Der Koffer war nicht aus der Kutsche gefallen, er war noch trocken und es gab Abendessen. Remus seufzte, als er den Hauselfen davoneilen sah, der ihm mitgeteilt hatte, welche Räume ihm zugeteilt worden waren. Zu seiner Erleichterung war es ein Lehrerquartier in unmittelbarere Nähe seines alten Klassenzimmers, das natürlich auch in diesem Jahr wieder für die Verteidigung gegen die dunklen Künste genutzt werden würde. Noch an diesem Abend würde er das Equipment prüfen und eventuell einige Eulen verschicken, um seine Lieferanten zu benachrichtigen.

Doch zunächst stand die Auswahlzeremonie bevor und seine Anwesenheit war unumgänglich. Er passierte einige Korridore und erreichte die Halle schließlich durch einen kleinen Hintereingang, der ihm ein unauffälliges Erscheinen ermöglichte. Der Gesprächsteppich, den die Schüler webten und der über allem schwebte, noch über den Kerzen, aber unterhalb des ruhigen, schwarzen Nachthimmels, schlug ihm entgegen. Ebenso wie der Geruch nach Kürbissaft und schweren Möbeln war dieser Teil der Atmosphäre typisch für Hogwarts. Das Schloss war allumfassend beeindruckend, es nahm einen gefangen und wenn man es verließ, spürte man eine tiefe Sehnsucht, die nie ganz ausstarb. Hogwarts war ein Ort der Träume und Pläne, eine Zuflucht und eine Schmiede für jene, die ihre Zukunft suchten und ihren Platz noch nicht gefundenen hatten.

Es freute Remus ungemein, nun wieder Teil jener Gemeinschaft zu sein. Der Lehrertisch war bereits voll besetzt und für einen Moment befürchtete er, sich neben Snape setzen zu müssen, doch tatsächlich war der hohe Lehnstuhl neben Albus Dumbledore noch frei. McGonagall, die in ihre üblichen smaragdgrünen Umhang auf der anderen Seite des Direktors saß, wandte ihren Kopf und nickte ihm grüßend zu. Minerva war seiner Meinung nach eine Frau, die ebenso alterslos war wie Albus. Ihr Haar, zu einem strengen Knoten im Nacken zusammengebunden, glänzte schwarz im tanzenden Licht der Kerzen und in ihrem Profil vereinigten sich Strenge mit Güte, die durch die winzigen Lachfältchen in ihren Augenwinkeln verraten wurde. Sie war bereits zu seiner Schulzeit Lehrerin gewesen, hatte die Universität mit Riesenschritten durcheilt und war bereits mit Anfang 20 in das Schloss zurückgekehrt. Er empfand großen Respekt vor ihr, da er wusste, dass sie, wenn es einmal hart auf hart kam, bis zum Ende unerschütterlich an Albus Dumbledores Seite stehen würde.

Gefangen in seine Gebtrachtung, trat Remus hinter seinen Stuhl und umfasste die Lehne mit beiden Händen, während er in den Saal hinunter sah. Einzige Dutzend Schülergesichter blickten ihn an, bekannte und unbekannte. Ob sie wussten, warum er hier war? Dass Albus Dumbledore seine Getreuen um sich versammelte, da er fürchtete, dass raue Zeiten bevorstanden? Er wünschte es ihnen nicht. Damals, als Voldemort zum ersten Mal mächtig geworden war, war dieses Thema in seinem Freundeskreis fast völlig ignoriert worden. Aus ihrer Perspektive war die Gefahr so weit entfernt und sie selbst so sehr gewöhnt an die Umsorgung und den Schutz durch die Schule. Zu dem Zeitpunkt, an dem sie noch Jungenstreiche gespielt hatte, war eine stattliche Anzahl ihrer Mitschüler zum Dunklen Lord übergelaufen, jene, die nicht derart aufgefangen wurden, die keine Freude oder Familie besaßen.

Remus nachdenklicher Blick glitt herüber an den Tisch der Slytherins. Sie waren, obwohl bitter und grausam, vielleicht der wahre Grund, warum er zurückgekehrt war. Er wollte verhindern, dass noch mehr Kinder unter den Einfluss Voldemorts gerieten. Um Harry, Ron und Hermine machte er sich keine Sorgen. Sie würden ihren Lebensweg unzweifelhaft erfolgreich gestalten. Selbst in Draco Malfoy sah er das Potential, sich gegen das vorgeschrieben Schicksal zu wenden und aus dem Schatten seines Vaters Lucius hervorzutreten. Doch bis dahin brauchte es noch viel Mühe und Zeit, Faktoren, die sie vielleicht nicht aufbringen konnten, wenn sich der Kampf mit Voldemort verschärfte. Remus hoffte, dass es noch nicht zu spät war.

Neben sich, am anderen Ende des Tisches, zog Severus Snapes Gesicht ganz automatisch seine Aufmerksamkeit auf sich. Er war in Remus Auge einer jener Mitschüler von damals, der verlorengegangen, ein Todesser geworden war. Und so sehr er Snape auch verabscheute, der Meister der Zaubertränke hätte in seiner Schulzeit vielleicht nur ein paar aufmunternde Worte mehr gebraucht und damit vielleicht nicht jene stille, Böses ausstrahlende Gestalt geworden, die wie ein Dämon am Tisch hockte und völlig aus dem Rahmen fiel. In diesem Moment hob Snape seinen Kelch und prostete ihm spöttisch zu, so als wisse er ganz genau, was Remus dachte und mache sich darüber lustig. Schnell senkte Remus den Blick und setzte sich hin. Auf eine Auseinandersetzung mit dem Zyniker vom Dienst hatte er keine Lust. Dies war sein erster Abend und er wollte ihn genießen. Das Schuljahr war noch lang genug und es würden viele Gelegenheiten kommen, Snape an die Kehle zu gehen. Ob nun verbal oder tätlich, musste er sich noch überlegen. Mit einer kleinen Portion Wut im Bauch schüttelte er den Kopf über seine verworrenen Gedankengänge und merkte erst beim zweiten Mal, dass Albus Dumbledore ihn angesprochen hatte.

"Manchmal sollte man glauben, dass die Welt stillsteht, nicht wahr, Remus?", erkundigte sich der weise Zauberer so leise, dass nur sie beide seine Worte hören konnten. "Alte Feinde bleiben ebensolche und die Freunde haben sich auch nicht verändert. Hin und wieder ist es schön, so im Lauf des Lebens verharren zu können. Aber es ist ebenso gefährlich, davon gefangen zu werden und vielleicht den Anschluss an das Leben selbst zu verlieren."

Remus war erstaunt und ein wenig erschrocken, als er den sanften Ausführungen Dumbledores folgte. Natürlich hatte der Direktor die Szene zwischen ihm und Snape mitbekommen, da es auf Hogwarts nichts gab, das ihm entging. Aber was er gesagt hatte, hatte nicht nur etwas mit den kleinen Streitigkeiten zu tun. Es war, als könne Dumbledore in die Herzen der Menschen sehen und ans Tageslicht zerren, was dort verborgen war. Es stimmte, er hatte es während der Fahrt nach Hogwarts bereits einige Male überdacht. Sein Leben zog an ihm vorbei wie die Landschaft vor einem Zugfenster. Nichts änderte sich, er änderte sich nicht. Dumbledore hatte Recht, er musste etwas tun. Doch Hogwarts war dafür bekannt, dass es immer wieder Überraschungen zu bieten hatte. Vielleicht färbte das Schloss ein wenig auf seine Wirklichkeit ab. Nachdenklich lehnte sich Remus in seinem Stuhl zurück. Die Auslosung der Erstklässler und die Rede Dumbledores bekam er nur mit halbem Ohr mit. Ja, er war angekommen und es gab viel zu tun.