Kapitel 23: Ketzer


Das Gefühl, durch die Dunkelheit zu fallen und dabei herumgewirbelt zu werden, war derart übermächtig, daß es alle andere Gedanken verdrängte.

Zugleich stiegen lange versiegelte Erinnerungen auf, Erinnerungen, welche an der dünnen Schicht von Menschlichkeit, mit welcher er sich umgeben hatte, zerrten und sie langsam in Fetzen rissen...

Er war der Kriegsherr des Dreizehnten Schwarmes...

Er war der Waffenmeister der Imperatrix...

Er war Angeloi...

Er war Tabris...


In seiner Erinnerung, einer Erinnerung, welche mehr als zweieinhalb Jahrzehnte irdischer Zeitrechnung zurücklag, kniete er in der Kronkammer vor dem Thron der Imperatrix, den Blick gesenkt, nicht wagend, der Herrin der Angeloi ins Anglitz zu blicken.
Neben ihm auf dem blankpolierten Boden lag sein Khadja, die Klinge des Waffenmeisters. Der Boden war hart, dies spürte er sogar durch seine Körperpanzerung hindurch.

"Erhebe dich, Erstgeborener."
Die Stimme der Imperatrix war das Säuseln des Windes und das Donnern des Sturmes, er konnte sich ihr nicht widersetzen, und hätte sie ihm befohlen, sich in seine eigene Waffe zu stürzen, so wäre er diesem Befehl ohne zu zögern nachgekommen.

Mit dem gebotenen Respekt richtete er sich auf, hob langsam den Blick.
Neben dem Bernsteinthron der Imperatrix stand seine ältere Schwester, Sel, Schwarmmutter des Dreizehnten Schwarmes, Zweitgeborene der Imperatrix und nur wenige Minuten älter als er.
Doch die Unterschiede zwischen ihren Erscheinungen konnten nicht größer sein, während er ein Albino mit grauem Haar und roten Augen war, schlug bei ihr das alte Erbe der Menschen durch, wie ihr goldblondes Haar und die goldgesprengelten Augen zeigten.
Die Imperatrix selbst ähnelte ihrer ersten Tochter darin, daß auch sie kein Albino wie die meisten ihrer Abkömmlinge war, auch wenn ihr Kopf kahl war.
Ansonsten hielt sich niemand in der Thronkammer auf, weder Leibdiener noch Gardist.

"Ich habe euren Vorschlag gehört und überdacht. Ihr habt meinen Segen."

Kurz hielt er den Atem an, als er die Folgen dieser Worte bedachte.
Freiheit und Hoffnung für unser Volk...

"Die Entdeckung der Position der Ursprungswelt hat diese Entscheidung erforderlich gemacht. Wir, die Angeloi, die Verbannten des Himmels, stehen am Scheideweg. Durch die Entdeckung des künstlichen LCL benötigen wir schon seit Generationen nicht mehr die Lebenskraft anderer Wesen, doch die Legenden von der Welt der Lillim sind immer noch stark, die Erzählungen über die Kraft ihres Blutes... Sollen die Angeloi wieder in ein Zeitalter der Barbarei zurückfallen, indem sie die Lillim niedermetzeln, wie manche meiner Berater jetzt schon fordern, oder soll ich versuchen, unser Volk in eine neue Epoche zu führen...? Die Wahl ist gefallen."

"Ihr tatet das richtige, Imperatrix."

"Denkst du, Sel? Es bedeutet den Bruch uralter Traditionen."

"Überkommener Traditionen. Auch die Macht des Althergebrachten kann sich Veränderungen
nicht ewig widersetzen."

Die Imperatrix gab ein Zeichen der Zustimmung und wandte sich ihrem Erstgeborenen zu.
"Tabris, mit Wohlwollen habe ich die Ergebnisse deines Versuches beobachtet, den Gardisten der Kaiserlichen Leibgarde Freien Willen zu geben. Ich bin überzeugt, daß dies der nötige Funke sein wird, um unsere stagnierende Entwicklung herumzureißen."

"Ich verdiene Euer Lob nicht. Ich lebe, um zu dienen."

"Wenn morgen die zweite Sonne über der Kronkammer im Zenit steht, werde ich meine Entscheidung verkünden... und das Szepter Sel übergeben, damit sie unser Volk in die Zukunft führen kann."

Sel keuchte.
"Majestät, das... ich bin nicht die älteste der Schwarmmütter..."

"Aber die vorausschauenste von ihnen. Wie du sagtest, es ist Zeit, mit den Traditionen zu brechen. Ich wünsche nicht, daß wenn ich vergehe, meine Kinder mir folgen werden, wenn Sal, meine Erstgeborene, den Thron besteigt. Bereite dich vor, Tochter."

"Ich... ich höre und gehorche."
Sel verneigte sich tief, verließ dann die Kronkammer, gefolgt von ihrem Kriegsherren.
"Ich kann es kaum glauben..."

"Jetzt wird sich für unser Volk die Zukunft öffnen", flüsterte Tabris.


***


"Ihr wollt mich also um mein Erbe betrügen, Mutter..."

Die Imperatrix blickte auf, sah in das Gesicht ihrer Erstgeborenen, deren Miene von Haß und Zorn verzerrt war, hörte ihre Stimme, die vor Gift tropfte. Spürte die Klinge, die sich in ihre Brust bohrte...
"Sal..."

"Ich kann das nicht zulassen, Majestät", flüsterte Sal, Schwarmmutter des Ersten Schwarmes mit honigsüßer Stimme, während die Herrscherin der Angeloi auf ihrem Bernsteinthron zusammensackte.
Sie richtete sich auf, strich ihr flammendrot-blondes Haar zurück und nickte ihren Mitver-schwörern zu.
"Verbreitet die Nachrich: Die Imperatrix Lilith ist tot, es lebe die Imperatrix Sal!"


***


Und damit begann der zweite Bürgerkrieg in der Geschichte der Angeloi. Der erste hatte sie die Ursprungswelt gekostet, der zweite sollte sie die Zukunft kosten...

Auf der einen Seite standen die Zeruels des Dreizehnten Schwarmes, die Elitekrieger des Reiches, doch klein an der Zahl, unterstützt durch eine Handvoll Schöpfungen der Wissenschaftler des Achten Schwarmes unter dessen Obersten Laboranten. Auf der anderen Seite stand... der gesamte Rest der Angeloi...

Sel, Tabris und sein jüngerer Bruder Armisael hatten sich im Gebäude des Großen Portales verschanzt. Seit drei Tagen tobten die Kämpfe, kamen die Truppen der neuen Herrscherin näher und näher.
Die Tradition verlangte, daß alle bisherigen Schwarmmütter und ihre Kriegsherren, Obersten Assistenten, Aufseher, oder wie sie gerade hießen, der Imperatrix in den Tod folgten, damit niemand die Herrschaft der neuen Schwarmkönigin anzweifeln konnte.

"Sil ist gefallen", Armisaels Stimme klang dumpf und traurig. Seine Augen leuchteten nicht mehr.

"Ich bedaure den Tod der Mutter des Achtes Schwarmes", sprach Tabris die traditionellen Worte.

Einer der Zeruel-Gardisten, welche die Perimeter des Portal-Zentrums bewachten, näherte sich ihnen und ging in die Knie, damit er sie nicht allzu sehr überragte.
"Kriegsherr, unsere letzten Verteidigungslinien wurden durchbrochen. Ich rate Euch zur Flucht."

Tabris umklammerte den Schaft seines Khadjas, preßte die Lippen zusammen.
Alle Träume zerbrochen... Sal, du besteigst den Thron über das Blut und die Hoffnungen unserer Art...
"Armisael, ist das Portal bereit?"

"Ja, Bruder."

"Gut, dann geh mit Sel hindurch."

"Nein. Ich bleibe hier."

"Armisael..." zischte er.

"Ich bin nur ein Forscher. Die Schwarmmutter benötigt jedoch den Schutz eines Kriegsherren. Die Logik gebietet es, daß ich hierbleibe und du gehst."

"Ja..."
Er sah sich noch einmal um.
"Armisael, eines Tages werde ich zurückkehren. Ich weiß, daß ich unter den Sternen der Schwarmwelt sterben werde..."
Dann wandte er sich dem Zeruel zu, flüsterte den Namen, den er ihm gegeben hatte.
"Höre, Ishmael, treuer Freund... unsere Krieger sollen sich zurückziehen. Sie sollen sich verbergen unter den Schwarmlosen und unter den Schwärmen der Arbeiter. Ihr habt mein Wort, daß ich zurückkehren werde..."

"Wir werden auf Euch warten, mein Kriegsherr."

"Gut. - Armisael, geh mit ihnen."

"Auch das ist mir nicht möglich. Ich werde hinter euch das Portal versiegeln und dafür sorgen, daß euch so schnell niemand folgt. Jetzt liegt die Zukunft unseres Volkes in deinen Händen... vor langer Zeit wurde prophezeit, daß der Kriegsherr des Dreizehnten Schwarmes das Fanal des Krieges entfachen wird. Ich glaube, daß du es sein wirst, dem diese Aufgabe anheimfällt. Geh..."

Und Tabris trat durch das Portal, folgte seiner Schwester.


***

Er fand sich inmitten einer weißen Einöde wieder. Sein AT-Feld schützte ihn vor Kälte und Wind.
"Dies ist also die Ursprungswelt... diese Einöde..."

"Urteile nicht vorschnell. Es ist überliefert, daß unsere Vorfahren sich in ein unwirtliches Gebiet zurückzogen, um dem Zorn der anderen Lillim zu entgehen."

"Ja. Schwester... Schwarmmutter... ich gebe dir mein Wort, daß ich zur Schwarmwelt zurückkehren und den Thron für dich zurückerobern werde.."


***


Heute:

Zurückerobern... ja...
Die Erinnerung machte seinen Träumen platz, in denen er an der Spitze einer Armee von EVANGELIONs zum Sturm auf die Kronkammer ansetzte...
Alles verloren... zu früh, viel zu früh...

Und die Finsternis wich...

Die Gegenstation des Portales befand sich in einem gewaltigen Kuppelbau, der für die größten unter den Zeruels und Satchiels gebaut worden war. Der Himmel der Kuppeldecke lag in einer Höhe, die für das menschliche Auge nicht mehr begreifbar war.

Auch hier gab es eine zwei Meilen durchmessende Fläche, welche das eigentliche Portal darstellte, nur bestand sie aus blankem Metall.

Thomas öffnete mühsam sein Auge. Er schmeckte Blut auf der Lippe, wo er sich während des Transfers gebissen hatte.
Aus seinem Funkempfänger drang ein leises Stöhnen.
"Kann mich jemand hören? Die Angeloi haben uns auf ihre Welt geholt, hört ihr? Sind die EVAs einsatzbereit?"

"Negativ, Kommandant. Die Batterien haben sich entladen."

Rei...
Er sah sich um, sah die ersten riesenhaften Gestalten mehrerer Satchiels näherkommen, während die EVAs am Boden lagen und sich nicht rührten.
"In Ordnung..."
Was tun...? Ein Fehler und ihr Blut klebt an meinen Händen...
"...ich werde ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken. Keine Antwort, wahrt die Funkstille! Ihr handelt ab sofort nach eigenem Ermessen, versucht zunächst, zu entkommen. Überleben hat Priorität. Dann versucht, euch zur Portalsteuerung durchzuschlagen und zur Erde zurückzukehren. Viel Glück... Tochter..."
Das letzte Wort flüsterte er leise.
Er lächelte verzerrt, als er sich das Headset herunterriß und achtlos fortschleuderte.
Sein Auge begann zu leuchten, bis schließlich die Kontaktlinse einfach zerbrach. Um seine geballten Fäuste bildeten sich Lichtauren.
Lachend rannte er den Angeloi-Kriegern entgegen.
"Ich bin Tabris! Ich bin zurückgekehrt!"


***


Der Kampf war kurz und verdiente diese Bezeichnung eigentlich nicht. Ein engmaschiges Metallnetz fiel auf den NERV-Kommandanten herab und warf ihn bewegungsunfähig zu Boden.
Ein Satchiel hob das Netz auf und trug es davon, während andere die gefallenen EVANGELIONs umstanden, ratlos, was sie mit ihnen anfangen sollten.

Ihr kommandierender Kriegsherr, ein Albino mit roten Augen und grauem Haar, kam hereingeschwebt, bedachte den Gefangenen im Netz mit einem verachtenden Blick.
"Tabris, also... Die Imperatrix wird sich sicher freuen, über dich zu richten, Verräter."

"Du bist von ihrer Brut", antwortete Tabris dumpf grollend in der Sprache seines Volkes.

"Ja. Armisael vom Dritten Schwarm."

"Du entehrst seinen Namen..."

Der andere lachte nur.
"Und das sagt mir ein Schwächling wie du... dein Licht ist bereits fast verloschen, sei froh, wenn die Imperatrix dir die Gnade des Todes gewährt."
Er blickte in Richtung der EVAs.
"Und was ist das? Sie tragen die Signatur von Kriegsherren, verwirren meine Soldaten. Welches Sakrileg ist das, Tabris?"

"Eine Waffe..."

" - Die nicht funktioniert, wie ich sehe... soll sich der Achte Schwarm um sie kümmern."
Auf sein Zeichen hin hoben die Satchiels die EVAs auf und warfen sie sich über die Schultern, um sie besser davontragen zu können.
"Und diesen hier", wies er den Soldaten mit dem Netz an, "bringe ihn zur Kronkammer..."


***


In Ketten wurde Tabris der Herrscherin vorgeführt. Seine Bewacher waren menschengroße Satchiels. Ein Tritt in die Kniekehlen brachte ihn dazu, die Knie unfreiwillig zu beugen.

"Sieh an, sieh an... der verlorene Sohn ist heimgekehrt..."

Er warf den Kopf in den Nacken, erhielt sofort einen Schlag gegen den Hinterkopf.

"Laßt ihn, soll er mich ansehen, es wird ohnehin nicht mehr viel geben, das ich ihm zu sehen erlaube."
Sal hatte sich kaum verändert, angesichts der durchschnittlichen Lebenserwartung eines adligen Angeloi von etwa vier Jahrhunderten keine allzu große Überraschung. Sie saß auf dem Bernsteinthron, gekleidet in die Roben der Schwarmkaiserin.
"Nun, Tabris, hast du mir gar nicht zu sagen?"

"Nein..."

"Oh, keine Racheschwüre? Kein Aufruf zur Rebellion? Ich kenne die Worte, welche du vor deiner Flucht an deine Anhänger gerichtet hast. Und wie hat sich deine Rückkehr gestaltet - ich war selbst überrascht, daß du noch am Leben warst. Und im Bunde mit den Lillim, offensichtlich. Wieso bist du zum Verräter an deinem Volke geworden? Den Verrat an mir konnte ich noch verstehen, wir standen uns nie sehr nah..."

"Ich wußte damals schon, welch falsche Schlange du bist."

"Oh... Ich habe sogar im Gedenken an unsere Mutter ihren Namen angenommen. Sal-Lilith, wie klingt das?"

Er lachte, lachte, bis ihn ein weiterer Schlag zum Verstummen brachte.
"Wer hier der Verräter ist, ist recht subjektiv, nicht wahr? Unser Volk benötigt die Lebenskraft der Lillim nicht mehr..."

"Nein, aber wir benötigen einen Sieg, die Rückeroberung der Ursprungswelt, um zu alter Größe zurückzugelangen."

"Deshalb willst du ein ganzes Volk vernichten? - auf dem Altar deiner Eitelkeit?"

"Offenbar hat dich die Zeit unter den Lillim weich gemacht..."

Er lächelte.
Und sprengte seine Ketten...

Ein Sicheltritt beförderte den ihm am nächsten stehenden Satchiel zu Boden, veranlaßte ihn, sein Zeremonien-Khadja loszulassen. Tabris sprang auf, ergriff die Waffe, wirbelte sie herum, daß die Klingen hervortraten. Sein Auge glühte heller als zuvor.
"Großer Fehler... ich bin der Waffenmeister!"
Mit weiten schwungvollen Bewegungen hieb er auf die Gardisten ein, zerteilte einen Satchiel fast genau in der Mitte mit den Progressiv-Klingen des Khadja, trennte einem anderen den Arm aber, schickte zwei weitere zu Boden, entwaffnete einen fünften, trieb dem nächsten die Sichelklinge in den Leib.
"Ich wurde schon trainiert zu töten, lange bevor du deine Reifungskammer verlassen hast, Sal..."
Ein Salto rückwärts brachte ihn aus der unmittelbaren Reichweite weiterer Gardisten.

Eine Gasse hatte sich gebildet, die im Zickzack direkt zum Thron führte.

Ein weiterer Satchiel fiel unter seinen Hieben.
"Schlechte Wahl... Zeruels sind seit jeher die besseren Leibgardisten... halten einfach mehr aus..."
Der Mensch in ihm war fast völlig verschwunden, war verdrängt worden von der Hitze des Kampfrausches und dem Heulen des alten Blutes.

Ein rasche Klinge traf sein Bein, trennte es auf Höhe des Knies ab.
Es kümmerte ihn nicht, er schwebte einfach weiter, ritt auf dem raschen Rhythmus seines Herzens, welches von den uralten Kriegsliedern seines Volkes begleitet zu werden schien. Eine schnelle Drehung und das vogelartige Gesicht des Angreifers war nicht mehr.

Nur noch wenige Satchiel befanden sich zwischen ihm und dem Thron.

Sal-Lillith rührte sich nicht, sah ihn nur an.

Und dann traf ihn das aus ihren Augen hervorschießende Leuchten.
In seinem Kopf hub ein tausendstimmiger Chor zu einem konzentrationzerschmetternden Hallelujah an.
Tabris hielt inne, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Sein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei, während er seine Waffe fallen ließ und die Hände gegen die Ohren preßte, bevor er langsam zu Boden sackte und das Leuchten seines Augen erlosch.

Ein stilles Lächeln umspielte die Lippen der Imperatrix.
"Und glaubtest du, ich hätte keine Vorkehrungen getroffen? Wie immer, Tabris, deine Hoffnungen bedeuten deinen Fall..."

Ein massiger Satchiel baute sich über dem gefallenen Krieger auf, packte seinen Kopf an den Haaren und zerrte ihn in die Höhe, blickte seine Herrscherin erwartungsvoll an.

"Was jetzt, Tabris? Ein Wort von mir, und mein Gefolgsmann zerfetzt deinen Schädel. Das Feld deiner Seele ist so schwach geworden, daß er nicht einmal seinen Vernichtungsstrahl einsetzen muß, bloße Kraft sollte genügen..."
Sie lachte.
"Bring ihn her... er stellt keine Gefahr mehr da..."

Gehorsam schleppte der Satchiel den schlaffen Körper zum Thron heran, nachdem er sichergestellt hatte, daß das Khadja außer Reichweite des Gefangenen war.

Sal-Lillith erhob sich. Mit einer fast zärtlichen Geste strich sie Tabris über das angeschwollene Gesicht, entfernte dann in einer rasche Bewegung die Augenklappe, lächelte beim Anblick der leeren Augenhöhle - und trieb ihren Daumen hinein.

Ein Zucken ging durch Tabris´ Körper, während Sal den Kopf zurückwarf.
"Was weißt du? Wie sind die Lillim vorbereitet? Wie steht es um ihre Verteidigung?"
Bilder zuckten vor ihrem geistigen Auge dahin.

Die endlose Weite der Antarktis... die Städte der Menschen... ein nächtliches Wettrennen über die Dächer einer Stadt der Lillim mit Namen Kyoto... ein brennendes Haus... Menschen... Namen... Deiko... Midori... Miguel... Ritsuko... Seléne...

"Ah, meine abtrünnige Schwester existiert also auch noch..."

Die PROMETHEUS... Doktor Takanawas Gen-Schmiede...

"Künstliche Kriegsherren, erschaffen aus deinem Blut... deshalb waren die Soldaten so verwirrt..."

Gendo Ikari... die Piloten... Shinji... Asuka... Touji... Rei...

Mit einem Aufschrei unterbrach Sal-Lillith den Kontakt.
"Wie... wie konntest du es wagen... wie konntest du imperiales Angeloi-Blut mit dem der Lillim vermischen..."
Taumelnd kehrte sie zu ihrem Thron zurück, ließ sich fallen.
"Bringt ihn fort! Bringt ihn in die tiefste Ebene des Dogma, bringt ihn weg!"
Sie preßte die Hände gegen den Kopf, beobachtete nicht, wie zwei Satchiels Tabris fortschleiften.

Irgendwann hob sie wieder den Kopf, betrachtete ihre starr dastehenden Gardisten und Höflin-ge.
"Ruft das Oberste Gehirn des Fünften Schwarmes und den Ersten Laboranten des Achten Schwarmes, ich habe Aufträge für sie."


***


Die EVAs landeten auf riesigen Tischen in einem großen unterirdischen Raum. Die Satchiels, welche sie hergebracht hatten, verließen den Raum wieder.

Shinji wagte erstmals wieder tief einzuatmen. Die Optik von EVA-01 zeigte ihm keine anwe-senden Angeloi.
Über sein Armbandgerät nahm er Kontakt mit den anderen Piloten auf.
"Asuka, Touji, Rei, seid ihr in Ordnung?"

"Ja." erwiderte Rei.

"Geht so." kam es von Touji.

"Mir würde es viel besser gehen, wenn sich das blöde Ding bewegen würde!" schimpfte Asuka.

"Uhm, was machen wir jetzt?"

"Ihr habt doch die letzten Anweisungen des Kommandanten gehört, wir sollen uns zum Portal durchschlagen und zur Erde zurückkehren."

"Ja, klar, Suzuhara, das ist ja auch so einfach. Wir sind in einer Welt von Riesen gestrandet, fragen wir einfach den nächsten, wohin wir gehen müssen... ich denke, wir sollten zunächst zusehen, daß die EVAs wieder Energie haben."

"Und wie, Asuka?" fragte Touji gereizt.

Shinji probierte es ein letztes Mal mit der Steuerung, schnallte sich dann los und kletterte in den hinteren Bereich der Kapsel.
"Ich verlasse jetzt EVA-01."

"Vergiß die Notausrüstung nicht."

"Ja, danke, Rei."
Er öffnete die Rückenlehne des Sitzes und zog das Paket mit der Ausrüstung heraus, dann evakuierte er den EntryPlug manuell.


***


Wenige Minuten später befanden sie sich alle auf dem Boden des Raumes, Rei war die letzte, welche zu ihnen stieß, dabei ihr Seil aufrollend, mit dem sie sich vom Tisch abgeseilt hatte, das Ausrüstungspaket wie die anderen am Trageriemen geschultert.

Schritte wurden laut.

"Da kommen welche."

"Das habe ich auch schon mitbekommen, Suzuhara!"

"Asuka, jetzt nicht, los, da hinein!"

Sie krochen in eine Ritze in der Wand, die sich zu einem größeren Hohlraum ausweitete.

"Hoffentlich gibt es hier keine übergroßen Mäuse", murmelte Asuka.

"Wieso, hast du davor Angst?"

"Nein, Suzuhara. Ich würde eine erledigen, häuten und zum Abendessen grillen - aber Maus soll nicht toll schrecken, sagt jedenfalls meine Oma."

"Die Frau mit der Soryu-Technik?"

"Ah, hat Hikari dir etwa davon erzählt?"

"Shhh!" machte Rei und deutete nach draußen.

Zwei Satchiels hatten sich neben dem Tisch, auf dem EVA-03 lag, aufgebaut, einen Rolltisch zwischen sich, und gaben schnatternde Laute von sich.

Touji und Asuka verzogen die Gesichter.
"Oh, das geht ja voll auf die Füllungen..."

Shinji kam die Sprache bekannt vor, noch bekannter war allerdings der stechende Schmerz, den die Worte zu hören allein schon genügte, um hinter seiner Stirn aufzutreten.
"Rei..."

"Ja."
Sie nickte nur, um seine Vermutung zu bestätigen.

Einer der Angeloi hob ein überdimensionales Skalpell vom Tisch und wandte sich dem EVA zu.

"He, was machen die mit meinem EVA!"

"Sie wollen ihn sezieren."

"Das... das müssen wir verhindern!"

"Wie denn?"
Shinji hielt Touji zurück.
"Asuka könnte sie zwar gegen die Füße treten, aber das würden sie wohl kaum bemerken."

"Darüber reden wir, wenn wir wieder daheim sind", versprach die Rothaarige.

"Aber... wir können doch nicht einfach zusehen..."

"Nein. Wir gehen."
Rei kroch tiefer in den Spalt hinein.
"Unser Überleben hat den Anweisungen des Kommandanten nach Priorität."
In ihren Gedanken hallte das letzte Wort nach, das sie von ihm gehört hatte.
Tochter... wie hat er das nur gemeint...?


***


Sal-Lillith blickte auf die Gestalt in der Reifungskammer.
"Perfekt."

Der Erste Laborant des Achten Schwarmes verneigte sich.
"Zuviel des Lobes. Es war einfach, den Klon zu erschaffen. Allerdings, ihr wißt, wenn ich ihn jetzt, nach nur drei Tagen, aus der Reifungskammer entlasse, werden seine Zellen schon in Kürze zu degenerieren beginnen. Wenn man dann noch das beschleunigte Wachstum in Betracht zieht und die besonderen Spezifikationen..."

"Mein Lob war wohl vorschnell..."

"Nein, nein, der Klon wird Euren Anforderungen vollkommen nachkommen, Imperatrix..."

"Er muß gar nicht lange leben, nur lange genug, um die Verteidigung der Lillim auszuschalten. Sie haben den Fehler gemacht, ihr Vertrauen in Tabris zu setzen, der Doppelgänger wird leichtes Spiel haben, sobald wir ihn zurückgeschickt haben."

"Ihr seid so weise, Imperatrix." wisperte das Oberste Gehirn des Fünften Schwarmes, welches neben Sal-Lillith schwebte.

"Natürlich."

"Das zweite Portal erreicht in wenigen Stunden den Zielpunkt."

"Ich weiß. Sicher sind die Schiffe schon bereit, oder?"

"Selbstverständlich, Imperatrix. So, wie Ihr in Eurer grenzenlosen Voraussicht befohlen habt..."


***


"Seit fünf Tagen sind wir jetzt schon unterwegs und haben die Oberfläche immer noch nicht erreicht..." murrte Asuka und warf einen leeren Beutel fort, in dem sich Wasser befunden hatte.

Die vier waren verschwitzt und schmutzig nach vier Tagen im Untergrund der Schwarmwelt. Ihre PlugSuits wiesen zahlreiche Flecken und Risse auf.

"Wir haben noch Vorräte für zwei Tage", kommentierte Touji die Lage. "Wo sind deine gebratenen Riesenmäuse, Asuka? Mein Urgroßvater meinte nämlich immer, Maus würde wie Hühnchen schmecken..."

"He, Rei, weißt du überhaupt, in welche Richtung wir unterwegs sind?"

"Nein."

"Argh! Und wie willst du dann wissen, daß wir nicht im Kreis laufen?"

"Ich weiß es."

"Hrrrph. Sie weiß es... Wahrscheinlich wird man irgendwann in ferner Zukunft mal auf unsere blanken Knochen stoßen, wenn die Angeloi mal wieder etwas anbauen wollen..."

"Asuka, vertrau ihr."

"Warum, Baka-Shinji? Das... Hey, warum bleibst du stehen?"
Fast wäre sie in ihrem Vordermann hineingelaufen, warf rasch einen Blick über die Schulter, um sicherzustellen, daß Touji respektvollen Abstand wahrte.

"Seht mal..." flüsterte Rei.
Sie steckte halb in einem Riß in der Wand, einem von vielen, die sie in den letzten Tagen passiert hatten. Und dann verschwand sie ganz darin.

"Rei..."
Shinji schluckte und folgte ihr.

Asuka seufzte.
"Baka-Shinji, kriecht jedem Rock hinterher..."
Dann kroch auch sie in den Spalt, gefolgt von Touji.

Sie fanden sich am Rand eines großen Becken wieder, das mit einer rosa-schleimigen Flüssigkeit gefüllt war.

"Was ist das?" stellte Asuka die Preisfrage.

"Proto-LCL."

"Alles klar, Rei. Und was sollen wir damit?"

"Nahrung."

"Was, das Zeug kann man essen?"

"Ja."
Rei kniete sich hin und holte die leeren Beutel aus ihrem Rucksack, welche sie nach den Rastpausen eingesammelt und aufbewahrt hatte, und begann, sie mit der rosafarbenen Flüssigkeit zu füllen.

"Also, das Zeug esse ich nicht..."
Asuka verzog das Gesicht.

"Und ich dachte, in der Not ißt der Teufel sogar Fliegen."

"Schnauze, Touji! Oder ich schubse dich in die Pampe!"

Shinji deutete in die Tiefen der Halle, in der sie sich befanden, hinein.
"Ähm, ich glaube, da kommt wer!"

"Was? Ach, du..."

Vor ihnen wuchs ein Zeruel in die Höhe...

"Lauft!" schrie Touji. Im nächsten Moment erkannte er, daß der Angeloi ihren Fluchtweg mit einem Fuß versperrte.

Die vier standen wie erstarrt.

Dann geschah es...

Der Zeruel ging in die Knie. Ein Peitschenarm schoß vor, an dessen Ende sich zahllose kleine Tentakelfinger befanden, mit denen er die Kinder einfach aufsammelte und dann in die Höhe hob.

"Was haben wir denn da?" hallte es in Reis Kopf wieder...


***


Die Techniker-Matriels des Achten Schwarmes eilten in der Portalskammer hin und her.

Mitten auf der Transportplattform stand eine einzelne winzige humanoide Gestalt mit blau-schwarzem Haar und einem einzelnen Auge, während das andere unter einer Augenklappe verborgen war.

Neben ihm schwebte das Oberste Gehirn des Fünften Schwarmes.
"Du kennst deine Anweisungen, Bardiel-8."

"Ja, Oberstes Gehirn."

"Etwas mehr Leben in die Stimme..."

"Ja."

"Wiederhole die Befehle der Imperatrix."

"Die Lillim infiltrieren. Verwirrung stiften. Das Portal auf den Empfang unserer Invasionsstreitmacht vorbereiten. Die Waffe namens NIMROD neutralisieren."

"Sehr gut. Wenn du überlebst, wird dir größter Lohn gewiß sein."

"Ich lebe, um zu dienen."

"Ja..."
Das Oberste Gehirn schwebte fort, zu den Schaltanlagen hinüber.

Zwei Satchiels erschienen in der Halle, warfen die zerstückelten Überreste von EVA-00 und EVA-03 auf die Transportfläche.

"Das sollte überzeugend sein..." murmelte der Bardiel, welcher den Infiltratoren des kleinen Fünften Schwarmes vorstand. "Schickt sie zurück."

Das Portal nahm die Arbeit auf...


***


Im Kommandozentrum der Festungsstadt Antarktica fuhr ein übernächtigter Gendo Ikari herum, als Captain Shigeru Aoba ein Ansteigen der Portalaktivität meldete.
"Es geht los..."
Er rannte zu nächsten Aufzug, überprüfte im Laufen seine Waffe, aktivierte dann sein Headset.
"Alle Einheiten auf Position!"


***


Ein blendend heller Blitz zuckte über die Eisfläche.

Die versammelten Streitkräfte warteten, die Waffen feuerbereit.
Über Bastion Alpha schwebte die PROMETHEUS.
Mehr als ein Soldat hielt den Atem an...

Es war nicht die erwartete Invasionsstreitmacht.

Auf der Eisfläche waren die Überreste mehrerer EVANGELIONs aufgetaucht, Gendo identifizierte EVA-00 anhand der ocker-weißen Panzerplatten, welche zwischen den organischen Überresten lagen, zählte zwei weitere Arme, ehe er auf die Gestalt im Zentrum der Fläche aufmerksam wurde, die nun langsam zusammenbrach.
"Wir brauchen ein Medo-Team! Der Kommandant ist zurück!" brüllte Colonel Ikari in sein Funkgerät. Doch in Wirklichkeit galt seine Sorge allein seinem Sohn...


***


"Ich übernehme ihn ab hier!"
Deiko Tamakura schickte die Sanitäter fort, welche Thomas gerade auf die Krankenstation bringen wollten.

Der Kommandant von NERV hockte in einem Rollstuhl, gerade tauchten Gendo Ikari und Ritsuko Akagi auf.

"Na, toll..." murmelte Deiko. "Thomas, was ist passiert?"

Der andere sah sie seltsam an, fuhr sich dann mit der Zungenspitze über aufgesprungene Lip-pen.
"Eine Falle... die Angeloi haben mich auf ihre Welt geholt..." flüsterte er erschöpft.

"Und dann?"
Sie bedeutete Gendo und Ritsuko zu schweigen.

"Flucht... ich war tagelang unterwegs, ehe ich die Verfolger abschütteln und wieder zum Portal gelangen konnte."

"Und die EVAs?"

"Wurden zerstört."

"Nein!" schrie Ritsuko. "Was ist mit den Piloten? Was ist mit Rei?"

Thomas blinzelte.
"Piloten?"
Er wirkte überrascht, fing sich aber schnell wieder.
"Sie sind tot."

"Was?"
Gendo riß die Augen auf.

Ritsuko brach weinend zusammen.

"Thomas..." flüsterte Deiko.
Wie kalt er ist... was hast du gesehen, Großer Bruder?
Sie wußte ja nicht, wie falsch sie lag, wußte nicht, daß sein abweisendes Verhalten nicht damit zusammenhing, daß er möglicherweise seine einzige Tochter hatte sterben sehen, daß es gar nicht Thomas Shigen war, der vor ihr saß...


***


"Und du fühlst dich wieder besser?"

Thomas wischte Deikos besorgte Frage mit einer Handbewegung fort.
"Ich tue, was ich tun muß."
Damit betrat er die Holokammer, wechselte scheinbar in das Hauptquartier der Vereinten Nationen über, trat vor die holographischen Projektionen des UN-Sicherheitsrates.

"Wir sind froh, Sie wohlbehalten wiederzusehen, Kommandant Shigen."

"Danke. Die Freude ist ganz meinerseits."
Kein Muskel rührte sich in seinem Gesicht.

"Angesichts des Verlustes der EVAs dürften Sie nicht viel Zeit haben. Wir sollten uns daher beeilen."

"Wie Sie wollen."

"Treten Sie bitte vor in den Kreis."

Er tat, wie ihm geheißen. Sein Standpunkt wurde von einem Lichtreif umgeben.

"Thomas Shigen, Kraft Beschlusses der Vereinten Nationen vom heutigen Tag ernennen wir Sie zum Marschal der irdischen Streitkräfte. Akzeptieren Sie die Ernennung?"

"Ja."

Leiser Beifall kam auf, als rund um den Lichtreif ein Flaggensymbol nach dem anderen aufleuchtete, bis schließlich jeder Repräsentant der Mitgliedsstaaten der UN die Wahl des Rates bestätigt hatte.

"Marschal Shigen, Ihre Aufgabe ist es, die Erde gegen eine Invasion der Angeloi zu verteidigen. Unser aller Hoffnungen liegen auf Ihnen."

"Ich werde Sie nicht enttäuschen." antwortete Thomas und lächelte...