dann könntest du wohl auch so einen Riesenroboter bauen, oder?"
Sie deutete auf die beiden EVANGELION-Einheiten, die sich in ihren Käfigen in teilweise offenen Gebäuden befanden, welche mit der Felsdecke der Höhle verbunden waren.
"Komm, Misato, auf den Arm nehmen kann ich mich allein."
"Wirklich?"
Von Ritsuko kam ein dumpfes ´Hrumpf´. Seit sie vom Schiff war, hatte sich ihre Laune erheblich gebessert, weshalb die Tatsache, daß ihre Tochter und Shinji Ikari Arm in Arm gingen, bei keine Panikausbrüche mehr provozierte.
"Na gut... - Herr Aoba, wozu sind eigentlich diese Käfigkonstruktionen?"
Shigeru wandte sich ihr zu, öffnete den Mund, doch es war Shinji, der die Antwort gab.
"Ähm, das sind Aufzugskörbe. Die EVAs werden durch Schächte im Fels an die Oberfläche katapultiert."
Er lächelte nervös, seine Stimme verlor ihre Selbstsicherheit.
"Das stimmt doch, Captain, oder?"
"Stimmt genau. Gut geraten."
"Ja, äh, danke."
Ich kann ihnen ja schlecht sagen, daß in Tokio-03 dieselben Konstruktionen verwandt wurden...
"Wir haben Schächte durch das ganze Gebiet um die Portalzone getrieben, um die EVAs und unsere Truppen an jeden Ort bringen zu können, wo sie benötigt werden."
Kensukes Augen leuchteten auf.
"Truppen?"
"Die Vereinten Nationen haben 10000 Mann hier stationiert. Aber die eigentliche Verteidigung liegt bei den EVANGELIONs, die Soldaten sind eigentlich nur aus zwei Gründen hier, zum einen, um den Festungsring besetzt zu halten und zum anderen..."
Aoba verstummte, schien zu überlegen.
"Warum noch, Captain?"
"Hm, seht ihr, es sind Soldaten aus der ganzen Welt, jeder Mitgliedstaat der UN hat wenigstens eine kleine Einheit geschickt, wir haben jede Hautfarbe, jede Religion, jede Ideologie... wahrscheinlich habt ihr es nicht einmal bemerkt, aber seit zwei Monaten herrscht auf der Erde Frieden, wirklicher Frieden. Keine Nachbarstaaten, die einander an die Gurgel gehen, keine Bürgerkriege, keine Aufstände... und all das, weil wir einer gemeinsamen Bedrohung gegenüberstehen."
"Heißt das, daß aus der bevorstehenden Invasion sogar etwas Gutes entstehen kann?"
Es war Touji Suzuhara, der diese Worte äußerte, und damit seine Freunde wieder einmal überraschte.
Aoba nickte ernst.
"Die Frage ist nur, ob sich dieser Zustand auch aufrechterhalten lassen kann, wenn wir es schaffen sollten zu siegen..."
***
Der Nachmittag war mit Simulatortraining angefüllt gewesen, in denen die Kinder in verschiedenen Kombinationen gegen bis zu vier Angeloi gleichzeitig angetreten waren.
Ihr Abschneiden war alles andere als zufriedenstellend gewesen. Jetzt, im Anschluß an das Training, befanden sie sich in einem Konferenzraum im Kommandozentrum der Festungsstadt.
"Das ist doch alles wieder deine Schuld, Touji-baka!" schimpfte Asuka.
"Wieso ich? Du meintest doch, keine Hilfe zu benötigen."
"Ja, woher hätte ich denn wissen können, daß dieser Matriel Bißzangen hatte? Du hättest mir Deckung geben müssen!"
"Falls es dir nicht aufgefallen ist, ich hatte ebenfalls zu tun, der Satchiel hatte die Optik meines EVAs lahmgelegt."
"Wenn du nicht ausgerutscht wärst..."
"Hey, der Boden bestand aus blankem Eis!"
Shinji seufzte synchron mit Hikari.
"Hundert Yen auf Touji", flüsterte Kensuke.
"Wie kannst du nur darauf wetten, wer von den beiden sich durchsetzt?!" zischte Shinji.
"Ich halte die Wette", kam es von Rei.
"Die Überraschungen enden doch nie." murmelte Kensuke.
Der Eintreffen des Kommandanten, der von Gendo Ikari begleitet wurde, beendete die Streitigkeiten - vorerst.
"Setzen!" befahl der Einäugige und zog sich selbst einen Stuhl heran. "Wie ich sehe, habt ihr euch schon eingewöhnt... Allerdings waren eure Leistungen im Simulator heute alles andere als überzeugend. Angesichts der Tatsache, daß unserem Zeitplan nach noch knappe drei Wochen Zeit sind, ist das äußerst unbefriedigend..." Er hob die Hand. "Und ich will jetzt nicht hören, wer schuld war und warum. Was ich hören möchte, ist, daß ihr euch des Ernstes der Lage bewußt seid und euer Bestes geben werdet.
Also? - Shinji?"
"Uhm, ja. Das werden wir."
"Gut. Asuka?"
"Natürlich. Ich werde jedem Alien, das hier auftaucht, in den Hintern treten, daß es..."
"Danke, das reicht mir. - Touji?"
Suzuhara nickte nur.
"Kensuke?"
"Zählen Sie auf uns, Sir!"
"Hikari?"
Hikari schluckte.
"Ja."
"Hm. - Rei?"
"Einsatzbereit."
"Gut. Euer Training wird intensiviert werden. Wir werden bei der Auswahl der Parameter von den ungünstigsten Bedingungen ausgehen, die denkbar sind. Zusätzlich werdet ihr noch morgen damit beginnen, euch mit den Bedingungen an der Oberfläche vertraut zu machen, insbesonders der Eisfläche. Die EVAs wurden eigentlich mit rutschfesten Fußsohlen konstruiert... Soviel dazu, ich denke nicht, daß es viel bringen würde, euch verbal fertigzumachen. Also... seht mal nach draußen, da durch das Fenster...
Seht ihr das Gebäude, das aussieht wie eine Spindel? Es befindet sich genau unterhalb des Zentrums der Eisfläche. Ratet mal, was das ist."
"Der Portalgenerator." sagte Rei mit monotoner Stimme.
"Ja, genau. Der Generator und die Steuerungsanlage. Wenn dieses Gebäude dem Feind in die Hände fällt, können wir einpacken. Dann können wir uns nur noch in irgendwelchen Höhlen verstecken und hoffen, daß die Invasoren nicht über uns stolpern. Der Schutz dieses Bauwerkes hat daher absolute Priorität. Jeder Schritt, den sich ein Angeloi ihm nähert, reduziert unsere Überlebenschancen. Hat das jeder verstanden?"
"Öhm..."
"Ja, Suzuhara?"
"Wenn sich in diesem Gebäude die Steuerung des Portales befindet, warum schalten Sie es dann nicht einfach ab? Oder sprengen den Bau?"
Thomas sah Gendo an.
"Daß wir darauf nicht selbst gekommen sind..." seufzte er.
Dann schüttelte er den Kopf.
"Um das Ding abzuschalten, verstehen wir nicht genug davon. Wir haben es geschafft, die Leistung des Generators derart zu drosseln, daß der Empfänger kaum eigene Energie produziert. Und eine Zerstörung würde die Sprengkraft mehrerer Giga-N2-Bomben benötigen, was sich an diesem Ort von selbst verbietet, wenn wir nicht das Magnetfeld der Erde permanent schädigen wollen. Die einzige Möglichkeit, die uns die MAGI berechnet haben, wäre eine Zündung mehrerer N2-Minen innerhalb des Transportfeldes selbst, aber auch hier ist mir persönlich das Risiko zu hoch, daß etwas schiefgeht.
Was wir jedoch tun können, ist die Voraustruppen der Angeloi aufzuhalten und das Portal zu halten. Bei den momentanen Konfigurationen können nicht mehr als drei, vier Angeloi-Krieger zugleich eintreffen. Zwischen jedem Transportvorgang liegt eine gute Woche, sobald die Empfangsstation mit der minimal benötigten Energie arbeitet, was in drei Wochen der Fall sein wird, wenn uns kein Weg einfällt, die Energie wieder aus den Speichern abzuzapfen.
Jedesmal, wenn ihr eine Welle der Angeloi aushaltet, erkauft ihr uns Zeit. In einem Zeitraum von acht Wochen können unsere Wissenschaftler in Osaka zwei weitere EVAs konstruieren. Ebenso sind wir dabei, weitere Piloten zu rekrutieren. Aber wir brauchen Zeit. Und eben diese Zeit wird uns der Feind nicht geben wollen.
So, das war im großen und ganzen meine Rede. Colonel Ikari, Sie sind dran."
"Ja..."
Gendo stellte einen großen Karton auf den Konferenztisch und holte mehrere Schachteln her-aus, welche er an die Kinder verteilte.
"In diesen Schachteln befinden sich Multifunktionsarmbandgeräte. Ihr werdet diese Armbänder, solange ihr euch in Antarktica aufhaltet, nicht ablegen. Sie ermöglichen uns, euch jederzeit zu lokalisieren und zu kontaktieren, zudem könnt ihr darüber untereinander in Verbindung treten. - Und die Zeit anzeigen tun sie auch noch."
Er griff wieder in den Karton, holte diesesmal eine PlugSuit in schneeweißer Farbe heraus.
"Das hier ist der Prototyp einer neuen PlugSuit mit beschränkten Chamäleoneingenschaften. Der Anzug ist wärmeisoliert und verfügt über eine Kapuze sowie über einen Gesichtsschutz. Falls ihr zu einer Notevakuierung der EntryPlugs gezwungen werden solltet, sollten diese neuen Anzüge es euch ermöglichen, bei den oben herrschenden Temperaturen aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu gelangen."
Wieder griff er in den Karton, zog jetzt einen Rucksack hervor.
"In diesem Rucksack befindet sich dieselbe Notausrüstung wie in den Rückenlehnen der Pilotensessel eurer EVAs... Verbandszeug, Taschenlampe, Feuerzeug, Notfallrationen, Wasser, ein Funkgerät, Überlebensmesser, eine Signalpistole mit fünf Schuß Munition, zehn Meter Nylonfaserseil, Reservebatterien, Isodecke. Ihr werdet in den nächsten Tage eine Schulung im Umgang mit der Notausrüstung erhalten."
Er trat einen Schritt zurück.
"Danke, Colonel."
***
EVA-01 rannte über die Eisfläche.
Shinji hatte Mühe, die Stadt unter dem Eis zu ignorieren, welche so nah zu sein schien und daher in ihm die Befürchtung weckte, jederzeit einbrechen zu können. Zugleich hatte er mit gewissen Reflexen zu kämpfen, da sein Körper einfach der Ansicht war, daß man gefälligst auf einer derart glatten Eisfläche auszurutschen habe.
Er erreichte sein Ziel, ein kleines Raupenfahrzeug am Rand der Eisfläche, und drehte um. Die Profilsohlen des EVAs griffen mühelos, für den EVANGELION schien die Fläche unter seinen Füßen definitiv nicht aus spiegelglattem Eis zu bestehen.
Ob das mit der Anpassungsfähigkeit der EVAs zusammenhängt?
Er erinnerte sich an den Unterwasserkampf gegen den Gaghiel, während dem EVA-01 Schwimmhäute, sowie der Ansatz einer Rückenflosse unter dem Rückentornister gewachsen waren.
Die anderen EVAs konnten das nicht...
In gewisser Weise war er froh darüber, von seinen Erinnerungen abgelenkt zu sein. In der Tat schienen die Bilder aus der alternativen Realität langsam zu verblassen, solange er sich nicht auf sie konzentrierte.
Seit zwei Wochen befanden sie sich nun auf dem Stützpunkt. Das ständige Training zeigte mittlerweile Erfolge, am Vortag hatten sie zu viert im Simulator zwei Zeruels besiegt, und dabei nur einen EVA verloren. Am Vormittag dieses Tages hatte man sie gegen vier Matriels in die Schlacht geschickt, von denen Asuka allein zwei vernichtet hatte.
"Einheit-01 reagiert ausgezeichnet. Wir machen Schluß", kam es über Funk aus der Kontrollzentrale.
Shinji lächelte.
Und dann ging ein leichtes Beben durch den Boden und stürzte EVA-01 lang hin, als er das Gleichgewicht verlor...
"Was ist los?"
"Einheit-01 - runter von der Eisfläche! Das Portal wird aktiv!"
"Aber..."
Ich dachte, wir hätten noch eine Woche...
EVA-01 versuchte auf die Beine zu kommen, verhielt sich entsprechend der Panik, die in Shinji aufstieg, ging schließlich auf alle Viere nieder und hetzte von der Eisfläche, die Tatsache ausnutzend, daß er in seinem Körperbau und mit seinen langen Armen mehr einem Affen als einem Menschen nachempfunden war.
Vor Shinji erhellte sich der taktische Schirm, erschienen Anweisungen, die ihn zum nächsten Waffenbunker dirigierten.
"Verstärkung ist bereits unterwegs!"
"Ja!"
Direkt vor ihm schoß ein Waffenbunker aus dem Boden, wirbelte dabei den Schnee auf. Der Bunker klappte auf, enthüllte seinen Inhalt, ein Positronengewehr.
"Ich gehe in Stellung!"
Er nahm das Gewehr an sich und kniete sich hin.
Über der Eisfläche knisterte die Luft. Dunkle Wolken zogen plötzlich über den Himmel. Im nächsten Moment zuckte der erste Blitz über die Ebene hinweg.
"Uhm..."
"Keine Angst, die Blitze können dem EVA nichts anhaben. Und der EntryPlug ist isoliert."
"Schön..." murmelte er sarkastisch.
Auf der Eisfläche erschienen drei Gestalten, jede eine riesenhafte biomechanoide Spinne.
"Feind gesichtet. Es handelt sich um drei Matriels."
"Shinji, sei vorsichtig!"
Er erkannte die Stimme, ohne auf den Monitor der Kom-Phalanx blicken zu müssen.
"Ja, Vater."
Schon hatte er den ersten Matriel im Visier und feuerte, sprang dann sofort zur Seite, rollte sich ab, kam wieder in eine knieende Position.
Dort, wo er sich eben noch befunden hatte, klatschte ein giftgrüner Kokon in den Schnee, der beim Kontakt mit dem Boden aufplatzte und Säure verspritzte, welche den Schnee in Sekundenschnelle verdampfte.
Einer der drei Matriels lag zuckend auf dem Rücken.
"Einen habe ich!"
Er schoß erneut, sprang diesesmal rückwärts, um den beiden anderen Matriels nicht die Gelegenheit zu geben, seine Bewegungen vorherzuahnen, machte dann eine Rolle seitwärts und kam auf die Beine, rannte los, dabei blind feuernd.
"EVA-02 erreicht Oberfläche."
"Bestätigt."
Shinji wich einem Säurekokon aus, der direkt vor seinen Füßen gelandet war, bekam einige Spritzer dennoch ab, welche die Rückenpanzerung des EVAs verätzten.
Noch zwei Minuten Energie!
Natürlich war der EVA nicht mit seinem Batterietornister bestückt, schließlich hatte es als harmloser Test begonnen, bei dem die mittlerweile auf einen Zeitraum von dreizig Minuten erweiterten internen Kapazitäten ausgereicht hätten.
"Sehr gut, lenk ihn weiter ab!" rief eine vertraute Stimme.
"Was glaubst du, tue ich die ganze Zeit über, Asuka?"
"Ha! Hab einen! Spinne am Spieß! Iek!"
Shinji warf sich herum, als er ihren Ausruf hörte.
Der rote EVA stand über einem Matriel, seinen Speer tief in dessen Eingeweiden. Allerdings steckte die Waffe fest - und tauchte gerade in seinem Rücken der dritte Matriel auf.
Asuka ließ den Speer los und sprang über den toten Matriel hinweg, rutschte auf einer Spur blauen Blutes aus, schlidderte direkt auf Einheit-01 zu.
"Shinji, aus dem Weg!"
"Kopf einziehen!"
"Was?"
Asuka befolgte die Anweisung intuitiv.
Und Shinji schoß.
- und traf.
In dem Moment, in dem der dritte Matriel explodierte, krachten die beiden EVAs zusammen, überschlugen sich und blieben im Schnee liegen.
"Argh..." machte Shinji und versuchte, sich aus den Sicherheitsgurten zu befreien, welche ihn im Sessel festhielten. Allerdings hing er mit dem Kopf nach unten im Sitz.
"Geh von mir runter!" rief Asuka. "Wenn der Matriel..."
"Ich habe keine Energie mehr."
"Weißt du eigentlich, wo dein EVA seine Hand hat? Der ist doch genauso pervers wie du!"
"Vernichtung aller drei Ziele bestätigt. Bergungstrupps sind unterwegs."
***
In der Zentrale verstummten die Sirenen.
Thomas betrachtete das Bild, welche die Außenbeobachtungskameras des Festungsringes übertrugen.
"Unsere glorreichen Piloten..."
"Immerhin haben sie die Matriels besiegt. Zu zweit gegen drei Feinde... da können sie sich ein bißchen Peinlichkeit erlauben, finde ich."
Kaji lachte.
Gendo rückte sein Headset zurecht.
"Shinji, bist du in Ordnung?"
"Ja, Vater..."
Im nächsten Moment zeigte der Hauptschirm die Innenansicht des EntryPlugs von Einheit-01.
"Ich hänge nur gerade etwas in der Luft."
"Das hast du sehr gut gemacht."
"Und was ist mit mir?"
"Du auch, Asuka. Wartet noch einen Moment, EVA-03 ist schon unterwegs, um euch aus eurer Lage zu befreien."
"Ah, nicht Touji-baka! Wer weiß, zu welchen Dingen dieser Perverse meine Notlage ausnutzt!"
Gendo schaltete den Funk ab und atmete auf.
"Das ist noch einmal gutgegangen."
"Ja... Aber wie konnte das Portal jetzt schon aktiviert werden?"
Thomas stand auf.
"Captain Aoba, was sagen die MAGI?"
"MELCHIOR, CASPAR und BALTHASAR sind sich uneinig, Sir."
"Und?"
"CASPAR geht von einem Fehler in unseren Berechnungen aus, während die beiden anderen Rechner mit einer Wahrscheinlichkeit von 98,99999999901% berechnet haben wollen, daß die Angeloi eine Möglichkeit gefunden haben, auf ihrer Seite die Sendeleistung der Gegenstation zu erhöhen... oh, jetzt schließt sich CASPAR den anderen beiden an. Sie berechnen gerade unseren neuen Zeitplan. Demnach schrumpft der Abstand zwischen den Aktivphasen des Portals auf vier Tage."
"Oh, verdammt... - Ikari, erarbeiten Sie mit dem Stab einen Alternativplan. Wir können uns nicht ausschließlich auf die EVAs verlassen. Major Kaji, wie sieht es mit den Kampfanzügen aus?"
"Die letzten Tests laufen noch, aber meiner Ansicht nach sind Doktor Takanawas neueste Basteleien ihr Geld wert."
"Gut, gut... Ich will ab sofort ständig ein paar Leute draußen haben, die mit N2-Granaten ausgerüstet sind. Die reduzierte Sprengkraft der Granaten stellt noch keine Gefahr für das Magnetfeld dar, sollte aber eine nette Ablenkung darstellen, falls wir Zeit schinden müssen."
"Ich gebe es weiter."
***
Vier Tage später wiederholte sich der Vorgang. Binnen weniger Minuten verdunkelte sich der Himmel und fuhren Blitze durch die Luft.
Die vier EVAs standen bereit, jeder mit einem Positronengewehr bewaffnet und einen noch deaktivierten PROG-Speer neben sich im Schnee steckend. EVA-02 trug sein Gewehr auf den Rücken und hatte stattdessen einen Raketenwerfer geschultert. Dazu führten sie die Rückentornister mit sich.
Die vier Einheiten hatten sich in etwa gleichen Abständen am Rand der Eisfläche verteilt. Hinter ihnen waren Panzerfahrzeuge aufgefahren, zwischen denen Soldaten in dicken Panzerungen standen, Miniaturversionen der Positronengewehre auf die Eisfläche gerichtet. An den Innenwandungen des Festungsringes waren Waffenläuffe ausgefahren und ausgerichtet worden.
Gendo Ikari setzte sein Fernglas ab. Er stand auf dem Dach eines Raupenfahrzeuges neben dem Gestützstand.
"Warum dauert das so lange?"
"Geduld..." versuchte Kaji ihn zu beruhigen.
"Es dauert wirklich lange..." murmelte Thomas und stieg aus dem Kommandofahrzeug, ging ein paar Schritte auf die Eisfläche zu.
"Was führt ihr im Schilde?"
***
Asuka schwenkte den Arm mit dem Raketenwerfer hin und her, suchte die Eisfläche vor ihr mit dem Zielerfassungsgerät ab.
"Ist das langweilig!"
"Beschrei´s nicht..." brummte Touji. "Mir ist es ganz recht, wenn keiner von den Kerlen auftaucht."
"Du bist ja auch ein Weichei, Suzuhara! Shinji und ich haben ihre erste Welle ganz allein plattgemacht, jetzt stehen wir zu viert hier und sie trauen sich nicht... hey, was ist das?"
"Was, Asuka?" mischte sich Shigens Stimme ein.
"Äh, Kommandant, ich kann die Stadt nicht mehr sehen!"
"Stimmt, das Eis ist völlig schwarz geworden."
Shinji riß die Augen auf.
"Uh... als würde ein großer Schatten..."
"Weg! Das ist ein Dirac´sches Meer!" schrie Rei...
***
"Ein Dirac´sches Meer..." echote Thomas. "Macht, daß ihr wegkommt!"
In diesem Augenblick schwappte die Finsternis über die theoretische Begrenzung der Eisfläche und fing die EVAs ein, zuletzt verschwand EVA-00, der sich rückwärts zu bewegen begonnen hatte.
"Nein! Rei!"
Der Kommandant rannte los.
"Kontakt zu den EVANGELIONs abgebrochen! Keine Signale, wiederhole keine Signale!" drang es aus dem Lautsprecher seines Headsets an sein Ohr.
Im Laufen streifte er die Handschuhe ab und warf sie fort.
"Kommandant, was haben Sie vor?" fragte Kaji über Funk.
"Es ist ein inverses Transportfeld... Vielleicht... vielleicht kann ich dem Feld die Energie entziehen, bevor..."
Damit verschwand auch er in der Schwärze, wurde einfach von ihr überrollt.
Die Dunkelheit löste sich kurz darauf auf... zurück blieb nur eine leere Ebene...
Gendo Ikari brüllte den Namen seines Sohnes...
Vor fünfzehn Jahren:
Die Zeit stand still...
Deiko Tamakura fror.
Es war nicht die am Südpol herrschende Eiseskälte, welche langsam durch ihre dickgefütterte Kleidung kroch, welche sie zittern ließ. Dadurch, daß sie auf dem Rücken im Schnee lag, war sie dem frostigen Wind kaum ausgesetzt.
Vielmehr war es die Tatsache, daß mit jedem Atemzug mehr von ihrem Leben aus ihrem Körper wich, daß ihr Körper immer weiter gefühlslos wurde.
Sie konnte sich kaum noch bewegen, ihr fehlte einfach die Kraft.
Ihr rechter Arm schien gar nicht mehr zu existieren. Nun, das war in gewisser Weise ein Vorteil, mußte sie doch nicht mehr die Schmerzen erfahren, die von den zerschmetterten Knochen ausgingen.
Der Vernichtungsstrahl des Matriel hatte sie nur kurz gestreift, doch dies hatte genügt, um ihre rechte Körperhälfte in Schmerzen zu baden und die Struktur ihrer Armknochen einfach zu zerfetzen.
Ihr Blick klebte am blauen Himmel. Allmählich schmolz ihr Blickfeld zusammen, beginnend an den Rändern. Zugleich ließ ihr Gehör nach, verebbte der Kampflärm, so daß sie nicht mehr verfolgen konnte, ob der Matriel weitere Erfolge gegen den Konvoi erzielte, oder ob die Gegenoffensive erfolgreich war.
Es war ihr egal...
Ihre ganzen Denken schien in einem zähflüssigen Morast gefangen zu sein, auf ganz banale Dinge reduziert zu sein.
Jemand trat in ihr Blickfeld, beugte sich über sie.
Im ersten Moment erkannte sie ihn nicht, sein ganzer Kopf wirkte verbrannt, die Haare hingen in schwarz verkohlten Klumpen an Fetzen der Kopfhaut. Sein eines Auge fehlte, an seiner Stelle befand sich nur ein dunkler Krater.
"Thomas..." flüsterte sie seinen Namen.
Er berührte ihre Lippen mit den Fingerspitzen.
Der Geruch verbrannten Fleisches fraß sich in ihre Nase.
"Shhh. Sprich nicht."
Ihm war anzusehen, daß das Formen der Worte ihm Schmerzen bereitete.
"Ich versuche, dir zu helfen. Mein Leben für das deine, Kleine Schwester..."
Seine Finger begannen zu leuchten, wobei sie nicht sagen konnte, ob sie es sich nicht vielleicht nur einbildete. Dann floß ein Strom von Kraft von ihm auf sie über, erfüllte mit sie Wärme, welche die Kälte zurückdrängte.
In diesem Moment wurden ihr die möglichen Konsequenzen seines Handelns bewußt.
"Nein..."
***
Heute:
Das sogenannte Portal, die noch ruhenden Verbindung zur Welt der Angeloi, befand sich am Südpol der Erde. Nun, eigentlich nicht am geographischen Südpol, sondern vielmehr am magnetischen Südpol, welcher eigentlich der magnetische Nordpol ist, aber das weiter auszuführen, würde nur Verwirrung hervorrufen.
Die physische Manifestation des Portales bestand aus einer zwei Meilen durchmessenden spiegelglatten Eisfläche von knapp fünfzig Metern Dicke. Das Eis war vollkommen klar, derart klar, daß man sehen konnte, daß unter der Eisfläche ein Hohlraum lag, und daß in diesem Hohlraum Gebäude errichtet worden waren.
Für einen ausgewachsenen Angeloi, wie etwa einen Zeruel, waren diese Gebäude bestenfalls Notunterkünfte, doch für die Menschen, welche diesen Ort ausgesucht hatten, um die letzte Verteidigungslinie der Menschheit gegen die Invasion zu errichten, war es eine Stadt. In den Gebäuden mußten nur weitere Decken und Zwischenwände gezogen werden, um diese menschlichen Bedürfnissen anzupassen.
Eines der Gebäude war eine halbe Pyramide, die sich fast im Zentrum der antarktischen Geofront befand. Hier hatte der Kommandostab Quartier bezogen und hier befand sich auch die Kommandozentrale der Festungsstadt, sie trug die Bezeichnung ´Adlernest´...
***
"Nun, Colonel, was sagen Sie?"
Thomas Shigen, Kommandant der UN-Organisation NERV, sah den Leiter seines taktischen Stabes nicht an, als er ihm diese Frage stellte. Er hockte vornübergebeugt in seinem Sessel auf der obersten Ebene der Kommandozentrale der Festungsstadt Antarktica und beobachtete die Vorgänge auf den tieferen Ebenen über den Grat seiner gefalteten Hände hinweg.
"Es hat sich einiges verändert, seit ich zum letzten Mal in der Gegend war."
UN-Colonel Gendo Ikari vermittelte nicht gerade den Eindruck, daß er sich sonderlich wohl fühlte. Er stand schräg hinter dem Kommandanten, die Arme vor der Brust verschränkt.
Der dritte Anwesende auf der Kommandoebene lachte.
"Das können Sie laut sagen... Vor fünfzehn Jahren gab es zwar die tiefe Stadt bereits, aber weder den Festungsring, noch unsere Einrichtungen unterhalb des Portales."
Major Ryoji Kaji stand lässig gegen die Brüstung der balkonartigen Kommandoebene gelehnt, augenscheinlich ignorierend, daß es in seinem Rücken mehrere Stockwerke tief nach unten ging.
"Aber die Innenarchitekten von NERV haben einiges mit der alten Angeloi-Stadt angestellt, soviel muß ich doch sagen..."
Ikari verdrehte die Augen. Für ihn trat der Major viel zu lässig auf, so als ob er die der Menschheit drohende Gefahr nicht ernstnahm.
"Colonel, wie geht es Ihrem Sohn und den anderen Kindern? Haben sie sich bereits eingewöhnt?"
"Es ist eine ungewohnte Umgebung, Kommandant."
Und für Gendo war es immer noch ungewohnt, den Mann, den er unter dem Namen Thomas Shigen kennengelernt hatte, als seinen Vorgesetzten zu behandeln zu müssen.
"Ja. Aber der Mensch ist anpassungsfähig, mehr als Sie vielleicht glauben würden..."
***
Shinjis Blick wanderte an den Gebäuden hinauf, die in den Himmel zu wachsen schienen. Erst als er an der größtenteils aus Eis bestehenden Höhlendecke angelangt war, wurde ihm wieder die Realität bewußt.
"Das ist eine zweite Geofront..."
"Cool!" rief Kensuke.
Die sechs standen auf einem großen Platz vor dem Gebäude, welches die Kommandozentrale beherbergte. Bei ihnen waren Ritsuko Akagi, Misato Katsugari und Captain Shigeru Aoba, welcher der Gruppe als Aufpasser zur Seite gestellt worden war, sowie der Pinguin, der ihnen bei der Ankunft auf dem Ross-Eisschelf zugelaufen war, und den Misato Pen-Pen genannt hatte.
Shinji wurde warm in seiner dicken Jacke, so daß er den Reißverschluß öffnete.
"Warum ist es hier unten so warm?"
Der Captain lächelte.
"Die Angeloi betreiben ihr Portal mit Magmakraftwerken, die aus ihren Bohrlöchern aufsteigende Wärme sorgt dafür, daß in der Geofront eine stabile Temperatur von etwa dreizehn Grad herrscht."
Misato hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte nach oben, so als würde sie in der Höhe etwas sehen, das sich nur ihr zeigte.
Ritsuko räusperte sich.
"Misato, als Doktor der Medizin kann ich dir nur raten, den Kopf wieder in eine gewöhnliche Haltung zu bringen, wenn du die nächsten Tage nicht Probleme mit einem steifen Genick haben willst."
"Wie? Äh, ja... Es ist nur... Es ist seltsam, wieder an diesem Ort zu sein. Dort oben, an der Oberfläche, starb vor über vierzehn Jahren mein Vater..."
Sie erschauderte, als sie sich erinnerte, als sie noch einmal miterlebte, wie plötzlich die mechanoide Riesenspinne auftauchte und einen gleißend hellen Strahl auf die Raupenkettenfahrzeuge der Expedition abfeuerte, wie ihr Vater durch die Luft flog und mit einem lauten Klatschen gegen die Außenhaut des einen Fahrzeuges prallte. Einen Moment lang hatte sie seine gebrochenen Augen gesehen...
"Hm, verstehe... Keine schöne Erinnerung."
"Überhaupt nicht... aber sag mal, wieviele Doktortitel hast du dir eigentlich in den letzten Jahren zugelegt?"
"Laß mal sehen... Humanmedizin, Humangenetik, Biologie, Pharmazie, Ingenieurswesen und Informatik."
"Dann könntest du wohl auch so einen Riesenroboter bauen, oder?"
Sie deutete auf die beiden EVANGELION-Einheiten, die sich in ihren Käfigen in teilweise offenen Gebäuden befanden, welche mit der Felsdecke der Höhle verbunden waren.
"Komm, Misato, auf den Arm nehmen kann ich mich allein."
"Wirklich?"
Von Ritsuko kam ein dumpfes ´Hrumpf´. Seit sie vom Schiff war, hatte sich ihre Laune erheblich gebessert, weshalb die Tatsache, daß ihre Tochter und Shinji Ikari Arm in Arm gingen, bei keine Panikausbrüche mehr provozierte.
"Na gut... - Herr Aoba, wozu sind eigentlich diese Käfigkonstruktionen?"
Shigeru wandte sich ihr zu, öffnete den Mund, doch es war Shinji, der die Antwort gab.
"Ähm, das sind Aufzugskörbe. Die EVAs werden durch Schächte im Fels an die Oberfläche katapultiert."
Er lächelte nervös, seine Stimme verlor ihre Selbstsicherheit.
"Das stimmt doch, Captain, oder?"
"Stimmt genau. Gut geraten."
"Ja, äh, danke."
Ich kann ihnen ja schlecht sagen, daß in Tokio-03 dieselben Konstruktionen verwandt wurden...
"Wir haben Schächte durch das ganze Gebiet um die Portalzone getrieben, um die EVAs und unsere Truppen an jeden Ort bringen zu können, wo sie benötigt werden."
Kensukes Augen leuchteten auf.
"Truppen?"
"Die Vereinten Nationen haben 10000 Mann hier stationiert. Aber die eigentliche Verteidigung liegt bei den EVANGELIONs, die Soldaten sind eigentlich nur aus zwei Gründen hier, zum einen, um den Festungsring besetzt zu halten und zum anderen..."
Aoba verstummte, schien zu überlegen.
"Warum noch, Captain?"
"Hm, seht ihr, es sind Soldaten aus der ganzen Welt, jeder Mitgliedstaat der UN hat wenigstens eine kleine Einheit geschickt, wir haben jede Hautfarbe, jede Religion, jede Ideologie... wahrscheinlich habt ihr es nicht einmal bemerkt, aber seit zwei Monaten herrscht auf der Erde Frieden, wirklicher Frieden. Keine Nachbarstaaten, die einander an die Gurgel gehen, keine Bürgerkriege, keine Aufstände... und all das, weil wir einer gemeinsamen Bedrohung gegenüberstehen."
"Heißt das, daß aus der bevorstehenden Invasion sogar etwas Gutes entstehen kann?"
Es war Touji Suzuhara, der diese Worte äußerte, und damit seine Freunde wieder einmal überraschte.
Aoba nickte ernst.
"Die Frage ist nur, ob sich dieser Zustand auch aufrechterhalten lassen kann, wenn wir es schaffen sollten zu siegen..."
***
Der Nachmittag war mit Simulatortraining angefüllt gewesen, in denen die Kinder in verschiedenen Kombinationen gegen bis zu vier Angeloi gleichzeitig angetreten waren.
Ihr Abschneiden war alles andere als zufriedenstellend gewesen. Jetzt, im Anschluß an das Training, befanden sie sich in einem Konferenzraum im Kommandozentrum der Festungsstadt.
"Das ist doch alles wieder deine Schuld, Touji-baka!" schimpfte Asuka.
"Wieso ich? Du meintest doch, keine Hilfe zu benötigen."
"Ja, woher hätte ich denn wissen können, daß dieser Matriel Bißzangen hatte? Du hättest mir Deckung geben müssen!"
"Falls es dir nicht aufgefallen ist, ich hatte ebenfalls zu tun, der Satchiel hatte die Optik meines EVAs lahmgelegt."
"Wenn du nicht ausgerutscht wärst..."
"Hey, der Boden bestand aus blankem Eis!"
Shinji seufzte synchron mit Hikari.
"Hundert Yen auf Touji", flüsterte Kensuke.
"Wie kannst du nur darauf wetten, wer von den beiden sich durchsetzt?!" zischte Shinji.
"Ich halte die Wette", kam es von Rei.
"Die Überraschungen enden doch nie." murmelte Kensuke.
Der Eintreffen des Kommandanten, der von Gendo Ikari begleitet wurde, beendete die Streitigkeiten - vorerst.
"Setzen!" befahl der Einäugige und zog sich selbst einen Stuhl heran. "Wie ich sehe, habt ihr euch schon eingewöhnt... Allerdings waren eure Leistungen im Simulator heute alles andere als überzeugend. Angesichts der Tatsache, daß unserem Zeitplan nach noch knappe drei Wochen Zeit sind, ist das äußerst unbefriedigend..." Er hob die Hand. "Und ich will jetzt nicht hören, wer schuld war und warum. Was ich hören möchte, ist, daß ihr euch des Ernstes der Lage bewußt seid und euer Bestes geben werdet.
Also? - Shinji?"
"Uhm, ja. Das werden wir."
"Gut. Asuka?"
"Natürlich. Ich werde jedem Alien, das hier auftaucht, in den Hintern treten, daß es..."
"Danke, das reicht mir. - Touji?"
Suzuhara nickte nur.
"Kensuke?"
"Zählen Sie auf uns, Sir!"
"Hikari?"
Hikari schluckte.
"Ja."
"Hm. - Rei?"
"Einsatzbereit."
"Gut. Euer Training wird intensiviert werden. Wir werden bei der Auswahl der Parameter von den ungünstigsten Bedingungen ausgehen, die denkbar sind. Zusätzlich werdet ihr noch morgen damit beginnen, euch mit den Bedingungen an der Oberfläche vertraut zu machen, insbesonders der Eisfläche. Die EVAs wurden eigentlich mit rutschfesten Fußsohlen konstruiert... Soviel dazu, ich denke nicht, daß es viel bringen würde, euch verbal fertigzumachen. Also... seht mal nach draußen, da durch das Fenster...
Seht ihr das Gebäude, das aussieht wie eine Spindel? Es befindet sich genau unterhalb des Zentrums der Eisfläche. Ratet mal, was das ist."
"Der Portalgenerator." sagte Rei mit monotoner Stimme.
"Ja, genau. Der Generator und die Steuerungsanlage. Wenn dieses Gebäude dem Feind in die Hände fällt, können wir einpacken. Dann können wir uns nur noch in irgendwelchen Höhlen verstecken und hoffen, daß die Invasoren nicht über uns stolpern. Der Schutz dieses Bauwerkes hat daher absolute Priorität. Jeder Schritt, den sich ein Angeloi ihm nähert, reduziert unsere Überlebenschancen. Hat das jeder verstanden?"
"Öhm..."
"Ja, Suzuhara?"
"Wenn sich in diesem Gebäude die Steuerung des Portales befindet, warum schalten Sie es dann nicht einfach ab? Oder sprengen den Bau?"
Thomas sah Gendo an.
"Daß wir darauf nicht selbst gekommen sind..." seufzte er.
Dann schüttelte er den Kopf.
"Um das Ding abzuschalten, verstehen wir nicht genug davon. Wir haben es geschafft, die Leistung des Generators derart zu drosseln, daß der Empfänger kaum eigene Energie produziert. Und eine Zerstörung würde die Sprengkraft mehrerer Giga-N2-Bomben benötigen, was sich an diesem Ort von selbst verbietet, wenn wir nicht das Magnetfeld der Erde permanent schädigen wollen. Die einzige Möglichkeit, die uns die MAGI berechnet haben, wäre eine Zündung mehrerer N2-Minen innerhalb des Transportfeldes selbst, aber auch hier ist mir persönlich das Risiko zu hoch, daß etwas schiefgeht.
Was wir jedoch tun können, ist die Voraustruppen der Angeloi aufzuhalten und das Portal zu halten. Bei den momentanen Konfigurationen können nicht mehr als drei, vier Angeloi-Krieger zugleich eintreffen. Zwischen jedem Transportvorgang liegt eine gute Woche, sobald die Empfangsstation mit der minimal benötigten Energie arbeitet, was in drei Wochen der Fall sein wird, wenn uns kein Weg einfällt, die Energie wieder aus den Speichern abzuzapfen.
Jedesmal, wenn ihr eine Welle der Angeloi aushaltet, erkauft ihr uns Zeit. In einem Zeitraum von acht Wochen können unsere Wissenschaftler in Osaka zwei weitere EVAs konstruieren. Ebenso sind wir dabei, weitere Piloten zu rekrutieren. Aber wir brauchen Zeit. Und eben diese Zeit wird uns der Feind nicht geben wollen.
So, das war im großen und ganzen meine Rede. Colonel Ikari, Sie sind dran."
"Ja..."
Gendo stellte einen großen Karton auf den Konferenztisch und holte mehrere Schachteln her-aus, welche er an die Kinder verteilte.
"In diesen Schachteln befinden sich Multifunktionsarmbandgeräte. Ihr werdet diese Armbänder, solange ihr euch in Antarktica aufhaltet, nicht ablegen. Sie ermöglichen uns, euch jederzeit zu lokalisieren und zu kontaktieren, zudem könnt ihr darüber untereinander in Verbindung treten. - Und die Zeit anzeigen tun sie auch noch."
Er griff wieder in den Karton, holte diesesmal eine PlugSuit in schneeweißer Farbe heraus.
"Das hier ist der Prototyp einer neuen PlugSuit mit beschränkten Chamäleoneingenschaften. Der Anzug ist wärmeisoliert und verfügt über eine Kapuze sowie über einen Gesichtsschutz. Falls ihr zu einer Notevakuierung der EntryPlugs gezwungen werden solltet, sollten diese neuen Anzüge es euch ermöglichen, bei den oben herrschenden Temperaturen aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu gelangen."
Wieder griff er in den Karton, zog jetzt einen Rucksack hervor.
"In diesem Rucksack befindet sich dieselbe Notausrüstung wie in den Rückenlehnen der Pilotensessel eurer EVAs... Verbandszeug, Taschenlampe, Feuerzeug, Notfallrationen, Wasser, ein Funkgerät, Überlebensmesser, eine Signalpistole mit fünf Schuß Munition, zehn Meter Nylonfaserseil, Reservebatterien, Isodecke. Ihr werdet in den nächsten Tage eine Schulung im Umgang mit der Notausrüstung erhalten."
Er trat einen Schritt zurück.
"Danke, Colonel."
***
EVA-01 rannte über die Eisfläche.
Shinji hatte Mühe, die Stadt unter dem Eis zu ignorieren, welche so nah zu sein schien und daher in ihm die Befürchtung weckte, jederzeit einbrechen zu können. Zugleich hatte er mit gewissen Reflexen zu kämpfen, da sein Körper einfach der Ansicht war, daß man gefälligst auf einer derart glatten Eisfläche auszurutschen habe.
Er erreichte sein Ziel, ein kleines Raupenfahrzeug am Rand der Eisfläche, und drehte um. Die Profilsohlen des EVAs griffen mühelos, für den EVANGELION schien die Fläche unter seinen Füßen definitiv nicht aus spiegelglattem Eis zu bestehen.
Ob das mit der Anpassungsfähigkeit der EVAs zusammenhängt?
Er erinnerte sich an den Unterwasserkampf gegen den Gaghiel, während dem EVA-01 Schwimmhäute, sowie der Ansatz einer Rückenflosse unter dem Rückentornister gewachsen waren.
Die anderen EVAs konnten das nicht...
In gewisser Weise war er froh darüber, von seinen Erinnerungen abgelenkt zu sein. In der Tat schienen die Bilder aus der alternativen Realität langsam zu verblassen, solange er sich nicht auf sie konzentrierte.
Seit zwei Wochen befanden sie sich nun auf dem Stützpunkt. Das ständige Training zeigte mittlerweile Erfolge, am Vortag hatten sie zu viert im Simulator zwei Zeruels besiegt, und dabei nur einen EVA verloren. Am Vormittag dieses Tages hatte man sie gegen vier Matriels in die Schlacht geschickt, von denen Asuka allein zwei vernichtet hatte.
"Einheit-01 reagiert ausgezeichnet. Wir machen Schluß", kam es über Funk aus der Kontrollzentrale.
Shinji lächelte.
Und dann ging ein leichtes Beben durch den Boden und stürzte EVA-01 lang hin, als er das Gleichgewicht verlor...
"Was ist los?"
"Einheit-01 - runter von der Eisfläche! Das Portal wird aktiv!"
"Aber..."
Ich dachte, wir hätten noch eine Woche...
EVA-01 versuchte auf die Beine zu kommen, verhielt sich entsprechend der Panik, die in Shinji aufstieg, ging schließlich auf alle Viere nieder und hetzte von der Eisfläche, die Tatsache ausnutzend, daß er in seinem Körperbau und mit seinen langen Armen mehr einem Affen als einem Menschen nachempfunden war.
Vor Shinji erhellte sich der taktische Schirm, erschienen Anweisungen, die ihn zum nächsten Waffenbunker dirigierten.
"Verstärkung ist bereits unterwegs!"
"Ja!"
Direkt vor ihm schoß ein Waffenbunker aus dem Boden, wirbelte dabei den Schnee auf. Der Bunker klappte auf, enthüllte seinen Inhalt, ein Positronengewehr.
"Ich gehe in Stellung!"
Er nahm das Gewehr an sich und kniete sich hin.
Über der Eisfläche knisterte die Luft. Dunkle Wolken zogen plötzlich über den Himmel. Im nächsten Moment zuckte der erste Blitz über die Ebene hinweg.
"Uhm..."
"Keine Angst, die Blitze können dem EVA nichts anhaben. Und der EntryPlug ist isoliert."
"Schön..." murmelte er sarkastisch.
Auf der Eisfläche erschienen drei Gestalten, jede eine riesenhafte biomechanoide Spinne.
"Feind gesichtet. Es handelt sich um drei Matriels."
"Shinji, sei vorsichtig!"
Er erkannte die Stimme, ohne auf den Monitor der Kom-Phalanx blicken zu müssen.
"Ja, Vater."
Schon hatte er den ersten Matriel im Visier und feuerte, sprang dann sofort zur Seite, rollte sich ab, kam wieder in eine knieende Position.
Dort, wo er sich eben noch befunden hatte, klatschte ein giftgrüner Kokon in den Schnee, der beim Kontakt mit dem Boden aufplatzte und Säure verspritzte, welche den Schnee in Sekundenschnelle verdampfte.
Einer der drei Matriels lag zuckend auf dem Rücken.
"Einen habe ich!"
Er schoß erneut, sprang diesesmal rückwärts, um den beiden anderen Matriels nicht die Gelegenheit zu geben, seine Bewegungen vorherzuahnen, machte dann eine Rolle seitwärts und kam auf die Beine, rannte los, dabei blind feuernd.
"EVA-02 erreicht Oberfläche."
"Bestätigt."
Shinji wich einem Säurekokon aus, der direkt vor seinen Füßen gelandet war, bekam einige Spritzer dennoch ab, welche die Rückenpanzerung des EVAs verätzten.
Noch zwei Minuten Energie!
Natürlich war der EVA nicht mit seinem Batterietornister bestückt, schließlich hatte es als harmloser Test begonnen, bei dem die mittlerweile auf einen Zeitraum von dreizig Minuten erweiterten internen Kapazitäten ausgereicht hätten.
"Sehr gut, lenk ihn weiter ab!" rief eine vertraute Stimme.
"Was glaubst du, tue ich die ganze Zeit über, Asuka?"
"Ha! Hab einen! Spinne am Spieß! Iek!"
Shinji warf sich herum, als er ihren Ausruf hörte.
Der rote EVA stand über einem Matriel, seinen Speer tief in dessen Eingeweiden. Allerdings steckte die Waffe fest - und tauchte gerade in seinem Rücken der dritte Matriel auf.
Asuka ließ den Speer los und sprang über den toten Matriel hinweg, rutschte auf einer Spur blauen Blutes aus, schlidderte direkt auf Einheit-01 zu.
"Shinji, aus dem Weg!"
"Kopf einziehen!"
"Was?"
Asuka befolgte die Anweisung intuitiv.
Und Shinji schoß.
- und traf.
In dem Moment, in dem der dritte Matriel explodierte, krachten die beiden EVAs zusammen, überschlugen sich und blieben im Schnee liegen.
"Argh..." machte Shinji und versuchte, sich aus den Sicherheitsgurten zu befreien, welche ihn im Sessel festhielten. Allerdings hing er mit dem Kopf nach unten im Sitz.
"Geh von mir runter!" rief Asuka. "Wenn der Matriel..."
"Ich habe keine Energie mehr."
"Weißt du eigentlich, wo dein EVA seine Hand hat? Der ist doch genauso pervers wie du!"
"Vernichtung aller drei Ziele bestätigt. Bergungstrupps sind unterwegs."
***
In der Zentrale verstummten die Sirenen.
Thomas betrachtete das Bild, welche die Außenbeobachtungskameras des Festungsringes übertrugen.
"Unsere glorreichen Piloten..."
"Immerhin haben sie die Matriels besiegt. Zu zweit gegen drei Feinde... da können sie sich ein bißchen Peinlichkeit erlauben, finde ich."
Kaji lachte.
Gendo rückte sein Headset zurecht.
"Shinji, bist du in Ordnung?"
"Ja, Vater..."
Im nächsten Moment zeigte der Hauptschirm die Innenansicht des EntryPlugs von Einheit-01.
"Ich hänge nur gerade etwas in der Luft."
"Das hast du sehr gut gemacht."
"Und was ist mit mir?"
"Du auch, Asuka. Wartet noch einen Moment, EVA-03 ist schon unterwegs, um euch aus eurer Lage zu befreien."
"Ah, nicht Touji-baka! Wer weiß, zu welchen Dingen dieser Perverse meine Notlage ausnutzt!"
Gendo schaltete den Funk ab und atmete auf.
"Das ist noch einmal gutgegangen."
"Ja... Aber wie konnte das Portal jetzt schon aktiviert werden?"
Thomas stand auf.
"Captain Aoba, was sagen die MAGI?"
"MELCHIOR, CASPAR und BALTHASAR sind sich uneinig, Sir."
"Und?"
"CASPAR geht von einem Fehler in unseren Berechnungen aus, während die beiden anderen Rechner mit einer Wahrscheinlichkeit von 98,99999999901% berechnet haben wollen, daß die Angeloi eine Möglichkeit gefunden haben, auf ihrer Seite die Sendeleistung der Gegenstation zu erhöhen... oh, jetzt schließt sich CASPAR den anderen beiden an. Sie berechnen gerade unseren neuen Zeitplan. Demnach schrumpft der Abstand zwischen den Aktivphasen des Portals auf vier Tage."
"Oh, verdammt... - Ikari, erarbeiten Sie mit dem Stab einen Alternativplan. Wir können uns nicht ausschließlich auf die EVAs verlassen. Major Kaji, wie sieht es mit den Kampfanzügen aus?"
"Die letzten Tests laufen noch, aber meiner Ansicht nach sind Doktor Takanawas neueste Basteleien ihr Geld wert."
"Gut, gut... Ich will ab sofort ständig ein paar Leute draußen haben, die mit N2-Granaten ausgerüstet sind. Die reduzierte Sprengkraft der Granaten stellt noch keine Gefahr für das Magnetfeld dar, sollte aber eine nette Ablenkung darstellen, falls wir Zeit schinden müssen."
"Ich gebe es weiter."
***
Vier Tage später wiederholte sich der Vorgang. Binnen weniger Minuten verdunkelte sich der Himmel und fuhren Blitze durch die Luft.
Die vier EVAs standen bereit, jeder mit einem Positronengewehr bewaffnet und einen noch deaktivierten PROG-Speer neben sich im Schnee steckend. EVA-02 trug sein Gewehr auf den Rücken und hatte stattdessen einen Raketenwerfer geschultert. Dazu führten sie die Rückentornister mit sich.
Die vier Einheiten hatten sich in etwa gleichen Abständen am Rand der Eisfläche verteilt. Hinter ihnen waren Panzerfahrzeuge aufgefahren, zwischen denen Soldaten in dicken Panzerungen standen, Miniaturversionen der Positronengewehre auf die Eisfläche gerichtet. An den Innenwandungen des Festungsringes waren Waffenläuffe ausgefahren und ausgerichtet worden.
Gendo Ikari setzte sein Fernglas ab. Er stand auf dem Dach eines Raupenfahrzeuges neben dem Gestützstand.
"Warum dauert das so lange?"
"Geduld..." versuchte Kaji ihn zu beruhigen.
"Es dauert wirklich lange..." murmelte Thomas und stieg aus dem Kommandofahrzeug, ging ein paar Schritte auf die Eisfläche zu.
"Was führt ihr im Schilde?"
***
Asuka schwenkte den Arm mit dem Raketenwerfer hin und her, suchte die Eisfläche vor ihr mit dem Zielerfassungsgerät ab.
"Ist das langweilig!"
"Beschrei´s nicht..." brummte Touji. "Mir ist es ganz recht, wenn keiner von den Kerlen auftaucht."
"Du bist ja auch ein Weichei, Suzuhara! Shinji und ich haben ihre erste Welle ganz allein plattgemacht, jetzt stehen wir zu viert hier und sie trauen sich nicht... hey, was ist das?"
"Was, Asuka?" mischte sich Shigens Stimme ein.
"Äh, Kommandant, ich kann die Stadt nicht mehr sehen!"
"Stimmt, das Eis ist völlig schwarz geworden."
Shinji riß die Augen auf.
"Uh... als würde ein großer Schatten..."
"Weg! Das ist ein Dirac´sches Meer!" schrie Rei...
***
"Ein Dirac´sches Meer..." echote Thomas. "Macht, daß ihr wegkommt!"
In diesem Augenblick schwappte die Finsternis über die theoretische Begrenzung der Eisfläche und fing die EVAs ein, zuletzt verschwand EVA-00, der sich rückwärts zu bewegen begonnen hatte.
"Nein! Rei!"
Der Kommandant rannte los.
"Kontakt zu den EVANGELIONs abgebrochen! Keine Signale, wiederhole keine Signale!" drang es aus dem Lautsprecher seines Headsets an sein Ohr.
Im Laufen streifte er die Handschuhe ab und warf sie fort.
"Kommandant, was haben Sie vor?" fragte Kaji über Funk.
"Es ist ein inverses Transportfeld... Vielleicht... vielleicht kann ich dem Feld die Energie entziehen, bevor..."
Damit verschwand auch er in der Schwärze, wurde einfach von ihr überrollt.
Die Dunkelheit löste sich kurz darauf auf... zurück blieb nur eine leere Ebene...
Gendo Ikari brüllte den Namen seines Sohnes...
