Zu Remus Glück musste er am nächsten Tag erst zur fünften Stunde aufstehen und so bekam er trotz einer Nacht voller beunruhigender Träume genug Schlaf, um nicht völlig übernächtigt zu sein und auch so auszusehen. Dennoch lief er durch die Schule wie ein Schlafwandler. Zu viele Fragen schwirrten in seinem Kopf herum. Wie konnte ein Vampir in die Schule eindringen, ohne dass irgendjemand es bemerkte? Die Schutzzauber, die um die kantigen Mauern des Schlosses gewunden waren wie Seidenpapier um ein kostbares Geschenk, funktionierten einwandfrei. Warum also griff Dumbledore nicht ein? Er wusste schließlich um alles, was in Hogwarts geschah.

Der Rest des Vormittages lief gut, keine Verletzten, kein Angst und Schrecken. Er verteilte die Aufgaben für ein Gemeinschaftsprojekt zwischen Ravenclaws und Hufflepuffs und ließ in der zweiten Klasse einen Überraschungstest schreiben, damit die Schüler merkten, dass er zwar Spaß verstand, ihnen trotz allem aber noch etwas beibringen musste. Beim Mittagessen traf er zum ersten Mal wieder auf Snape, der eigenbrötlerisch wie immer in seinem Stuhl saß und seine scharfen Augen über das Geschehen in der großen Halle wandern ließ.

Remus hätte nur zu gern gewusst, ob sich unter den unordentlich fallenden, schwarzen Haaren vielleicht zwei Bisswunden befanden, doch um das herauszufinden, fühlte er sich noch nicht ruhig genug. Sich mit Snape anzulegen war noch niemandem gut bekommen, und trotzdem konnte er die in der Nacht gefallenen Worte nicht vergessen. Dieser Mann hatte Macht über ihn. Er konnte ihn mit einer falschen Zutat, einem ungenauen Maßbecher zur reißenden Bestie werden lassen. Dann wäre er nicht mehr der Werwolf, der gezähmt in seinen Gemächern auf dem Teppich lag oder Streifzüge durch den Verbotenen Wald unternahm.

Nach dem Essen gab es die übliche Mittagspause, die Remus für einen kleinen Spaziergang nutzen wollte. In der einen Woche, die er jetzt wieder in Hogwarts weilte, hatte er wenig Zeit gehabt, seine alten Freunde zu besuchen. Deswegen führten ihn seine Schritte über die grünen Wiesen direkt zu Hagrids Hütte, die im weichen Licht des Spätsommertages einsam und windschief am Rand des Waldes stand. Der Wildhüter und jetzige Lehrer für Pflege magischer Geschöpfe war nicht beim Essen anwesend gewesen, was bei Remus die Spekulation auslöste, dass er vielleicht wieder mit einem seiner exotischen Geschöpfe beschäftigt war. Der Halbriese war schließlich dafür bekannt, sich für diejenigen einzusetzen, die Menschen als gefährlich, beängstigend oder gar lebensunwürdig erschienen. Vermutlich fühlte sich zu ihnen hingezogen, da sie ein wenig wie er waren. Ausgestoßene in einer magischen Welt, die alle nicht-menschlichen Wesen klassifizierte, ihnen verbot, die ihnen eigene Magie zu nutzen und sie manchmal sogar verfolgt. Remus verkniff sich ein Lächeln, als er in die hoch stehende Sonne blinzelte. Aus genau jenen Gründen mochte er Hagrid und seine "Freunde" sehr gern.

Die Hütte lag bemerkenswert ruhig da und auf Remus Klopfen hin tat sich erst einmal gar nichts. Doch dann öffnete sich die windschiefe Tür mit einem satten Quietschen, das nach etwas Öl für die Scharniere schrie. Hagrid lugte vorsichtig heraus und als er erkannte, wer vor seiner Tür stand, lächelte er. Oder zumindest ahnte Remus dieses Lächeln, denn unter Hagrids buschigem Bart war nicht viel zu sehen. Doch seine Augen blickten freundlich und winzige Lachfältchen waren in ihren Winkeln zu sehen.

"Ah, Professor Lupin, mit Ihnen hatte ich nicht gerechnet."

"Ein kleiner Freundschaftsbesuch, Hagrid, kann ich hereinkommen?"

"Oh, äh, ja natürlich!" Ein wenig fahrig, so als sei er mit den Gedanken woanders, öffnete Hagrid die Tür schließlich ganz und ließ Remus eintreten. Es war, als würde er gegen eine Wand laufen. Doch es war lediglich ein Geruch, der im kleinen Innenraum der Hütte stillzustehen schien. Remus verzog das Gesicht. Überall, auf Tische und Stühlen, selbst auf dem Fußboden, lagen Berge von Knoblauch und es sah fast so aus, als hätte das Zusammenbinden des Knoblauchs zu Bündeln Hagrid den ganzen Morgen beschäftigt. Ein riesiger Korb war mit kurzen Holzstücken gefüllt, die an einem Ende angespitzt waren. "Ist'n bisschen eng und riecht nicht so gut."

"Kann man nicht behaupten, nein!" Remus versuchte, die Angelegenheit heiter zu nehmen, aber mit seinem Humor war es an diesem Tag nicht weit her. Ganz offensichtlich rüstete Hagrid auf, und das gegen einen oder mehrere Vampire. Also waren Snape und er nicht die einzigen, die Bescheid wussten, dachte Remus und fühlte sich ein erleichtert. Die unmittelbare Gefahr für die Schule und das Dorf war erst einmal abgewendet. Und dafür hatte er Snape nicht an Dumbledore verraten müssen. "Es scheint Probleme zu geben, oder?", erkundigte er sich in neutralem Tonfall. Hagrid schüttelte sein massiges Haupt und seufzte.

"Man hat in Hogsmeade ein paar Blutsauger gesehen. Dumbledore ist ein wenig beunruhigt, hat mir ein paar Maßnahmen zur Prävention aufgegeben. Nichts Schlimmes." Hagrid nahm einen der Pflöcke aus dem Korb und begutachtete die Spitze fachmännisch. "Na, ja, wenn es schlimm wird, können Sie ja eingreifen. Sind ja ein Spezialist für so was. Muss ja nicht sein, das mit dem Umbringen."

"Nein, das ist wahrscheinlich zu voreilig", murmelte Remus, doch er war sich nicht sicher, ob er das wirklich glaubte. Er war ein Feind von Vorurteilen, aber seine Erfahrungen mit Vampiren waren nicht so positiv, als dass er Hagrids gemäßigten Standpunkt hätte vertreten können. Bisher hatte lediglich ein einziger Vampir in seiner Nähe keine unmittelbare Bedrohung für Menschen dargestellt. Die Frau vom vergangenen Abend. Und selbst diese eine Ausnahme trug nicht unbedingt dazu bei, der Gefahr mit weniger Vorsicht zu begegnen. "Ich wollte eigentlich nur ein wenig über alte Zeiten reden, aber wie ich sehe, sind Sie sehr beschäftigt. Ich werde ein anders Mal vorbeikommen."

"Jederzeit, Professor!", dröhnte Hagrid. "Dann habe ich ein paar schöne Kekse da."

Doch das hörte Remus nur noch mit halbem Ohr, als er aus der Hütte trat und tief die frische Luft einsog. Er musste das Gefühl loswerden, das auf seiner Brust lastete. Das Gefühl, dass ihm noch einiges bevorstand.