Remus saß in seinem Klassenzimmer und starrte an die Decke. Er war müde oder besser gesagt ausgelaugt bis in die letzte Pore. Der Vollmond war vergangen. Die letzten beiden Nächte hatte er in der Heulenden Hütte verbracht und war dort, dem Muggel-Sprichwort nach, an die Decke gegangen. Die Wände der Hütte wiesen jetzt tiefe Kratzspuren auf und seine Hände, die diese Schäden verursacht hatten, waren zerschunden und schmerzten noch immer. Er war nicht zu Madame Pomfrey gegangen, weil er sich schämte - und weil er nicht wollte, dass irgendjemand merkte, was in den vergangenen Nächten vor sich gegangen war.

"Was sitzen Sie hier und blasen Trübsal?" Albus Dumbledores sanfte Stimme brachte ihn in die Realität zurück. Wie schon so oft hatte es der Direktor der Schule geschafft, zu erscheinen, ohne dass er bemerkt wurde. Seine weite Zaubererrobe umhüllte ihn würdevoll, und selbst der locker in den Gürtel gestopfte Bart störte das Bild von Weisheit und Güte nicht, das er ausstrahlte. Um Albus Augen spielte ein Lächeln, das selten erlosch. Remus erinnerte sich an die wenigen Momente, in denen er Albus ernst oder gar wütend erlebt hatte. Er war unbestreitbar der mächtigste Zauberer auf der Welt und Remus dachte mit Schauern daran, was die Feinde Dumbledores erwartete.

Doch auch ein Freund des Direktors zu sein schützte einen nicht, wenn dieser etwas erfahren wollte. Und obwohl Dumbledore keine direkte Frage gestellt hatte, wusste Remus nun, dass es an ihm war, mit der Wahrheit herauszurücken.

Also berichtete er alles, von seinen ersten Zusammenstößen mit Snape über den seltsamen Besucher des Zaubertränkelehrers und Vollmondnächte bis hin zu der Einladung der namenlosen Vampirin nach London. Auch über ihren Willen, wieder ein Mensch zu werden, berichtete er und schloss letztendlich mit den Worten:

"Albus, ich bin wirklich nicht in der Stimmung dazu, lange Geschichten zu erzählen."

Tatsächlich hatte er seinen Bericht auf die wesentlichsten Tatsachen beschränkt und Kleinigkeiten ausgelassen, die seiner Meinung nach nicht von Interesse waren. Dass die Vampirin in seinem Bett gelegen hatte, würde Dumbledore wohl kaum wissen wollen. Oder wollte er es eigentlich gar nicht wissen? Egal. Er hob die Schultern und lehnte sich hinter seinem Dienstschreibtisch zurück. Dumbledore war während seiner Erzählung durch den Raum gewandert, hatte hier und dort seine Finger in einen Käfig gesteckt und damit ein paar kleinere Wesen maßlos erschreckt. Nun stand der Direktor an einem gut gefüllten Bücherregal und fuhr mit den Fingern über die abgegriffenen Ledereinbände der Bücher. So als habe er gar nicht zugehört, zog er einen Band hervor und blies auf die Oberseite. Eine kleine Staubwolke stieg auf.

"Wussten Sie, dass ich in meiner Jugend einmal einem ganz besonderen Mann begegnet bin?" fragte Dumbledore plötzlich völlig unerwartet und schlug das Buch auf. "Aah, ein Werk über die Wesen der Nacht." Er räusperte sich, griff den Faden wieder auf. "Er war schön, bleich und elegant. Ich war 10, als ich ihn das erste Mal traf. Es war eines Nachts und er erschien auf einmal vor mir." Remus runzelte die Stirn. Er verstand nicht ganz, was Albus Sentimentalitäten mit seiner Lage zu tun hatten. Doch der Direktor fuhr fort, als habe er seine Verwirrung nicht bemerkt. "Ich habe nie wieder ein Wesen getroffen, das mich so zu faszinieren wusste wie er. Dass er ein Vampir war, erfuhr ich erst viel später. Und wissen Sie, was ich durch die Bekanntschaft mit ihm verstehen lernte?"

"Dass man stets Knoblauch bei sich tragen sollte?" bemerkte Remus ätzend. Er hatte keine Lust, über Vampire zu diskutieren, wenn er selbst in einer Lebenskrise steckte. Dumbledore lächelte nachsichtig.

"Das auch, ja. Aber das Wichtigste, das ich erfuhr, war, dass man das Leben schätzen sollte, solange man es besitzt." Dumbledore warf das Buch achtlos vor Remus auf den Schreibtisch. Eine weitere Staubwolke stieg auf. "Das hier ist Papier, das beschreibt, was den menschlichen Geist abstößt und gleichzeitig fasziniert. Es geht um das Böse, das in allen Wesen der Nacht ruht, das mit ihnen verwurzelt ist. Auch Sie sind ein solches Wesen, Remus. Es ist Ihre Natur."

"Ja, das ist es." Remus starrte seinen Freund und Mentor an, nun gefesselt. "Was wollen Sie mir sagen, Albus? Dass jenes Böse auch in mir wohnt? Dass ich genauso bin wie die Vampire?"

"Nein, Junge!" Albus lächelte gütig und trat neben Remus. Seine welke Hand berührte kurz die Schulter des jüngeren Mannes. "Aber dieses Wissen kann ich Dir nicht weitergeben. Du musst selbst erfahren, was das Böse bedeutet, um zu wissen, dass Du weit entfernt davon bist, eine Bestie zu sein." Remus saß da, völlig verdattert. Waren all seine Erfahrung in der Erforschung der dunklen Künste denn nicht genug, um sich ein Bild machen zu können? Was verlangte Albus von ihm? Wie sollte er dieses Böse denn finden, wenn er es denn nicht schon getan hatte? Dumbledores Stimme war sehr leise, als er sagte: "Gehen Sie am Samstag nach London, Remus. Das ist die Lösung auf all Ihre Fragen."

"U - und Snape?" erkundigte sich Remus, um sich aus dem Bann seiner Vorstellungen lösen zu können. "Was ist mit ihm?"

"Samstag", wiederholte Albus nur geduldig. "Nach diesem Tag wird sich für alles eine Lösung finden lassen."