Kapitel 25: NIMROD
"Geht das nicht schneller?"
Ritsuko Akagi war nahe daran, selbst die Steuerung des VTOL zu übernehmen.
"Doc, wenn Sie nicht aufhören, können Sie das Cockpit verlassen", knurrte Shigeru Aoba.
"Aber uns läuft die Zeit davon. Und der Stop zum Auftanken in Australien hat ihren Vorsprung nur noch vergrößert!"
"Von wegen - ich habe Ihnen doch gesagt, daß der Marschal ebenfalls auftanken mußte. Wir liegen sehr gut in der Zeit."
Aoba starrte finster geradeaus.
Der Senkrechtstarter, den sie benutzten, jagte auf Autopilot mit Maximalgeschwindigkeit über den Wolken über dem Pazifik hinweg, näherte sich Japan. Vor wenigen Stunden waren sie vom NERV-Festungsstützpunkt Antarktica aufgebrochen, einem furchtbaren Verdacht folgend.
Vor einigen Minuten hatten sie über Funk auf der ausschließlich von NERV benutzten Frequenz erfahren, daß eine Invasionsstreitmacht der Angeloi über das Portal eingetroffen war. Seitdem herrschte Stille. Antarktica antwortete auf keinen der Funkrufe.
Dafür herrschte Chaos auf den meisten anderen Funkfrequenzen - die Nachricht von einer ausserirdischen Invasion war irgendwie durchgesickert. In vielen Städten herrschte der Ausnahmezustand und waren die Nationalgarden unterwegs, um Aufstände und Ausschreitungen einzudämmen.
"Wahrscheinlich folgen wir einem Hirngespinst..." murmelte der Captain. "Ich sollte im Stützpunkt sein, bei meinen Kameraden."
"Glauben Sie wirklich, das würde einen Unterschied machen? Entweder hält Colonel Ikari die Invasion auch ohne die EVAs auf, oder wir erfahren früh genug, daß die Festung gefallen ist. Wenn aber Ihr Marschal in Wirklichkeit ein Agent des Feindes ist, müssen wir ihn davon abhalten, das tokioter Hauptquartier zu betreten."
Ritsuko hatte Mühe, sich zu beherrschen.
Der Mann, von dem sie sprachen, war Thomas Shigen, Kommandant der UN-Organisation NERV, und seit einem Tag Marschal der Streitkräfte der Erde. Und er hatte den Festungsstützpunkt am Südpol verlassen, bevor die Invasion begonnen hatte.
Akagi war felsenfest davon überzeugt, daß der Mann, welcher ihr die Nachricht vom Tod ihrer Tochter überbracht hatte, in Wirklichkeit ein vom Feind eingeschleuster Infiltrator war. Und zugleich war diese Überzeugung die Hoffnung, an welche sie sich verzweifelt klammerte, die Hoffnung, ihre Tochter Rei könnte noch am Leben sein.
"Ich gehe jetzt in den Landeanflug."
Captain Aoba klang äußerst unzufrieden. Auf Befehl Colonel Gendo Ikaris, der ihn für diese Mission abkommandiert hatte, mußte er absolute Funkstille wahren, konnte also nicht einmal ihre Ankunft beim Hauptquartier ankündigen.
"Wo wollen Sie landen?"
"Mitten in der Stadt... in der Nähe eines Zuganges zum Geosektor."
"Gut."
Sie verlagerte ihr Gewicht im Sitz, spürte den harten Griff der Pistole, welche sie vor dem Aufbruch von Ikari erhalten hatte, in ihr Kreuz drücken...
*** NGE ***
EVA-01 ließ sich auf alle Viere nieder.
Die beiden Kinder im EntryPlug spürten das harte pockennarbige Gestein, aus dem die Schwarmwelt bestand, als wären es ihre eigenen Fingerknöcheln, die sich in den Staub der Oberfläche des kleinen Mondes bohrten.
Vor EVA-01 lag eine Strecke von vielleicht einhundert Metern, die für den Anlauf genügen mußte. Dahinter erstreckte sich eine für planetengebundene Lebewesen unvorstellbare Leere, die Leere des Alls, denn die Oberfläche der Schwarmwelt endete dort in einer zackigen Bruchstelle.
"Los..." flüsterte Shinji und verkrampfte die Finger um die Steuerung.
Reis Hände lagen auf den seinen und es war ihm, als floßen von ihr Kraft und Zuversicht auf ihn über.
EVA-01 startete durch, dicht gefolgt von EVA-02.
"Der Abgrund ist so weit..." stieß der Junge hervor. "Wir müßten fliegen können..."
"Vertrauen." versuchte Rei ihn zu bestärken. "Du schaffst es!"
Seine Daumen schwebten über den Aktivierungsknöpfen der Jetpacks.
Shinji konzentrierte sich ganz auf den Sprung, völlig auf das Ziel.
Das Ziel, das war eines der bienenkorbähnlichen Invasionsschiffe der Angeloi-Flotte, welche gerade im Begriff war, das Schwerefeld der Schwarmwelt zu verlassen und einen dunklen Wirbel anzusteuern, der laut Kaworus Abschiedsbotschaft zur Erde führen sollte.
Sie sollten verhindern, daß die Angeloi die Erde erreichten und unter den Menschen ein Blutbad anrichteten. Vier Kinder, denen nur zwei übermenschengroße biomechanische Lebensformen des EVANGELION-Programmes zur Verfügung standen...
Shinji spürte ein Jucken zwischen den Schulterblättern, bemerkte aus den Augenwinkeln, daß sich etwas auf Reis Rücken unter der PlugSuit bewegte, daß sich dort zwei kleine Beulen ausformten.
"Rei..."
"Es funktioniert. Der EVA aktiviert den Anpassungsmodus!"
Und EVA-01 wuchsen Flügel, gewaltige purpur-grüne Engelsschwingen.
Im nächsten Moment erreichten sie die Bruchkante.
Shinji zündete die Jetpacks.
"Flieg!" brüllte er.
*** NGE ***
Captain Aoba landete den VTOL mitten in einem Park und schnallte sich los.
"Los, beeilen wir uns, vielleicht weiß man im Hauptquartier auch mehr über die Lage in der Antarktis."
Sie verließen die Pilotenkanzel. In der Passagierkabine warteten bereits Major Ryoji Kaji, die Lehrerin Misato Katsuragi und die beiden EVA-Piloten, welche nicht vom Transportfeld der Angeloi eingefangen worden waren, Kensuke Aida und Hikari Horaki.
"Ich komme mit Ihnen", erklärte Kaji, nachdem sie aus dem Flugzeug geklettert waren und nun auf den Rand des Parks zustrebten. "Katsuragi, kümmere du dich um die Kinder."
"Ich nehme sie mit zu mir, du weißt, wie du mich erreichen kannst."
"Ja. Warte..."
Er zog sie an sich und küßte sie.
"Paßt auf, in der Stadt ist die Hölle los."
Misato nickte, dann packte sie Kensuke und Hikari an den Händen und lief mit ihnen davon.
Kaji lächelte.
"Also, nur noch wir drei. Dann mal los."
*** NGE ***
Der Abstand zum größten der Invasionsschiffe schmolz mit jedem Flügelschlag zusammen.
Und schließlich konnte die ausgestreckte Hand des EVAs eine Metallstrebe ergreifen und sich daran festhalten. EVA-01 stemmte die Füße gegen die Metallwandung, verankerte sich magnetisch.
Dann drehte er sich halb und packte den Unterarm von EVA-02, zog ihn ebenfalls auf die Oberfläche des Schwarmschiffes.
"Geschafft..." keuchte Shinji. Er warf einen Blick auf den Monitor, der den EntryPlug von EVA-02 zeigte. Dort saß Asuka auf Toujis Schoß und drängte wieder einmal seine Hände von den Steuerungselementen weg.
"Suzuhara, Finger weg von meinem EVA! Schlimm genug, daß ich mir mit dir einen EntryPlug teilen muß, und du Schuld daran bist, daß wir auf so blamable Weise die Schwarmwelt verlassen haben, aber genug ist genug! Sobald wir eine ruhige Minute haben, verschwindest du aus meinem Sitz!"
Touji nickte grinsend.
"Hentai!" brüllte Asuka, die anscheinend Augen im Hinterkopf hatte...
"Uhm, wir bekommen Gesellschaft!"
Auf dem taktischen Schirm leuchteten mehrere rote Punkte auf, im nächsten Moment identifizierte der taktische Computer die sich nähernden Angeloi als Matriels.
Asuka fluchte.
"Suzuhara, wenn du noch einmal nach der Steuerung greifst, beiße ich dir die Arme ab!"
"Ogottogott!"
EVA-02 zog sein Messer. EVA-01 tat es ihm nach. Rücken an Rücken erwarteten sie den herankommenden Matrielschwarm.
Die Arachnoiden bewegten sich völlig selbstsicher auf der Schiffsoberfläche, quollen aus aufschießenden Luken, die Tatsache ignorierend, daß das Schiff ständig beschleunigend auf das Portal im All zuhielt.
*** NGE ***
Der Abstieg in die Geofront schien eine Ewigkeit zu dauern. Sie benutzten nicht den zentralen Aufzug, sondern einen Lastenaufzug mit denkbar schlechter Federung. Als sie unten angelangt waren, kaperten die drei einen der im Geosektor benutzten Elektrowagen und fuhren mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf das Pyramidengebäude des Hauptquartiers zu.
Kaji saß am Steuer. Seine Fahrkünste weckten in Ritsuko lange verschüttete Erinnerungen an Misato Katsuragis Fahrstil.
Erstmals fiel Ritsuko das NERV-Symbol an einer Seite der Pyramide auf, ein halbiertes Feigenblatt, welches von dem Schriftzug ´NERV´ und ´Für die Menschheit´ umrandet war.
Sie hielten vor dem Haupteingang, Kaji öffnete das Tor mit seiner Ausweiskarte, identifizierte sich dann beim Pförtner und verlangte, sofort mit Seléne Shigen, der Leiterin des Projektes E und Kommandantin des tokioter Hauptquartiers, zu sprechen.
Der Pförtner stellte eine Bildsprechverbindung zur Zentrale her. Auf dem Bildschirm erschien das Narbengesicht Lieutenant-Colonel Roderick Falks.
"Major Kaji, was tun Sie in Tokio?"
"Sonderbefehle von Colonel Ikari, Sir. Ich erkläre alles später, zuerst muß ich mit Lady Seléne sprechen."
"Mein Frau ist gerade in einer Besprechung mit meinem Schwager, Major."
"Kommand... Marschal Shigen ist bei ihr?"
"Ja, ist das so seltsam? Wir haben übrigens Alarmstufe Rot wegen der Sache in der Antarktis..."
"Gibt es da schon Neuigkeiten?"
"Immer noch keine Funkverbindung. Aber die Beobachtungssatelliten haben eine gewaltige Explosion registriert. Offenbar hat die PROMETHEUS mit den geladenen N2-Sprengsätzen ein Kamikaze-Manöver gewagt. MAGI bestätigen, daß sie zur Zeit keine blauen Muster auf der Erde feststellen können."
Kaji atmete auf.
"Also noch ´mal davongekommen..."
"Ja. Gottseidank."
"Hören Sie, Sir, es ist äußerst wichtig, daß ich mit Lady Seléne spreche."
"Gut, ich frage bei ihr an, ob sie kurz Zeit hat... seltsam..."
"Was?"
"Sie antwortet nicht. Ich sehe selbst nach. Kommen Sie schon ´mal zu uns, Major."
"Ja, Sir."
Das Lächeln war von Kajis Gesicht verschwunden, als er sich umdrehte.
"Vielleicht sind wir zu spät... Los, kommen Sie mit..."
Er sah sich um.
"Captain Aoba, wo ist Doktor Akagi?"
"Äh, was? Sie stand eben noch neben mir..."
"Na, schön... zur Zentrale!"
*** NGE ***
Die Matriels kamen in Wellen auf sie zu, es waren kleinere Exemplare, als sie sie kannten, auf ihren Rückenpanzern befand sich das Symbol des Ersten Schwarms.
Die Gegenwart der EVAs schien die Angeloi zu verwirren, nur zögerlich griffen sie an.
Daher konnten EVA-01 und EVA-02 die ersten Angriffe mit Leichtigkeit zurückschlagen, doch dann hatte sich ein Kreis von Spinnenwesen um sie geschlossen.
"Argh, wo sind die Zeruels, wenn man sie braucht? Oder John Wayne mit der Kavallerie?"
schimpfte Asuka, während sie auch das zweite Messer aus der Schulterpanzerung zog.
"Touji-baka, Finger weg von der Steuerung!"
"Ich will dir doch nur helfen!"
"Darauf kann ich verzichten!"
EVA-02 ging mit ausgebreiteten Armen in Stellung, in jeder Hand ein Messer, dessen Summen sich in der Stille des Alls verlor.
EVA-01 trat gerade nach einem Matriel, der sich zuweit vorgewagt hatte, traf den Spinnen-Angeloi direkt unter den Augen. Der Matriel verlor den Kontakt zur Schiffshülle und schwebte laut - aber ungehört - fiepend davon.
Shinji rammte einem weiteren Angeloi das Messer zwischen die Panzerung der Kopf- und Rückensegmente, wich einem Säurestrahl aus, stieß dem nächsten Matriel die Faust des EVAs in sein Hauptauge.
"Werden das denn nicht weniger?"
"Nach links!" rief Rei, welche die Monitore im Auge behielt.
Shinji befolgte die Anweisung blind, vertraute darauf, daß Rei das Schlachtfeld unter Kontrolle behielt.
Blitzschnell ging EVA-01 in die Hocke, ergriff die vorderen Gliedmaßen eines Angeloi, wirbelte ihn herum, so daß er seine Artgenossen mit seiner Netzflüssigkeit bedeckte anstelle der EVAs.
Asuka bearbeitete ihre Gegner in der Zwischenzeit beidhändig, rammte ihre Messer in jede sich ihr bietende Öffnung in der Deckung der Matriels in ihrer Reichweite.
"Shinji, so kommen wir nicht weiter, es werden immer mehr. Ich habe eine Idee!"
Und damit rannte sie mit weitausholenden Schritten davon, trampelte zwei Matriels einfach nieder, brach aus dem Ring aus.
"Asuka, warte!"
Shinji riß die Augen auf. EVA-01 hatte keine Rückendeckung mehr...
Rei drehte den Kopf, wirkte genauso erschrocken wie er selbst über Asukas Flucht.
Die Matriels schienen Oberwasser zu bekommen. Schon war der Ring um EVA-01 wieder geschlossen, schon rückten sie in geschlossener Front vor.
Ein Netzstrahl traf die Beine des EVANGELIONs, fesselte sie an die Stahlhülle des Schiffes.
EVA-01 schwang sein Messer in weiten Kreisen, versuchte sich die Arachnoiden vom Hals zu halten.
Ein größerer Matriel tauchte plötzlich zwischen seinen Artgenossen auf, kletterte über diese hinweg, stieß sich ab, das Risiko, den Kontakt mit dem Schiff zu verlieren und schwebelos ins All wegzudriften, in Kauf nehmend.
Glänzend Beißzangen rasten auf EVA-01 zu, schlossen sich um den Arm mit dem Messer, trennten ihn ab.
Shinji schrie auf vor Schmerz.
Vor ihm im Sitz gab Rei ein leises Wimmern von sich.
"Shinji... es... ist... nicht... unser... Arm", stieß sie hervor.
Mühsam wich EVA-01 den heranflutenden Matriels aus, wurde schließlich unter ihnen begraben.
"Rei-chan..." flüsterte Shinji, als zuckende Spinnenbeine völlig die Optiken des EVANGE-LIONs bedeckten.
"Ja?"
"Das war´s..."
Ihr Blick fand den seinen, ihre Finger umklammerten die seinen.
"Ja."
"Ich liebe dich..."
Tränen standen in seinen Augen, nicht aufgrund der Schmerzen, die unzählige kleine Beißzangen verursachten, als sie sich durch die Panzerung bohrten und in das Fleisch des EVAs gruben, sondern weil ihm klar wurde, daß er die Worte seit Wochen hatte aussprechen wollen und immer wieder über seine eigene Feigheit gestolpert war.
"Ich weiß." antwortete sie sanft und zog ihn an sich.
Er erwiderte die Umarmung mit aller Kraft, die er noch hatte.
So sah also das Ende aus...
*** NGE ***
Ritsuko Akagi rannte.
In diesen Sekunden war sie froh darüber, sich während der endlosen Tage, die sie im NERV-HQ verbracht hatte, den Grundriß des Gebäudes eingeprägt zu haben.
Sie war bereits aufgebrochen, als Kaji noch mit dem Pförtner der Anlage gesprochen hatte, einem unguten Gefühl folgend.
Und tatsächlich - einige Stockwerke tiefer, auf der Ebene der Zentrale, erspähte sie den NERV-Kommandanten in Begleitung seiner goldblonden Schwester, wie beide in ein Gespräch vertieft in einem Raum am Ende des Korridors verschwanden.
Ritsuko mobilisierte die letzten Kräfte und folgte ihnen, gerade als das Türschott des Raumes sich zu schließen begann. Im letzten Moment zwängte sie sich durch die zufahrenden Türhälften, hörte, wie das Schott sich selbst verriegelte...
*** NGE ***
Kreischend stoben die Matriels auseinander.
Glühend heiße Energiestrahlen zuckten über den liegenden EVA-01 hinweg, pulverisierten jeden Arachnoiden, der sich in ihrer Bahn befand.
EVA-01 wies zahlreiche kleine Bißwunden auf, die Panzerung war an vielen Stellen beschädigt und zähe rote Flüssigkeit trat an mehreren Stellen aus.
Der EVANGELION stemmte sich auf die Ellenbogen und blickte in die Richtung, aus der die Strahlen abgefeuert wurden.
Auf einem Metallkamm stand EVA-02, ein Lasergeschütz auf der Schulter, dabei einen wahren Salat von Kabeln hintersichherziehend, der bis zu einem Loch in der Schiffshülle führte.
"A-Asuka?"
"Wer sonst, Baka-Shinji? Dachtest du ernst, ich lasse meinen ältesten Freund einfach im Stich? Von wegen - ich mußte nur erst eine ausreichend große Dose Insektenspray besorgen!"
"Aber wie...?"
Shinji spürte die Bißwunden, die EVA-01 erlitten hatte, als wäre es sein eigener Leib gewesen. Ohne Reis Hilfe hätte er den EVANGELION wahrscheinlich nicht wieder auf die Beine bekommen.
"Oh, ganz einfach, ich habe diesen Geschützturm entdeckt und gedacht - Hey, das Ding können wir doch auch benutzen, also..."
"Eigentlich war´s ja meine Idee..."
"Schnauze, Touji! Jedenfalls habe ich EVA-02 das Geschütz aus der Hülle brechen lassen, dann die Steuerung mit dem taktischen Computer verbunden und - bumm! Ha!"
Sie gab ein paar weitere Feuerstöße ab, bis keine Angeloi mehr in der Nähe waren.
"Hähä! Ich bin nicht umsonst die Enkelin von John J. Rambo!"
"Das glaube ich dir auf´s Wort", kommentierte Touji trocken.
Asuka ignorierte ihn.
"Wie sieht´s bei euch aus?"
"Wir leben. Danke, Asuka."
"Kein Problem. EVA-01 hat einiges abbekommen."
"Stimmt", kam es von Rei. "Wir..."
In diesem Moment erreichte das Schwarmschiff den Wirbel des Portales - und verschwand darin!
*** NGE ***
Als Kaji und Aoba die Zentrale erreichten, herrschte dort helle Aufruhr. Nur Lieutenant-Colonel Falk war völlig ruhig.
"Meine Herren, wir haben wieder Kontakt mit Antarktica - die Invasion wurde abgewehrt, das Portal am Südpol ist zerstört."
"Großartig!" rief Kaji. Doch seine gute Laune verflog schlagartig wieder, als er Falks düsteres Gesicht bemerkte.
"Dafür haben die POLARIS-Satelliten das entdeckt..."
Er deutete auf den großen Bildschirm. Dieser zeigte ein metallenes Objekt, welches mitten in der Leere des Alls schwebte. Es erinnerte an eine geöffnete Sonnenblume.
"Was ist das?"
"Laut MAGI eine weitere Portalempfangsstation. Sie hat sich gerade eben enttarnt und den Betrieb aufgenommen."
"Oh, nein... Dann war die Invasion am Pol nur ein... Ablenkungsmanöver."
"Sieht so aus. Von Canaveral und Baikonur sind die DEFENDER-Einheiten bereits gestartet. Wir sind dabei, NIMROD in Betrieb zu nehmen, allerdings... unsere Kontrollen wurden vom Schaltraum aus blockiert. Und meine Frau meldet sich nicht... Diane ist bereits an der Sache dran..."
Er war im Begriff, aus der Zentrale zu stürmen.
Kaji und der Captain folgten ihm zusammen mit einigen Operatoren.
Der Marsch endete vor einem Panzerschott, an dessen Codeschloß bereits zwei Techniker zugange waren.
"Und?"
"Von innen verriegelt."
Falk stieß eine Reihe von Flüchen aus, die so manchen Seemann hätten rot werden lassen.
"Holen Sie schweres Gerät, wir müssen da ´rein!"
"Sir, das ist ein atombombensicherer Bunker, Sie wissen selbst, welche Sicherheitsmaßnahmen wir ergriffen haben, um zu verhindern, daß die Kontrollschaltungen dem Feind in die Hände fallen könnten..."
"Aber vielleicht ist er schon drin", warf Kaji ein.
Falk fuhr herum.
"Reden Sie, Mann!"
*** NGE ***
Ritsuko preßte sich gegen die kalte Metallwand in ihrem Rücken. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die schwache Beleuchtung. Vor ihr lag ein mit leichtem Gefälle nach unten führender Gang.
Sie schluckte und folgte dem Gang, gelangte in eine Halle, die mit Schaltkästen gefüllt war. Vorsichtig bewegte sie sich zwischen den Kästen entlang, kam in einen zweiten, kleineren Raum, der Ähnlichkeit mit einem Leitstand hat.
Ein hufeisenförmiger Tisch mit Bildschirmen und Schaltelementen füllte den Raum so aus, daß man sich beinahe daran vorbeiquetschen mußte.
Im Inneren des Hufeisens befand sich eine holographische Projektion der Erde und des Mondes. Die Erde wurde von zahlreichen blinkenden Objekten umkreist. Scheinbar willkürlich wurden in ständigem Wechsel einige dieser Objekte in seperaten Projektionsfeldern gezeigt.
Gerade war die internationale Raumstation ISS zu sehen, dann wieder das Hubble-Teleskop.
Vor der Schaltanlage stand Seléne Shingen, neben ihr ihr Bruder, Thomas Shigen.
Sie unterhielten sich leise.
Plötzlich erschien ein rhythmisch blinkendes rotes Licht auf der Mondumlaufbahn.
Seléne nahm hastig einige Schaltungen vor.
"Was kann das sein? - Thomas, unterrichte die Zentrale... - MAGI identifizieren das Objekt als Portal... Sal hat ein zweites Portal auf die Reise geschickt... deshalb also hat es solange gedauert, bis das Portal am Südpol wieder aktiv wurde... - Was sagt Roderick?"
"Nichts... Ich habe ihn nicht benachrichtigt."
"Was..."
Sie sah, wie er selbst einige Schaltungen vornahm.
"Nein, damit kapselst du diesen Raum völlig ab. Wir müssen NIMROD aktivieren."
"Was ist NIMROD?" fragte er hart.
Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an.
"Du weißt es nicht? - Du bist nicht Thomas..."
Erkenntnis machte sich auf ihrem Gesicht breit.
"Bardiel..."
"Zu Euren Diensten, Schwarmmutter", flüsterte er in der Sprache der Angeloi - und stieß ihr seine ausgestreckte Hand in den Bauch.
Seléne schrie auf, als die Hand in ihrem Körper verschwand, in ihren Eingeweiden wühlte, ihr S2-Organ umfaßte und zu zerquetschen begann.
Ihre Hände griffen nach seinem Unterarm, versuchten, ihn herauszuziehen.
"Zu vertrauensseelig... Die Imperatrix hat mir Eure Lebensenergie versprochen. Ihr seid die erste, die Lillims werden Euch folgen..."
Der Infiltrator warf den Kopf in den Nacken und gab ein lustvolles Seufzen von sich.
"Diese Kraft..."
Seléne schwankte, wurde aschfahl.
Das war der Augenblick, in dem Ritsuko handelte. Jetzt wußte sie, daß sie es wirklich mit einem Betrüger zu tun hatte...
Aus einem Regal zog sie einen schweren stählernen Schraubenschlüssel, rannte auf den falschen Marschal zu und schlug ihm das Werkzeug mit aller Kraft gegen den Schädel.
Mit einem ungesunden Schmatzen zerplatzte der Kopf des Mannes. Doch der Körper fiel nicht, drehte sich nur orientierungslos um die eigene Achse, zog dabei die Hand aus Selénes Leib.
Seléne Shigen brach neben dem Schaltpult zusammen.
Der kopflose Bardiel ergriff Ritsuko, schleuderte sie gegen die Wand.
Sie schlug hart mit dem Kopf an, sah für einen Moment nur Schwärze, dann unscharf, schließlich den sich nähernden Angeloi-Agenten. Aus den Resten des Kopfes schoben sich mehrere farblose Tentakel, die leicht zitternd nach ihr witterten.
Bardiel setzte sich wieder in Bewegung, kam auf sie zu.
Sie wurde sich wieder der Waffe in ihrer Tasche bewußt, zog mit zittrigen Händen die Pistole hervor, entsicherte sie, legte an.
Ihre Sicht verschwamm.
diagnostizierte sie ihren eigenen Zustand.
Sie kniff die Augen zusammen und schoß, zog den Abzug durch, bis das Magazin verbraucht war.
Der Bardiel flog zurück, als sich Einschußloch um Einschußloch in seine Brust stanzte, drehte sich noch einmal um die eigene Achse und schlug dann hin.
In Schaltraum erschien die Projektion einer Frau mit metallischer Haut.
"Lady Seléne, NIMROD muß umgehend..."
"Diane..." flüsterte die Frau am Boden.
Das Hologramm sah sich um.
"Lady Seléne, was ist geschehen?"
Diane nahm den Bardiel wahr.
"Ein erlöschendes blaues Muster..."
"Ja. Infiltrator..."
Ritsuko kam wieder auf die Beine, tastete über ihren Hinterkopf, hatte Blut an den Fingerspitzen. Mit unsicherem Schritt näherte sie sich der liegenden Seléne.
Diane wandte sich ihr zu.
"Identifiziere: Akagi, Ritsuko. Doktor der Humanmedizin. Doktor der Humangenetik..."
"Ich kann helfen." murmelte Ritsuko, ging neben Seléne in die Knie. Wieder begann sich alles um sie zu drehen.
"Nicht... mir können Sie nicht mehr helfen... NIMROD hat Vorrang... Helfen Sie mir auf..."
"Ja."
Sie griff Seléne unter die Arme und wuchtete sie in einen Sessel.
"Diane, gib ihr die Sequenzen..."
"Bestätigt. Doktor Akagi, drücken Sie folgende Tasten..."
Ritsuko kam der Anweisung nach. Zugleich nahm Seléne mit quälender Langsamkeit Eingaben vor.
"NIMROD hat Verbindung mit POLARIS. Waffen sind scharf. Erwarte Freigabe."
Seléne sah Ritsuko an. Ihr Atem ging stoßweise und ihre Augenlider flackerten.
Vergeblich versuchte sie, sich in die Höhe zu stemmen.
"Der Netzhautscanner..."
Wieder griff Ritsuko ihr unter die Arme, half ihr zu dem angewiesenen Gerät.
"Identität bestätigt. Seléne Shigen als befehlsberechtigte Person bestätigt. Erwarte Stimmmuster für Freigabe der Prioritätsschaltung."
Seléne bewegte die Lippen, brachte nicht einmal ein Flüstern zustande. In ihrem Mund breitete sich ein metallischer Geschmack aus. Sie mußte husten, spuckte Blut, rotes Blut...
Ein Gefühl von Befriedigung breitete sich in ihr aus, gab ihr neue Kraft.
Noch einmal versuchte sie es.
"Für... die... Menschheit..." flüsterte sie.
"Freigabe bestätigt. Erwarte Anweisungen."
Ritsuko hielt den Atem an.
Von Seléne kam kein Wort.
"Los, sagen Sie es ihr!"
Schweigen.
Ritsuko hielt eine Tote im Arm...
"Erwarte Anweisungen."
Dianes Stimme wurde drängender.
"Ah..."
Ritsuko schluckte.
"Schieß sie ab... Feuer eröffnen... was weiß ich..."
"MAGI bestätigen Berechtigung von Akagi, Ritsuko. Feuerfreigabe bestätigt." seufzte die Künstliche Intelligenz. "NIMROD enttarnt sich." Einen Moment lang glaubte Ritsuko, ihre Mutter vor sich stehen zu sehen.
Rund um die holographische Projektion der Erde erschienen weitere Punkte, wurden in der Vergrößerung dargestellt. Es waren künstliche Satelliten, die mit Raketenabschußvorrichtungen und Geschützen bestückt waren, orbitale Waffenplattformen.
Zugleich wurden noch in der Atmosphäre befindliche, sich bewegende Objekte gezeigt und als Shuttle der DEFENDER-Klasse identifiziert, dreizehn an der Zahl.
"Ich übernehme Koordination des Angriffes."
Der Hologramm Dianes erlosch.
*** NGE ***
EVA-01 und -02 jagten über die Oberfläche des Flaggschiffes der Invasionsflotte. Sie hatten ein Ziel, die Spitze des Bienenkorbes, dort wollte der taktische Computer die Brücke des Schiffes ausgemacht haben.
EVA-02 hatte sein Geschütz zurückgelassen. Hakenschlagend rasten sie durch die Abwehr der Angeloi, alles auf eine Karte setzend.
"Shinji..."
"Ja, Asuka?"
"Zeit, daß ich meine Schulden zurückzahle..."
"Was meinst du?"
"Ich halte sie dir vom Leib, übernimm du die Imperatrix."
"Asuka...!"
"Los! - Touji-baka, hilf mir gefälligst!"
Es knackte in der Funkleitung, die Bildübertragung wurde unscharf, als EVA-02 hinter einer Mauer von Satchiels verschwand.
Shinji fühlte nichts. Nur kalte Entschlossenheit und den Wunsch, es zu Ende zu bringen.
"Rei, bist du bereit?"
"Ja."
Ihrer monotonen Stimme war nicht zu entnehmen, was sie dachte, doch der sanfte Druck, den ihre Finger auf die seinen ausübten, sagte mehr als tausend Worte.
Noch einmal beschleunigte EVA-01, schleuderte einen massigen Satchiel einfach zur Seite.
Der Weg war frei. Vor ihnen befand sich ein großes wabenförmiges Sichtfenster, hinter dem Shinji und Rei mehrere menschengroße Angeloi des Satchieltyps sehen konnten. Und inmitten der Kommandozentrale des Schwarmschiffes saß die Imperatrix auf ihrem Thron.
EVA-01 ballte die Faust, holte aus und schlug zu, zerschmetterte das Sichtfenster...
"Geht das nicht schneller?"
Ritsuko Akagi war nahe daran, selbst die Steuerung des VTOL zu übernehmen.
"Doc, wenn Sie nicht aufhören, können Sie das Cockpit verlassen", knurrte Shigeru Aoba.
"Aber uns läuft die Zeit davon. Und der Stop zum Auftanken in Australien hat ihren Vorsprung nur noch vergrößert!"
"Von wegen - ich habe Ihnen doch gesagt, daß der Marschal ebenfalls auftanken mußte. Wir liegen sehr gut in der Zeit."
Aoba starrte finster geradeaus.
Der Senkrechtstarter, den sie benutzten, jagte auf Autopilot mit Maximalgeschwindigkeit über den Wolken über dem Pazifik hinweg, näherte sich Japan. Vor wenigen Stunden waren sie vom NERV-Festungsstützpunkt Antarktica aufgebrochen, einem furchtbaren Verdacht folgend.
Vor einigen Minuten hatten sie über Funk auf der ausschließlich von NERV benutzten Frequenz erfahren, daß eine Invasionsstreitmacht der Angeloi über das Portal eingetroffen war. Seitdem herrschte Stille. Antarktica antwortete auf keinen der Funkrufe.
Dafür herrschte Chaos auf den meisten anderen Funkfrequenzen - die Nachricht von einer ausserirdischen Invasion war irgendwie durchgesickert. In vielen Städten herrschte der Ausnahmezustand und waren die Nationalgarden unterwegs, um Aufstände und Ausschreitungen einzudämmen.
"Wahrscheinlich folgen wir einem Hirngespinst..." murmelte der Captain. "Ich sollte im Stützpunkt sein, bei meinen Kameraden."
"Glauben Sie wirklich, das würde einen Unterschied machen? Entweder hält Colonel Ikari die Invasion auch ohne die EVAs auf, oder wir erfahren früh genug, daß die Festung gefallen ist. Wenn aber Ihr Marschal in Wirklichkeit ein Agent des Feindes ist, müssen wir ihn davon abhalten, das tokioter Hauptquartier zu betreten."
Ritsuko hatte Mühe, sich zu beherrschen.
Der Mann, von dem sie sprachen, war Thomas Shigen, Kommandant der UN-Organisation NERV, und seit einem Tag Marschal der Streitkräfte der Erde. Und er hatte den Festungsstützpunkt am Südpol verlassen, bevor die Invasion begonnen hatte.
Akagi war felsenfest davon überzeugt, daß der Mann, welcher ihr die Nachricht vom Tod ihrer Tochter überbracht hatte, in Wirklichkeit ein vom Feind eingeschleuster Infiltrator war. Und zugleich war diese Überzeugung die Hoffnung, an welche sie sich verzweifelt klammerte, die Hoffnung, ihre Tochter Rei könnte noch am Leben sein.
"Ich gehe jetzt in den Landeanflug."
Captain Aoba klang äußerst unzufrieden. Auf Befehl Colonel Gendo Ikaris, der ihn für diese Mission abkommandiert hatte, mußte er absolute Funkstille wahren, konnte also nicht einmal ihre Ankunft beim Hauptquartier ankündigen.
"Wo wollen Sie landen?"
"Mitten in der Stadt... in der Nähe eines Zuganges zum Geosektor."
"Gut."
Sie verlagerte ihr Gewicht im Sitz, spürte den harten Griff der Pistole, welche sie vor dem Aufbruch von Ikari erhalten hatte, in ihr Kreuz drücken...
*** NGE ***
EVA-01 ließ sich auf alle Viere nieder.
Die beiden Kinder im EntryPlug spürten das harte pockennarbige Gestein, aus dem die Schwarmwelt bestand, als wären es ihre eigenen Fingerknöcheln, die sich in den Staub der Oberfläche des kleinen Mondes bohrten.
Vor EVA-01 lag eine Strecke von vielleicht einhundert Metern, die für den Anlauf genügen mußte. Dahinter erstreckte sich eine für planetengebundene Lebewesen unvorstellbare Leere, die Leere des Alls, denn die Oberfläche der Schwarmwelt endete dort in einer zackigen Bruchstelle.
"Los..." flüsterte Shinji und verkrampfte die Finger um die Steuerung.
Reis Hände lagen auf den seinen und es war ihm, als floßen von ihr Kraft und Zuversicht auf ihn über.
EVA-01 startete durch, dicht gefolgt von EVA-02.
"Der Abgrund ist so weit..." stieß der Junge hervor. "Wir müßten fliegen können..."
"Vertrauen." versuchte Rei ihn zu bestärken. "Du schaffst es!"
Seine Daumen schwebten über den Aktivierungsknöpfen der Jetpacks.
Shinji konzentrierte sich ganz auf den Sprung, völlig auf das Ziel.
Das Ziel, das war eines der bienenkorbähnlichen Invasionsschiffe der Angeloi-Flotte, welche gerade im Begriff war, das Schwerefeld der Schwarmwelt zu verlassen und einen dunklen Wirbel anzusteuern, der laut Kaworus Abschiedsbotschaft zur Erde führen sollte.
Sie sollten verhindern, daß die Angeloi die Erde erreichten und unter den Menschen ein Blutbad anrichteten. Vier Kinder, denen nur zwei übermenschengroße biomechanische Lebensformen des EVANGELION-Programmes zur Verfügung standen...
Shinji spürte ein Jucken zwischen den Schulterblättern, bemerkte aus den Augenwinkeln, daß sich etwas auf Reis Rücken unter der PlugSuit bewegte, daß sich dort zwei kleine Beulen ausformten.
"Rei..."
"Es funktioniert. Der EVA aktiviert den Anpassungsmodus!"
Und EVA-01 wuchsen Flügel, gewaltige purpur-grüne Engelsschwingen.
Im nächsten Moment erreichten sie die Bruchkante.
Shinji zündete die Jetpacks.
"Flieg!" brüllte er.
*** NGE ***
Captain Aoba landete den VTOL mitten in einem Park und schnallte sich los.
"Los, beeilen wir uns, vielleicht weiß man im Hauptquartier auch mehr über die Lage in der Antarktis."
Sie verließen die Pilotenkanzel. In der Passagierkabine warteten bereits Major Ryoji Kaji, die Lehrerin Misato Katsuragi und die beiden EVA-Piloten, welche nicht vom Transportfeld der Angeloi eingefangen worden waren, Kensuke Aida und Hikari Horaki.
"Ich komme mit Ihnen", erklärte Kaji, nachdem sie aus dem Flugzeug geklettert waren und nun auf den Rand des Parks zustrebten. "Katsuragi, kümmere du dich um die Kinder."
"Ich nehme sie mit zu mir, du weißt, wie du mich erreichen kannst."
"Ja. Warte..."
Er zog sie an sich und küßte sie.
"Paßt auf, in der Stadt ist die Hölle los."
Misato nickte, dann packte sie Kensuke und Hikari an den Händen und lief mit ihnen davon.
Kaji lächelte.
"Also, nur noch wir drei. Dann mal los."
*** NGE ***
Der Abstand zum größten der Invasionsschiffe schmolz mit jedem Flügelschlag zusammen.
Und schließlich konnte die ausgestreckte Hand des EVAs eine Metallstrebe ergreifen und sich daran festhalten. EVA-01 stemmte die Füße gegen die Metallwandung, verankerte sich magnetisch.
Dann drehte er sich halb und packte den Unterarm von EVA-02, zog ihn ebenfalls auf die Oberfläche des Schwarmschiffes.
"Geschafft..." keuchte Shinji. Er warf einen Blick auf den Monitor, der den EntryPlug von EVA-02 zeigte. Dort saß Asuka auf Toujis Schoß und drängte wieder einmal seine Hände von den Steuerungselementen weg.
"Suzuhara, Finger weg von meinem EVA! Schlimm genug, daß ich mir mit dir einen EntryPlug teilen muß, und du Schuld daran bist, daß wir auf so blamable Weise die Schwarmwelt verlassen haben, aber genug ist genug! Sobald wir eine ruhige Minute haben, verschwindest du aus meinem Sitz!"
Touji nickte grinsend.
"Hentai!" brüllte Asuka, die anscheinend Augen im Hinterkopf hatte...
"Uhm, wir bekommen Gesellschaft!"
Auf dem taktischen Schirm leuchteten mehrere rote Punkte auf, im nächsten Moment identifizierte der taktische Computer die sich nähernden Angeloi als Matriels.
Asuka fluchte.
"Suzuhara, wenn du noch einmal nach der Steuerung greifst, beiße ich dir die Arme ab!"
"Ogottogott!"
EVA-02 zog sein Messer. EVA-01 tat es ihm nach. Rücken an Rücken erwarteten sie den herankommenden Matrielschwarm.
Die Arachnoiden bewegten sich völlig selbstsicher auf der Schiffsoberfläche, quollen aus aufschießenden Luken, die Tatsache ignorierend, daß das Schiff ständig beschleunigend auf das Portal im All zuhielt.
*** NGE ***
Der Abstieg in die Geofront schien eine Ewigkeit zu dauern. Sie benutzten nicht den zentralen Aufzug, sondern einen Lastenaufzug mit denkbar schlechter Federung. Als sie unten angelangt waren, kaperten die drei einen der im Geosektor benutzten Elektrowagen und fuhren mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf das Pyramidengebäude des Hauptquartiers zu.
Kaji saß am Steuer. Seine Fahrkünste weckten in Ritsuko lange verschüttete Erinnerungen an Misato Katsuragis Fahrstil.
Erstmals fiel Ritsuko das NERV-Symbol an einer Seite der Pyramide auf, ein halbiertes Feigenblatt, welches von dem Schriftzug ´NERV´ und ´Für die Menschheit´ umrandet war.
Sie hielten vor dem Haupteingang, Kaji öffnete das Tor mit seiner Ausweiskarte, identifizierte sich dann beim Pförtner und verlangte, sofort mit Seléne Shigen, der Leiterin des Projektes E und Kommandantin des tokioter Hauptquartiers, zu sprechen.
Der Pförtner stellte eine Bildsprechverbindung zur Zentrale her. Auf dem Bildschirm erschien das Narbengesicht Lieutenant-Colonel Roderick Falks.
"Major Kaji, was tun Sie in Tokio?"
"Sonderbefehle von Colonel Ikari, Sir. Ich erkläre alles später, zuerst muß ich mit Lady Seléne sprechen."
"Mein Frau ist gerade in einer Besprechung mit meinem Schwager, Major."
"Kommand... Marschal Shigen ist bei ihr?"
"Ja, ist das so seltsam? Wir haben übrigens Alarmstufe Rot wegen der Sache in der Antarktis..."
"Gibt es da schon Neuigkeiten?"
"Immer noch keine Funkverbindung. Aber die Beobachtungssatelliten haben eine gewaltige Explosion registriert. Offenbar hat die PROMETHEUS mit den geladenen N2-Sprengsätzen ein Kamikaze-Manöver gewagt. MAGI bestätigen, daß sie zur Zeit keine blauen Muster auf der Erde feststellen können."
Kaji atmete auf.
"Also noch ´mal davongekommen..."
"Ja. Gottseidank."
"Hören Sie, Sir, es ist äußerst wichtig, daß ich mit Lady Seléne spreche."
"Gut, ich frage bei ihr an, ob sie kurz Zeit hat... seltsam..."
"Was?"
"Sie antwortet nicht. Ich sehe selbst nach. Kommen Sie schon ´mal zu uns, Major."
"Ja, Sir."
Das Lächeln war von Kajis Gesicht verschwunden, als er sich umdrehte.
"Vielleicht sind wir zu spät... Los, kommen Sie mit..."
Er sah sich um.
"Captain Aoba, wo ist Doktor Akagi?"
"Äh, was? Sie stand eben noch neben mir..."
"Na, schön... zur Zentrale!"
*** NGE ***
Die Matriels kamen in Wellen auf sie zu, es waren kleinere Exemplare, als sie sie kannten, auf ihren Rückenpanzern befand sich das Symbol des Ersten Schwarms.
Die Gegenwart der EVAs schien die Angeloi zu verwirren, nur zögerlich griffen sie an.
Daher konnten EVA-01 und EVA-02 die ersten Angriffe mit Leichtigkeit zurückschlagen, doch dann hatte sich ein Kreis von Spinnenwesen um sie geschlossen.
"Argh, wo sind die Zeruels, wenn man sie braucht? Oder John Wayne mit der Kavallerie?"
schimpfte Asuka, während sie auch das zweite Messer aus der Schulterpanzerung zog.
"Touji-baka, Finger weg von der Steuerung!"
"Ich will dir doch nur helfen!"
"Darauf kann ich verzichten!"
EVA-02 ging mit ausgebreiteten Armen in Stellung, in jeder Hand ein Messer, dessen Summen sich in der Stille des Alls verlor.
EVA-01 trat gerade nach einem Matriel, der sich zuweit vorgewagt hatte, traf den Spinnen-Angeloi direkt unter den Augen. Der Matriel verlor den Kontakt zur Schiffshülle und schwebte laut - aber ungehört - fiepend davon.
Shinji rammte einem weiteren Angeloi das Messer zwischen die Panzerung der Kopf- und Rückensegmente, wich einem Säurestrahl aus, stieß dem nächsten Matriel die Faust des EVAs in sein Hauptauge.
"Werden das denn nicht weniger?"
"Nach links!" rief Rei, welche die Monitore im Auge behielt.
Shinji befolgte die Anweisung blind, vertraute darauf, daß Rei das Schlachtfeld unter Kontrolle behielt.
Blitzschnell ging EVA-01 in die Hocke, ergriff die vorderen Gliedmaßen eines Angeloi, wirbelte ihn herum, so daß er seine Artgenossen mit seiner Netzflüssigkeit bedeckte anstelle der EVAs.
Asuka bearbeitete ihre Gegner in der Zwischenzeit beidhändig, rammte ihre Messer in jede sich ihr bietende Öffnung in der Deckung der Matriels in ihrer Reichweite.
"Shinji, so kommen wir nicht weiter, es werden immer mehr. Ich habe eine Idee!"
Und damit rannte sie mit weitausholenden Schritten davon, trampelte zwei Matriels einfach nieder, brach aus dem Ring aus.
"Asuka, warte!"
Shinji riß die Augen auf. EVA-01 hatte keine Rückendeckung mehr...
Rei drehte den Kopf, wirkte genauso erschrocken wie er selbst über Asukas Flucht.
Die Matriels schienen Oberwasser zu bekommen. Schon war der Ring um EVA-01 wieder geschlossen, schon rückten sie in geschlossener Front vor.
Ein Netzstrahl traf die Beine des EVANGELIONs, fesselte sie an die Stahlhülle des Schiffes.
EVA-01 schwang sein Messer in weiten Kreisen, versuchte sich die Arachnoiden vom Hals zu halten.
Ein größerer Matriel tauchte plötzlich zwischen seinen Artgenossen auf, kletterte über diese hinweg, stieß sich ab, das Risiko, den Kontakt mit dem Schiff zu verlieren und schwebelos ins All wegzudriften, in Kauf nehmend.
Glänzend Beißzangen rasten auf EVA-01 zu, schlossen sich um den Arm mit dem Messer, trennten ihn ab.
Shinji schrie auf vor Schmerz.
Vor ihm im Sitz gab Rei ein leises Wimmern von sich.
"Shinji... es... ist... nicht... unser... Arm", stieß sie hervor.
Mühsam wich EVA-01 den heranflutenden Matriels aus, wurde schließlich unter ihnen begraben.
"Rei-chan..." flüsterte Shinji, als zuckende Spinnenbeine völlig die Optiken des EVANGE-LIONs bedeckten.
"Ja?"
"Das war´s..."
Ihr Blick fand den seinen, ihre Finger umklammerten die seinen.
"Ja."
"Ich liebe dich..."
Tränen standen in seinen Augen, nicht aufgrund der Schmerzen, die unzählige kleine Beißzangen verursachten, als sie sich durch die Panzerung bohrten und in das Fleisch des EVAs gruben, sondern weil ihm klar wurde, daß er die Worte seit Wochen hatte aussprechen wollen und immer wieder über seine eigene Feigheit gestolpert war.
"Ich weiß." antwortete sie sanft und zog ihn an sich.
Er erwiderte die Umarmung mit aller Kraft, die er noch hatte.
So sah also das Ende aus...
*** NGE ***
Ritsuko Akagi rannte.
In diesen Sekunden war sie froh darüber, sich während der endlosen Tage, die sie im NERV-HQ verbracht hatte, den Grundriß des Gebäudes eingeprägt zu haben.
Sie war bereits aufgebrochen, als Kaji noch mit dem Pförtner der Anlage gesprochen hatte, einem unguten Gefühl folgend.
Und tatsächlich - einige Stockwerke tiefer, auf der Ebene der Zentrale, erspähte sie den NERV-Kommandanten in Begleitung seiner goldblonden Schwester, wie beide in ein Gespräch vertieft in einem Raum am Ende des Korridors verschwanden.
Ritsuko mobilisierte die letzten Kräfte und folgte ihnen, gerade als das Türschott des Raumes sich zu schließen begann. Im letzten Moment zwängte sie sich durch die zufahrenden Türhälften, hörte, wie das Schott sich selbst verriegelte...
*** NGE ***
Kreischend stoben die Matriels auseinander.
Glühend heiße Energiestrahlen zuckten über den liegenden EVA-01 hinweg, pulverisierten jeden Arachnoiden, der sich in ihrer Bahn befand.
EVA-01 wies zahlreiche kleine Bißwunden auf, die Panzerung war an vielen Stellen beschädigt und zähe rote Flüssigkeit trat an mehreren Stellen aus.
Der EVANGELION stemmte sich auf die Ellenbogen und blickte in die Richtung, aus der die Strahlen abgefeuert wurden.
Auf einem Metallkamm stand EVA-02, ein Lasergeschütz auf der Schulter, dabei einen wahren Salat von Kabeln hintersichherziehend, der bis zu einem Loch in der Schiffshülle führte.
"A-Asuka?"
"Wer sonst, Baka-Shinji? Dachtest du ernst, ich lasse meinen ältesten Freund einfach im Stich? Von wegen - ich mußte nur erst eine ausreichend große Dose Insektenspray besorgen!"
"Aber wie...?"
Shinji spürte die Bißwunden, die EVA-01 erlitten hatte, als wäre es sein eigener Leib gewesen. Ohne Reis Hilfe hätte er den EVANGELION wahrscheinlich nicht wieder auf die Beine bekommen.
"Oh, ganz einfach, ich habe diesen Geschützturm entdeckt und gedacht - Hey, das Ding können wir doch auch benutzen, also..."
"Eigentlich war´s ja meine Idee..."
"Schnauze, Touji! Jedenfalls habe ich EVA-02 das Geschütz aus der Hülle brechen lassen, dann die Steuerung mit dem taktischen Computer verbunden und - bumm! Ha!"
Sie gab ein paar weitere Feuerstöße ab, bis keine Angeloi mehr in der Nähe waren.
"Hähä! Ich bin nicht umsonst die Enkelin von John J. Rambo!"
"Das glaube ich dir auf´s Wort", kommentierte Touji trocken.
Asuka ignorierte ihn.
"Wie sieht´s bei euch aus?"
"Wir leben. Danke, Asuka."
"Kein Problem. EVA-01 hat einiges abbekommen."
"Stimmt", kam es von Rei. "Wir..."
In diesem Moment erreichte das Schwarmschiff den Wirbel des Portales - und verschwand darin!
*** NGE ***
Als Kaji und Aoba die Zentrale erreichten, herrschte dort helle Aufruhr. Nur Lieutenant-Colonel Falk war völlig ruhig.
"Meine Herren, wir haben wieder Kontakt mit Antarktica - die Invasion wurde abgewehrt, das Portal am Südpol ist zerstört."
"Großartig!" rief Kaji. Doch seine gute Laune verflog schlagartig wieder, als er Falks düsteres Gesicht bemerkte.
"Dafür haben die POLARIS-Satelliten das entdeckt..."
Er deutete auf den großen Bildschirm. Dieser zeigte ein metallenes Objekt, welches mitten in der Leere des Alls schwebte. Es erinnerte an eine geöffnete Sonnenblume.
"Was ist das?"
"Laut MAGI eine weitere Portalempfangsstation. Sie hat sich gerade eben enttarnt und den Betrieb aufgenommen."
"Oh, nein... Dann war die Invasion am Pol nur ein... Ablenkungsmanöver."
"Sieht so aus. Von Canaveral und Baikonur sind die DEFENDER-Einheiten bereits gestartet. Wir sind dabei, NIMROD in Betrieb zu nehmen, allerdings... unsere Kontrollen wurden vom Schaltraum aus blockiert. Und meine Frau meldet sich nicht... Diane ist bereits an der Sache dran..."
Er war im Begriff, aus der Zentrale zu stürmen.
Kaji und der Captain folgten ihm zusammen mit einigen Operatoren.
Der Marsch endete vor einem Panzerschott, an dessen Codeschloß bereits zwei Techniker zugange waren.
"Und?"
"Von innen verriegelt."
Falk stieß eine Reihe von Flüchen aus, die so manchen Seemann hätten rot werden lassen.
"Holen Sie schweres Gerät, wir müssen da ´rein!"
"Sir, das ist ein atombombensicherer Bunker, Sie wissen selbst, welche Sicherheitsmaßnahmen wir ergriffen haben, um zu verhindern, daß die Kontrollschaltungen dem Feind in die Hände fallen könnten..."
"Aber vielleicht ist er schon drin", warf Kaji ein.
Falk fuhr herum.
"Reden Sie, Mann!"
*** NGE ***
Ritsuko preßte sich gegen die kalte Metallwand in ihrem Rücken. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die schwache Beleuchtung. Vor ihr lag ein mit leichtem Gefälle nach unten führender Gang.
Sie schluckte und folgte dem Gang, gelangte in eine Halle, die mit Schaltkästen gefüllt war. Vorsichtig bewegte sie sich zwischen den Kästen entlang, kam in einen zweiten, kleineren Raum, der Ähnlichkeit mit einem Leitstand hat.
Ein hufeisenförmiger Tisch mit Bildschirmen und Schaltelementen füllte den Raum so aus, daß man sich beinahe daran vorbeiquetschen mußte.
Im Inneren des Hufeisens befand sich eine holographische Projektion der Erde und des Mondes. Die Erde wurde von zahlreichen blinkenden Objekten umkreist. Scheinbar willkürlich wurden in ständigem Wechsel einige dieser Objekte in seperaten Projektionsfeldern gezeigt.
Gerade war die internationale Raumstation ISS zu sehen, dann wieder das Hubble-Teleskop.
Vor der Schaltanlage stand Seléne Shingen, neben ihr ihr Bruder, Thomas Shigen.
Sie unterhielten sich leise.
Plötzlich erschien ein rhythmisch blinkendes rotes Licht auf der Mondumlaufbahn.
Seléne nahm hastig einige Schaltungen vor.
"Was kann das sein? - Thomas, unterrichte die Zentrale... - MAGI identifizieren das Objekt als Portal... Sal hat ein zweites Portal auf die Reise geschickt... deshalb also hat es solange gedauert, bis das Portal am Südpol wieder aktiv wurde... - Was sagt Roderick?"
"Nichts... Ich habe ihn nicht benachrichtigt."
"Was..."
Sie sah, wie er selbst einige Schaltungen vornahm.
"Nein, damit kapselst du diesen Raum völlig ab. Wir müssen NIMROD aktivieren."
"Was ist NIMROD?" fragte er hart.
Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an.
"Du weißt es nicht? - Du bist nicht Thomas..."
Erkenntnis machte sich auf ihrem Gesicht breit.
"Bardiel..."
"Zu Euren Diensten, Schwarmmutter", flüsterte er in der Sprache der Angeloi - und stieß ihr seine ausgestreckte Hand in den Bauch.
Seléne schrie auf, als die Hand in ihrem Körper verschwand, in ihren Eingeweiden wühlte, ihr S2-Organ umfaßte und zu zerquetschen begann.
Ihre Hände griffen nach seinem Unterarm, versuchten, ihn herauszuziehen.
"Zu vertrauensseelig... Die Imperatrix hat mir Eure Lebensenergie versprochen. Ihr seid die erste, die Lillims werden Euch folgen..."
Der Infiltrator warf den Kopf in den Nacken und gab ein lustvolles Seufzen von sich.
"Diese Kraft..."
Seléne schwankte, wurde aschfahl.
Das war der Augenblick, in dem Ritsuko handelte. Jetzt wußte sie, daß sie es wirklich mit einem Betrüger zu tun hatte...
Aus einem Regal zog sie einen schweren stählernen Schraubenschlüssel, rannte auf den falschen Marschal zu und schlug ihm das Werkzeug mit aller Kraft gegen den Schädel.
Mit einem ungesunden Schmatzen zerplatzte der Kopf des Mannes. Doch der Körper fiel nicht, drehte sich nur orientierungslos um die eigene Achse, zog dabei die Hand aus Selénes Leib.
Seléne Shigen brach neben dem Schaltpult zusammen.
Der kopflose Bardiel ergriff Ritsuko, schleuderte sie gegen die Wand.
Sie schlug hart mit dem Kopf an, sah für einen Moment nur Schwärze, dann unscharf, schließlich den sich nähernden Angeloi-Agenten. Aus den Resten des Kopfes schoben sich mehrere farblose Tentakel, die leicht zitternd nach ihr witterten.
Bardiel setzte sich wieder in Bewegung, kam auf sie zu.
Sie wurde sich wieder der Waffe in ihrer Tasche bewußt, zog mit zittrigen Händen die Pistole hervor, entsicherte sie, legte an.
Ihre Sicht verschwamm.
diagnostizierte sie ihren eigenen Zustand.
Sie kniff die Augen zusammen und schoß, zog den Abzug durch, bis das Magazin verbraucht war.
Der Bardiel flog zurück, als sich Einschußloch um Einschußloch in seine Brust stanzte, drehte sich noch einmal um die eigene Achse und schlug dann hin.
In Schaltraum erschien die Projektion einer Frau mit metallischer Haut.
"Lady Seléne, NIMROD muß umgehend..."
"Diane..." flüsterte die Frau am Boden.
Das Hologramm sah sich um.
"Lady Seléne, was ist geschehen?"
Diane nahm den Bardiel wahr.
"Ein erlöschendes blaues Muster..."
"Ja. Infiltrator..."
Ritsuko kam wieder auf die Beine, tastete über ihren Hinterkopf, hatte Blut an den Fingerspitzen. Mit unsicherem Schritt näherte sie sich der liegenden Seléne.
Diane wandte sich ihr zu.
"Identifiziere: Akagi, Ritsuko. Doktor der Humanmedizin. Doktor der Humangenetik..."
"Ich kann helfen." murmelte Ritsuko, ging neben Seléne in die Knie. Wieder begann sich alles um sie zu drehen.
"Nicht... mir können Sie nicht mehr helfen... NIMROD hat Vorrang... Helfen Sie mir auf..."
"Ja."
Sie griff Seléne unter die Arme und wuchtete sie in einen Sessel.
"Diane, gib ihr die Sequenzen..."
"Bestätigt. Doktor Akagi, drücken Sie folgende Tasten..."
Ritsuko kam der Anweisung nach. Zugleich nahm Seléne mit quälender Langsamkeit Eingaben vor.
"NIMROD hat Verbindung mit POLARIS. Waffen sind scharf. Erwarte Freigabe."
Seléne sah Ritsuko an. Ihr Atem ging stoßweise und ihre Augenlider flackerten.
Vergeblich versuchte sie, sich in die Höhe zu stemmen.
"Der Netzhautscanner..."
Wieder griff Ritsuko ihr unter die Arme, half ihr zu dem angewiesenen Gerät.
"Identität bestätigt. Seléne Shigen als befehlsberechtigte Person bestätigt. Erwarte Stimmmuster für Freigabe der Prioritätsschaltung."
Seléne bewegte die Lippen, brachte nicht einmal ein Flüstern zustande. In ihrem Mund breitete sich ein metallischer Geschmack aus. Sie mußte husten, spuckte Blut, rotes Blut...
Ein Gefühl von Befriedigung breitete sich in ihr aus, gab ihr neue Kraft.
Noch einmal versuchte sie es.
"Für... die... Menschheit..." flüsterte sie.
"Freigabe bestätigt. Erwarte Anweisungen."
Ritsuko hielt den Atem an.
Von Seléne kam kein Wort.
"Los, sagen Sie es ihr!"
Schweigen.
Ritsuko hielt eine Tote im Arm...
"Erwarte Anweisungen."
Dianes Stimme wurde drängender.
"Ah..."
Ritsuko schluckte.
"Schieß sie ab... Feuer eröffnen... was weiß ich..."
"MAGI bestätigen Berechtigung von Akagi, Ritsuko. Feuerfreigabe bestätigt." seufzte die Künstliche Intelligenz. "NIMROD enttarnt sich." Einen Moment lang glaubte Ritsuko, ihre Mutter vor sich stehen zu sehen.
Rund um die holographische Projektion der Erde erschienen weitere Punkte, wurden in der Vergrößerung dargestellt. Es waren künstliche Satelliten, die mit Raketenabschußvorrichtungen und Geschützen bestückt waren, orbitale Waffenplattformen.
Zugleich wurden noch in der Atmosphäre befindliche, sich bewegende Objekte gezeigt und als Shuttle der DEFENDER-Klasse identifiziert, dreizehn an der Zahl.
"Ich übernehme Koordination des Angriffes."
Der Hologramm Dianes erlosch.
*** NGE ***
EVA-01 und -02 jagten über die Oberfläche des Flaggschiffes der Invasionsflotte. Sie hatten ein Ziel, die Spitze des Bienenkorbes, dort wollte der taktische Computer die Brücke des Schiffes ausgemacht haben.
EVA-02 hatte sein Geschütz zurückgelassen. Hakenschlagend rasten sie durch die Abwehr der Angeloi, alles auf eine Karte setzend.
"Shinji..."
"Ja, Asuka?"
"Zeit, daß ich meine Schulden zurückzahle..."
"Was meinst du?"
"Ich halte sie dir vom Leib, übernimm du die Imperatrix."
"Asuka...!"
"Los! - Touji-baka, hilf mir gefälligst!"
Es knackte in der Funkleitung, die Bildübertragung wurde unscharf, als EVA-02 hinter einer Mauer von Satchiels verschwand.
Shinji fühlte nichts. Nur kalte Entschlossenheit und den Wunsch, es zu Ende zu bringen.
"Rei, bist du bereit?"
"Ja."
Ihrer monotonen Stimme war nicht zu entnehmen, was sie dachte, doch der sanfte Druck, den ihre Finger auf die seinen ausübten, sagte mehr als tausend Worte.
Noch einmal beschleunigte EVA-01, schleuderte einen massigen Satchiel einfach zur Seite.
Der Weg war frei. Vor ihnen befand sich ein großes wabenförmiges Sichtfenster, hinter dem Shinji und Rei mehrere menschengroße Angeloi des Satchieltyps sehen konnten. Und inmitten der Kommandozentrale des Schwarmschiffes saß die Imperatrix auf ihrem Thron.
EVA-01 ballte die Faust, holte aus und schlug zu, zerschmetterte das Sichtfenster...
