Nächtliche Begegnungen
Nein, gemütlich war es hier nicht. Sam rieb sich das
schmerzende Knie, während er vergeblich versuchte, in der ihn umgebenden
Dunkelheit irgendetwas auszumachen. Die Nacht war stockfinster. Er wußte, daß
er sich sehr, sehr vorsichtig bewegen mußte, weil er auf einem schmalen Sims
stand, der vom Fenster aus rund um die Außenwand des Turmzimmers verlief. Das
Fenster, aus dem er eben geklettert war und an dem er sich das Knie so elend
gestoßen hatte, war jetzt wieder von dem schweren Brokatvorhang verdeckt, der
kein Licht und kaum ein Geräusch durchließ. Sam hatte eine laute Männerstimme
erwartet, nahm aber nur undeutliches Geflüster wahr.
"Naja," dachte er, "So endet es, wie ich es mir vorgestellt habe.
Hätte ich mir ja gleich denken können. Ich bin ja nur ein unansehnlicher
kleiner Hobbit." Er ließ den Kopf hängen und gab sich für eine Weile
seinem Selbstmitleid hin. Hinter dem Vorhang ging das Geflüster allmählich in
unterdrücktes Stöhnen über, was Sams schlechte Laune auf den absoluten
Nullpunkt sinken ließ. Er tastete sich ein bißchen weiter den Sims entlang, um
das nicht mit anhören zu müssen.
Plötzlich gab es im Zimmer ein hektisches Geraschel und Getrappel, dann teilte
sich der Vorhang und ein Lichtstrahl fiel heraus. Für einen Moment wurde eine
vertraute, kleine Gestalt sichtbar, die aufgeregt den Fenstersims erklomm.
"Herr Frodo!" hätte Sam beinahe laut ausgerufen. Frodo wendete sich
vom Fenster zur anderen Seite des Simses, ohne etwas von Sam bemerkt zu haben,
zog seine Hosen hoch und blieb mucksmäuschenstill stehen. Auch Sam gab keinen
Laut von sich. Die Situation erschien ihm plötzlich peinlich.
So standen beide eine Weile im Dunkel rechts und links vom Fenster und schon
begann sich Sam zu fragen, wie er Frodo seine Anwesenheit bekanntmachen sollte,
ohne ihn zu erschrecken, da begannen wieder Geräusche aus dem Zimmer zu
dringen. Geflüster und unterdrücktes Kichern – offenbar hatten da zwei Leute
viel Spaß miteinander. Sam glaubte zu bemerken, daß Frodo zusammenzuckte, als
die Laute an sein Ohr drangen. Das Gekicher hielt an und nahm an Lautstärke
noch zu, bis es urplötzlich abbrach. Irgendetwas schepperte, der Vorhang wurde
wieder aufgerissen und jemand erschien am Fenster. Eine halbwüchsig wirkende, bärtige
Gestalt, aber von viel kräftigerem Körperbau als ein Hobbit, und – was war
das? Hatte Sam da eine Axt schimmern sehen? Der neue Gast auf dem Fenstersims
wendete sich nach rechts, wo Frodo stand. Es gab einen kleinen Zusammenstoß und
danach ein verblüfftes Schweigen, wie es immer eintritt, wenn zwei plötzlich
merken, daß sie im selben Boot sitzen und das Boot ein großes Leck hat.
Kurz darauf wurde es im Turmzimmer wieder laut. Und wie. Jetzt ging es richtig
zur Sache. Kleine, spitze Schreie ertönten in kurzen Abständen, dazu lautes Stöhnen
und Keuchen. Unaufhörlich knarrte ein hölzerner Bettrahmen. Sam wünschte sich
ganz weit weg. "Ein Seil!" ging es ihm durch den Kopf, "Ich wußte,
ich würde ein Seil brauchen, wenn ich keins habe."
Da wurde an die Tür gehämmert, so laut, daß man es bis draußen vor dem
Fenster hören konnte. Sofort verstummten die Geräusche im Raum und eilige Fußtritte
näherten sich dem Fenster. Als diesmal der Vorhang aufging, konnte Sam nichts
Deutliches erkennen. Eine dunkle Wolke schob sich vor das Licht, das aus dem
Zimmer fiel; es war wie ein Schatten, in dessen Mitte sich ein dunkler Umriß
abzeichnete, von Menschengestalt vielleicht, doch größer; und Chaos und Unrast
schien in ihm zu sein und ihm voranzugehen. Er war gar nicht überrascht über
Sams Anwesenheit, sondern drängelte nur und nuschelte dabei: "PUH!
MANNOMANNOMANNOMANN! RUTHMARUTHMARUTHMA!"
[Aussprachehilfe: das TH wird ähnlich wie das englische th gesprochen, nur noch lispelnder und etwas nuschelnd.]
Sam war verwirrt, weil er die Gestalt im Inneren dieses
Schattens nicht klar ausmachen konnte. Jetzt zischelte es noch einmal:
"RUTHMATHNELL!"
"Ist ja gut," flüsterte Sam, "Ich rutsch ja schon, aber schnell
geht das nicht." Er wagte sich vorsichtig ein Stückchen weiter und der
Neuankömmling machte sich auf dem Sims breit. Dabei bewegte er seinen Kopf hin
und her und winkte sogar kurz zu Frodo und Gimli hinüber, die ihn allerdings
geflissentlich ignorierten. Da wendete er sich wieder zu Sam und gab ihm einen
konspiratorischen Stoß in die Rippen. "HATHUAUHMIAHWEN?" fragte das
schattenartige Wesen – und da wurde es Sam endlich klar: Ein LALLROG! Wehe!
Wehe! Ein Lallrog war gekommen.
"HATHU AUH?" wiederholte der Lallrog, "MIH AHWEN?"
"Ja, ja, ich hab' auch mit Arwen," gab Sam mißmutig zurück,
"aber nur ganz kurz." "Eigentlich gar nicht," dachte er bei
sich, aber das mußte er diesem Wesen ja nicht auf die Nase binden. Der Lallrog
schien dagegen sehr mitteilungsbedürftig zu sein, denn er begann wieder zu
nuscheln: "MANNOMANNOMANN! WATHNWEIB, WATHNWAHNTHINTHWEIB, WATH?"
Der gute Sam hätte niemals eine Frau als Wahnsinnsweib bezeichnet, aber er
machte gute Miene zum bösen Spiel und nickte kurz. Das genügte dem Schatten
als Aufforderung zum Weiterlabern: "THUPERHEITHERTHEX WATH?
REINRAUTH-REINRAUTH-REINRAUTH! TSCHUGGTSCHUGG-TSCHUGGTSCHUGG!" Sam schüttelte
sich. Wenn das alles war, was ein Lallrog draufhatte, dürfte Arwen sich nicht
besonders amüsiert haben.
"UNDWIETHIETHREITWENNTHIEKOMMT!" fuhr der Lallrog fort,
"GEILGEILGEILWIE? GEILGEILGEILWATH?" Sam gab keine Antwort mehr. Ihm
begann der Kopf zu brummen.
"HATHUAUHGETHPÜRT" sabberte ihm der Schatten ins Ohr, "AUH GETHPÜRT
WIE THIE THAPPELT?"
Nein, gezappelt hatte sie bei Sam eigentlich nicht. Ihm wurde jetzt langsam übel.
Der Lallrog aber richtete sich zu seiner vollen Größe auf und der Schatten um
ihn schien sich wie zwei riesige Flügel meterweit zu erstrecken.
"THOOOOOEINENLANGENHABICHGEHABT!" brüstete er sich und reckte die Flügelspitzen
noch ein bißchen weiter auseinander. Ein Schwindel erfaßte Sam, als er nach
oben sah, um die Fünfmeterspannweite zu begutachten. Eine solche Länge hätte
nie ins Turmzimmer gepaßt. Der Lallrog schien Sams Zweifel zu spüren und schob
seine Flügel wieder etwas zusammen. "NAJA, ALTHO - FATHT THO LANG,"
nuschelte er versöhnlich. "UNDGEKOMMENITHTHIEBEIMIR - THWANTHICHMAL!
MINDETHTENTH!"
Farbige Ringe und Sterne tanzten vor Sams Augen. Seine Knie zitterten und er
schwankte. "THWANTHICHMAL!" wiederholte der Lallrog,
"HATHUDATHNICHGEHÖRT?"
Sam konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Mit dem letzten Rest seines
Verstandes überlegte er, ob die Schreie, die er gehört hatte, nicht vielmehr
auf einen Holzsplitter in Arwens Allerwertestem zurückzuführen waren.
"HATHUTHGEHÖRT?" insistierte der Laller, "WIE ICHTH IHR BETHORGT
HAB? UN WIE THIE GEQUIEKT HAT?"
In diesem Moment verlor Sam das Gleichgewicht und fiel mit ausgestreckten Armen
vornüber ins Leere. Ein scharfer Luftzug wehte ihm ins Gesicht und die Mauer
des Turms sauste auf einmal an ihm vorbei. Er sah den Erdboden mit rasender
Geschwindigkeit näherkommen und erwartete den Aufprall. Da schob sich auf
einmal der dunkle Schatten dazwischen, der seinen Fall bremste und ihn sanft
festhielt. "NU THAG THON: HATHUTHGEHÖRT? THAG THON!"
"Ja..." hauchte Sam mit letzter Kraft und fühlte sich vorsichtig auf
den Boden gesetzt. Während ihm die Sinne schwanden, schien eine Stimme in
irgendeiner vergessenen Welt hoch oben zu nuscheln: "THO, JETHZ MUTH ICH
ABA LOTH. HAB NOCHN RONDEHWUH HEUT NACHT. MIT DER LADY VON ROHAN. ITH AUCH GANTH
THEXY, DIE KLEINE. UND THO THÖN BLOND. NETTE ABWECKTHLUNG. ALTHO MACHTH GUT.
MAN THIEHT THICH."
* * * * * * *
Als Sam erwachte, lag er in dem weichen Bett im Turmzimmer
und sah die besorgten Gesichter von Frodo und Gimli über sich. Aragorn warf
gerade einige Blätter in einen Topf mit kochendem Wasser, und sofort breitete
sich ein erfrischender Duft im Raum aus, der Sams Geist wohltat und ihn
beruhigte. "Sam," rief Frodo, "Wie fühlst du dich?" Aragorn
kam herbei und legte Sam eine Hand auf die Stirn. "Er wird es überstehen,"
verkündete er ernst. "Aber er hat sehr viel Glück gehabt. Nur wenige
Sterbliche, die von einem Lallrog belabert werden, überleben diese Marter
unversehrt. Du hattest Glück, Sam, daß er dich nur kurz vor seinem Labermaul
hatte. Wie um alles in der Welt bist du ihm nur so nahe gekommen?"
"Also, ich... -äh..." begann Sam zu stottern, da unterbrach ihn Frodo
und sagte rasch: "Es war genauso, wie ich vorhin schon erzählte,
Streicher. Wir drei, Gimli, Sam und ich, machten einen Abendspaziergang an der
frischen Luft. Da fiel uns ein merkwürdiger Schatten auf, der um das Turmzimmer
von Lady Arwen kreiste. Wir wollten sie nicht unnötig stören, deshalb stiegen
wir über die Dächer zum Turm hinauf. Und dort wurden wir von dem Lallrog
angefallen, der Sam mit in die Tiefe riß. Glücklicherweise verhedderten sich
beide, so daß der Lallrog gezwungen war, Sam mitzutragen und auf dem Boden
abzusetzen. Den Rest hast du miterlebt."
"In der Tat," sprach Aragorn, "Und es war ein ganz schöner
Schreck für Arwen und mich, als ihr beide plötzlich durchs Fenster geklettert
kamt. Ach ja - ähm - Im Interesse unserer Freundschaft bitte ich euch übrigens,
zu vergessen, was ihr da gesehen habt. Das sind Privatangelegenheiten."
Dabei schob er mit dem Fuß eine schwarze Gummimaske, eine Peitsche, ein Paar
Handschellen und andere Utensilien unauffällig unter das Bett.
Als Sam sich aufsetzte, sah er, daß Arwen, züchtig in einen hochgeschlossenen
weißen Umhang gehüllt, am Kopfende des Bettes saß. Sie blickte von Sam zu
Frodo und Gimli. "Ich bin euch allen überaus dankbar!" sagte sie und
ihre dunklen Augen leuchteten. "Erst die Zukunft wird erweisen, wie gut es
war, daß ihr drei heute nacht euren Mann gestanden habt."
