Das Vermächtnis der Gründer
+++ Kapitel 1 +++
Rückkehr nach Hogwarts
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von Skydancer
Es war ein wechselhafter Tag mitten im Juli. In einem grauen, unscheinbaren
Gebäude in der Londoner Innenstadt in einer dunklen, ebenso unscheinbaren
Straße namens Rodrigo-Street nahe des Buckingham Palace liefen ruhelos
Menschen quer durch die Großraumbüros und gingen ihrem gewohnten
Arbeitsablauf nach.
Diejenigen, die jenem Verwaltungskomplex in der Rodrigo-Street zehn
arbeiteten, waren Abbilder des durchschnittlichen britischen Staatsbürgers,
der sich gegen Abend genüsslich seinen Tee mit Milch neben der Financial
Times genehmigte. Doch eine Mitarbeiterin war alles andere als dieser Durchschnitt.
Sie las keine Financial Times, sondern den Tagespropheten, sie trank keinen
Tee, sondern Kürbissaft, aber der größte Unterschied zu
ihren Kollegen war wohl der, dass sie magische Kräfte besaß.
Elaine Laudry war eine Hexe im Alter von zweiunddreißig Jahren,
deren auffälligstes Merkmal wohl ihre dunkelblonden, schulterlangen
Haare waren, die, wenn sie sie nicht ständig in einem Zopf zusammen
gebunden hätte, in alle Richtungen wild abstehen würden. So wie
viele andere Zauberer und Hexen zuvor hatte sie an der Hogwarts-Schule
für Hexerei und Zauberei ihre schulische Ausbildung erhalten und nachdem
sie ihr Studium der Zauberei an der UfgaM, der Universität für
gelangweilte oder arbeitslose Magier, die einzige Universität für
Hexerei und Zauberei auf der ganzen Welt, beendet hatte, war sie einen
für Magier sehr ungewöhnlichen Weg gefolgt: Sie hatte sich fast
vollständig von der magischen Welt losgesagt und lebte nun unter Muggeln.
Ihre Pflegeeltern, die immer darauf geachtet hatten, dass sie niemals
die Beziehung zu der nichtmagischen Welt verlieren würde, waren wohl
auch ein Grund dafür gewesen, dass sie sich nach ihrem Abschluss auf
der UfgaM einen typischen Muggelberuf angenommen hatte.
Sie hatte geglaubt, die Muggel und ihre Kultur ständen ihr näher
als die Welt der Magier, und so hatte sie sich entschieden, in die Welt
zurückzukehren, in der sie bis zu dem Tag in ihrem elften Lebensjahr,
an dem ein Brief aus Hogwarts kam, gelebt hatte. Doch zufrieden war sie
mit dieser Entscheidung nicht gewesen. Sie hatte das Gefühl, für
immer zwischen zwei Welten stehen zu müssen, die sich schwer miteinander
vereinen ließen.
Gegen achtzehn Uhr verließ Elaine den trostlosen Bürokomplex
und begab sich in Richtung U-Bahn. Graue Wolken hingen über dem Himmel
von London und verdeckten fast vollständig die Sicht auf die Sonne.
Es war ein Tag mitten im Juli, doch man konnte meinen, es sei April. Ständig
wechselten die Wetterverhältnisse von Regen, Sturm und Sonnenschein.
Als die ersten Regentropen auf dem staubigen Asphalt der Straßen
trafen, suchten die meisten Menschen Schutz unter Regenschirmen oder überdachten
Eingängen von Geschäften und Wohnhäusern. Um nicht nass
zu werden, rannte Elaine die wenigen Meter bis zum U-Bahnhof. Von der Rodrigo-Street
bis zu ihrer Wohnung in der Boston-Street waren es nur drei Stationen,
so dass sie die U-Bahn so schnell verließ, wie sie sie betreten hatte.
Zum Glück hatte sich der Regen bis dahin wieder verzogen und die Sonne
lugte hinter ein paar hellgrauen Wolken hervor.
Elaine ging die Straße entlang bis zur Boston-Street einhundert.
Im fünften Stock hatte sie ihre Wohnung, ein kleines Zwei-Zimmer Appartement,
welches einen wundervollen Blick über die Londoner Innenstadt bot.
Die Miete war deshalb auch entsprechend hoch, so dass sie stets pleite
war. Oben angekommen stellte sie nur ein paar Arbeitsunterlagen auf den
überfüllten, unaufgeräumten Schreibtisch, in der Absicht,
die Wohnung gleich wieder zu verlassen. Sie war bei den Jacksons, ihren
Pflegeeltern, um neunzehn Uhr zum Abendessen eingeladen und ein kurzer
Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es bereits höchste Zeit war. Bevor
sie das Haus verließ, warf sie ihre Post mit Ausnahme des Tagespropheten
achtlos in ihre Handtasche.
In der U-Bahn hatte Elaine die Gelegenheit, sich die zwei Briefe, welche
sie erhalten hatte, näher anzuschauen. Der eine interessierte sie
weniger, denn sie konnte sich schon denken, dass dies die Arztrechnung
von ihrem Zahnarzttermin vor einem Monat sein würde.
Bei dem anderen Brief jedoch stockte ihr der Atem. Er trug keine Briefmarke
und nur ein großes Siegel aus rotem Wachs, auf dem sich ein Dachs,
eine Schlange, ein Adler und ein Löwe um ein großes H reihten,
ließ auf den Absender schließen - Hogwarts. Warum sollte sie
einen Brief von Hogwarts erhalten? Sie hatte ihre Ausbildung dort vor vierzehn
Jahren abgeschlossen.
Vorsichtig brach sie das Siegel, lehnte sich so zurück, dass kein
Muggel, der sich mit ihr in der U-Bahn befand, etwas von dessen Inhalt
erspähen konnte, und las das Schreiben:
HOGWARTS-SCHULE FÜR HEXEREI UND ZAUBEREI
Schulleiter: Albus Dumbledore
(Orden der Merlin, Erster Klasse, Großz., Hexenmst.
Ganz hohes Tier, Internationale Vereinig. d. Zauberer)
Sehr geehrte Miss Laudry,
durch Annoncen im Tagespropheten schrieb die Hogwarts-Schule für
Hexerei und Zauberei die Lehrerstelle für die Verteidigung gegen die
dunklen Künste aus.
Leider erfolgten keine Bewerbungen auf o.g. Stelle. Aus diesem Grund
hat sich der Schulrat entschlossen, geeignete Kandidaten anzuwerben. Ihre
Personalunterlagen haben wir von der UfgaM angefordert. Sollten Sie an
der Stelle interessiert sein, schicken Sie mir eine Eule bis spätestens
31. Juli 1995. Ich hoffe auf baldige Antwort und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Minerva McGonagall
Stellvertretende Schulleiterin
Elaine faltete den Brief säuberlich zusammen und steckte ihn zurück
in den gelblichen Umschlag. Eine Weile starrte sie aus dem Fenster der
U-Bahn, das in monotones Schwarz gefärbt war. Dann blicke sie wieder
auf den Umschlag, den sie immer noch in ihren Händen hielt und fühlte
sich unwillkürlich in ihre Schulzeit zurückversetzt.
An ihre Zeit in Hogwarts konnte sie sich, obwohl es nur vierzehn Jahre
her war, nur dunkel erinnern. Abgesehen von dem Fakt, dass sie dem Hause
Gryffindor angehört hatte, schwirrten ihr nur unpersönliche Bilder
im Kopf herum. Sie kannte ein paar Magier aus ihrer Schulzeit, Lehrer sowie
Schüler, ebenso wie den Unterrichtsstoff, aber gemeinsame Erlebnisse
und Abenteuer waren bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr vorhanden...
Doch sie hatte sich nie sonderlich den Kopf darüber zerbrochen.
Es war eine Folge des Unfalls, den sie damals während ihrer UTZ-Prüfung
in Verteidigung gegen die dunklen Künste bei der Abwehr eines Vergessenszaubers
erlitten hatte. Sie konnte sowieso nichts daran ändern. Die Erinnerungen
waren verloren, für immer.
Elaine musterte erneut den Umschlag und dachte über dessen Inhalt
nach. „Geeignete Kandidaten anzuwerben..." , fuhr es ihr durch den Kopf.
Sie hatte ihr Studium an der UfgaM mit den Schwerpunkten Verteidigung gegen
die dunklen Künste, Zaubertrankkunde und Zauberrecht absolviert. Aber
dennoch hatten unzählige andere Hexen und Zauberer neben ihr an der
UfgaM ähnliche Studienschwerpunkte wie sie gewählt. Warum gerade
sie? War es ein „Heimvorteil", den sie hier hatte? War die Wahl einfach
auf Grund der Tatsache, dass sie einmal an Hogwarts Schülerin gewesen
war, auf sie gefallen?
Das war eigentlich eine logische Erklärung. Bei ihr wusste das
Lehrerkollegium, dass sich sicherlich in den letzten vierzehn Jahren nur
geringfügig in seiner Zusammensetzung geändert hatte, an wen
es geraten würde.
Elaine beschloss, weniger über das „Warum" sondern mehr über
das „Ob" nachzudenken. Sollte sie wirklich nach Hogwarts zurückkehren
und ihr Leben hier in London aufgeben? Bevor sie zu einer Antwort kam,
hielt die U-Bahn am Endhaltepunkt Hudson-Street. Sie verließ die
Station und begab sich zum Haus ihrer Pflegeeltern.
Die Jacksons hatten ein kleines Einfamilienhaus am Rande von London.
Es war fast schon zu groß für die zweiköpfige Familie,
die aus biologischen Gründen nie eigene Kinder haben konnte. Deshalb
waren sie auch froh darüber gewesen, dass sie Elaine als ihre Pflegetochter
hatten aufziehen können, obwohl dies von einem tragischen Ereignis
überschattet worden war: der Tod von Elaines Mutter Mira, eine langjährige
Freundin der Familie Jackson.
Mira Laudry war an einer Lungenentzündung gestorben, als Elaine
fünf Jahre alt war. Ihren Vater hatte sie nie kennen gelernt. Er hatte
ihre Mutter verlassen, bevor sie überhaupt geboren worden war. Noch
nicht einmal die Jacksons wussten, wie ihr Vater hieß, geschweige
denn wie er aussah. Elaine vermutete nur, dass er derjenige gewesen war,
der ihr die magische Begabung in die Wiege gelegt hatte, denn ihre Mutter
war eine Nichtmagierin gewesen und Magier-Kinder aus reinen Muggelfamilien
waren eher selten anzufinden.
Andere Verwandtschaft hatte sie keine, beziehungsweise sie wusste nichts
von ihr, da ihr der Familienzweig ihres Vaters gänzlich unbekannt
war. Also war sie von den Jacksons groß gezogen worden.
Elaine klingelte an der Haustür. Es dauerte nicht lange und schon
öffnete Mrs. Jackson ihr die Tür. „Ach, ich dachte schon, du
würdest gar nicht mehr kommen..." Sie seufzte kurz und umarmte dann
ihre Pflegetochter.
Melanie Jackson war eine kleine, untersetzte Frau Anfang sechzig, mit
grauen Haaren, die sie ständig zu einem Dutt locker nach hinten gebunden
hatte. Von ihrer typischen Kleidung, die sich aus einem Rock, einer Bluse
und einer schrecklichen Schürze zusammensetze, war sie auch an diesem
Tag nicht abgewichen.
„Ich habe dich über dein... ähm, tragbares Telefon..."
„Handy, das heißt Handy", unterbrach sie Elaine geduldig.
„Ist ja egal. Ich hab dich auf diesem Ding angerufen, aber es kam dauernd
eine Computerstimme. Ist dieses Ding, dein Handy, kaputt?", sprach Mrs.
Jackson aufgeregt, während sich Elaine ihrer Jacke entledigte.
„Nein, in der U-Bahn habe ich doch keinen Empfang", sprach sie allmählich
forscher, denn das hatte sie ihrer Pflegemutter schon mehrmals erklären
müssen. Das Klischee „Ältere Leute und Technik" bewahrheitete
sich immer wieder...
Beide begaben sich in das Wohnzimmer, in dem es herrlich frisch war,
und nicht so schwül wie im Freien. Der Tisch war bereits gedeckt und
aus der Küche drang der Duft eines Bratens an Elaines Nase.
Mit offenen Armen kam ihr Ronald Jackson, ihr Pflegevater, entgegen
und gab ihr fürs Erste einen dicken Schmatz auf die Wange. Er war
ebenso wie Mrs. Jackson Anfang sechzig, klein, ein wenig untersetzt, hatte
graue Haare und einen schmalen Oberlippenbart.
Lange Zeit für eine Unterhaltung blieb ihnen nicht, denn Mrs.
Jackson kam schon mit dem Essen in das Zimmer gestürmt.
„Ach, ich hoffe, der Braten stand nicht zu lange in der Röhre
und ist nicht ausgetrocknet", murmelte die alte Frau mehr zu sich selbst.
Natürlich war ihre Sorge wie immer unbegründet. Das Essen
schmeckte vorzüglich. Wie sollte es auch anders sein? Doch trotz des
guten Essens und der Gesellschaft ihrer Pflegeeltern ließen sich
Elaines Gedanken nicht von dem Brief aus Hogwarts abbringen.
„Elaine, was ist los mit dir? Du bist doch sonst nicht so still", fragte
Mrs. Jackson besorgt.
Früher oder später musste Elaine von dem Angebot, das sie
erhalten hatte, erzählen. Sie beschloss, es nicht noch länger
hinauszuschieben. „Ich habe einen Brief aus Hogwarts erhalten. Sie bieten
mir die Stelle des Lehrers für die Verteidigung gegen die dunkeln
Künste an."
Mit einem Male sanken Messer und Gabel auf die Teller von Mr. und Mrs.
Jackson und sie starrten sie für einen Augenblick mit offenen Mündern
an.
„Das ist ja wunderbar", sagte ihre Pflegemutter und Elaine wusste,
dass sie kein Wort davon ernst meinte. Ihre Pflegeeltern hatten keinen
Bezug zu der magischen Welt und wenn sie sich für Hogwarts entscheiden
würde, hieß das automatisch eine Entscheidung gegen die Jacksons,
die sie dann frühestens bis zu den Weihnachtsferien wiedersehen würde.
Es war ihnen damals schon schwer gefallen, sie so weit weg in Hogwarts
unterrichten und später das Studium an der UfgaM aufnehmen zu lassen,
doch sie hatten sich ihr trotzdem nie in den Weg gestellt. Und jetzt lebte
sie gerade vier Jahre fernab von jeder Magie und sie wurde wieder zurückgerufen
in die Welt der Hexen und Zauberer.
„Ich weiß nicht, ob ich die Stelle annehmen soll. Ich habe mir
in den vergangenen Jahren ein vollkommen neues Leben aufgebaut. Wenn ich
akzeptiere, muss ich das alles hier aufgeben."
„Das ist eine einmalige Gelegenheit, Elaine!", sagte Mr. Jackson ein
wenig überzeugender als seine Frau. „Noch einmal wirst du so eine
Stelle nicht hinterhergeschmissen bekommen. Und wie oft hast du schon gejammert,
dass dir auf der Arbeit alles so langweilig vorkommt und dass du es vermisst,
den Kaffee nicht einfach mit einem Zauberspruch erwärmen zu können
sondern mit einer Kaffeemaschine. Auch wenn du es nie in unserer Gegenwart
zugeben würdest, glaube ich, dass du dich viel wohler unter Deinesgleichen
fühlst. Es ist die Welt, in die du eigentlich gehörst."
Mr. Jackson hielt kurz inne, um Elaine zu mustern. Diese überdachte
die Worte ihres Pflegevaters noch einmal. Mit seinem ersten Argument hatte
er weniger Recht. Es musste einen Grund dafür geben, warum niemand
Interesse an der Stelle als Lehrer für die Verteidigung gegen die
dunklen Künste gezeigt hatte. So super, wie Mr. Jackson wohl meinte,
konnte diese Beschäftigung also nicht sein. Das zweite Argument überzeugte
sie schon mehr. Im Grunde genommen war sie vollkommen unzufrieden mit ihrem
Leben hier in London. Anfangs war alles noch so aufregend gewesen, ein
Leben fernab von jeder Magie, doch im Laufe der Zeit begann sie die magische
Welt zu vermissen.
Ehe sie antworten konnte, fuhr Mr. Jackson fort: „Und wenn du nach
Hogwarts gehst, heißt das doch nicht, dass unser Kontakt abbricht.
Mittlerweile wissen Melli und ich sehr wohl, wie man die Post per Eule
verschickt. Das ist noch einfacher, als dieses Ding, dieses Handy zu bedienen."
Elaine blickte hinüber zu Mrs. Jackson, die jetzt zustimmend nickte,
als hätten sie die Worte ihres Mannes überzeugt. Dieses Nicken
und die Worte ihres Pflegevaters waren auch ein Grund dafür, dass
sie keine zwei Tage später eine Eule nach Hogwarts schickte mit der
Nachricht, sie würde das Stellenangebot akzeptieren.
Und so kam es, dass Elaine Laudry zwei Wochen vor Beginn des neuen Schuljahres
ihre Reise nach Hogwarts aufnahm. Mit ihrem silbergrauen Ford machte sie
sich auf die lange Fahrt in Richtung der schottischen Highlands auf, vollbepackt
mit Koffern und natürlich einem Lunchpaket von Mrs. Jackson, das so
üppig ausgefallen war, dass sie hätte meinen können, die
Fahrt würde eine Woche anstatt einen Tag dauern.
Am späten Abend hatte sie das unwegsame Gelände der Ländereien
von Hogwarts befahren. Nur sehr selten verirrte sich ein Muggel hierher,
denn die Infrastruktur war alles andere als gut ausgebaut, und technische
Geräte wie normale Autos drohten immer wieder zu versagen, da zuviel
Magie in der Umgebung vorhanden war.
Glücklicherweise hatte sie dieses Problem mit ihrem Fahrzeug nicht,
denn es war einer kleinen magischen Verbesserung unterzogen worden. Zwar
hätte sich jeder rechtsliebende Magier dagegen gewehrt, denn dies
schien gegen § 37 Abs. 1 MugSchG (Muggelschutzgesetz) zu verstoßen,
der die Verhexung von Muggel-Artefakten verbot.
Dennoch gab es für fast jede Regel eine Ausnahme. Eine Verhexung
von Muggelgegenständen war dann rechtmäßig, wenn die Gegenstände
nicht geeignet waren, das Leben der Muggel zu beeinträchtigen oder
wenn die Verhexung aus politischen, sozialen oder gesellschaftlichen Gründen
notwendig war. Das Ministerium stütze auf diese Ausnahme die Schaffung
von Portschlüsseln, die ja auch nichts anderes darstellten als Muggel-Artefakte.
Es dauerte nicht lange, da erblickte Laudry die ersten Lichter des
Schlosses hoch oben auf einem Berg. In den Sommerferien waren keine Schüler
auf Hogwarts anwesend, so dass nur wenige der vielen Fenster beleuchtet
waren. Die einzigen Bewohner des Schlosses waren neben dem Lehrerkollegium,
das sich gewöhnlich ein bis zwei Wochen vor dem neuen Schuljahr auf
Hogwarts einfand, der Hausmeister Argus Filch, der Hüter der Schlüssel
und Ländereien Rubeus Hagrid, die Krankenschwester Poppy Pomfrey,
die Bibliothekarin Irma Pince und die Hauselfen.
Langsam fuhr Elaine an den Fuß des Berges heran und erblickte
schon von weitem Hagrid, der sie abholen und ins Schloss geleiten sollte.
Sie parkte ihren Ford in einer Einbuchtung der Straße und lief auf
den Halbriesen zu.
„Hagrid", rief sie, „wir haben uns ja Ewigkeiten nicht mehr gesehen!"
„Elaine", rief Hagrid gerührt und schniefte kurz. „Hätt'
nie gedacht, dass du hierher zurückkommst."
Er breitete die Arme aus und drücke Elaine, die gerade aus dem
Auto gestiegen war, so fest an sich, dass sie glaubte, sie würde ersticken.
„Ich freu' mich ja so drüber... s' wird wie in alten Zeiten, nur ohne
Milly."
Elaine wurde still. Milly Fletcher war in Hogwarts ihre beste Freundin
gewesen, doch sie hatte die Schule nicht mehr beenden können. In ihrem
siebenten Jahr in Hogwarts war sie auf unerklärliche Weise verschwunden
und niemand wusste wohin.
„Das wird es Hagrid, ganz bestimmt...", sagte Elaine wieder auf die
‚alten Zeiten' zurückkommend.
Die Erinnerung an Milly war eine der wenigen persönlichen, die
von ihrem Unfall während der UTZ-Prüfung verschont worden war.
Sie dachte daran, wie Milly und sie während ihrer Schulzeit Hagrid
besucht und gemeinsam mit ihm Tee getrunken hatten. Manchmal hatten sie
den Halbriesen mit Unterrichtsstoff versorgt, denn dieser hatte nie die
Möglichkeit gehabt, seine Ausbildung an Hogwarts beenden zu können.
Sie war auch eine der wenigen Leute, die wusste, dass Hagrid seinen alten
zerbrochenen Zauberstab, den er eigentlich nicht mehr besitzen durfte,
in seinen rosafarbenen Regenschirm eingebaut hatte.
Hagrid führte Elaine zu einer Kutsche, während sich die fleißigen
Hauselfen daran machten, ihr Gepäck auf einen zweiten Wagen zu packen.
„Was wird aus meinem Ford?", fragte sie Hagrid. „Ich kann ihn doch
unmöglich hier stehen lassen."
„Keine Sorge... S' alles unter Dach und Fach. Brauchst den Hauselfen
nur den Schlüssel zu geben und sie werden ihn in die Garage fahren."
„Garage?!", fragte Elaine etwas verduzt. „Ich wusste gar nicht, dass
Hogwarts so etwas hat."
„Na ja, ist eigentlich keine richtige Garage, sondern nur eine größere
Halle. Die Fahrzeuge der anderen Lehrer stehen dort."
„Die anderen Lehrer bevorzugen also auch dieses Transportmittel..."
„Na klar, wie sollten sie sonst nach Hogwarts kommen, wenn nicht gerade
mit einer fliegenden Kutsche oder einem verzauberten Schiff? Apparieren
können sie nur außerhalb des Geländes... Müssten dazu
weit in das Dickicht des Verbotenen Waldes vordringen und das mit dem Gepäck...
Nee, macht sich nicht so gut. Zwar nehmen manche diese Strapazen auf sich,
aber moderne Hexen und Zauberer kommen um ein Auto nicht drum herum."
Als Elaine weiter darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluss,
dass wirklich keine anderen Möglichkeiten existierten. Direkt ins
Schloss konnte man nicht apparieren, ein Besen stand auch außer Frage,
da man nicht genug Gepäck damit transportieren konnte, der Hogwarts-Express
fuhr nur während des Schuljahres, fliegende Teppiche kamen auch nicht
in Betracht... Übrig blieben nur noch Portschlüssel und Flohpulver.
Jedoch war Hogwarts nicht an das öffentliche Kaminnetz angeschlossen
- es verfügte nur über ein Kamin-IntraNet, das durch einen nahezu
undurchdringlichen magischen Firewall abgeschirmt war - und Portschlüssel
gab es ebenfalls keine. Wenn man während der Ferien Hogwarts erreichen
wollte, hatte man keine andere Wahl, als auf herkömmliche Transportmittel
zurückzugreifen.
Hagrid und Elaine nahmen in der Kutsche Platz, die sich kurz darauf
in Bewegung setzte.
„Hättest du gedacht, dass Professor Sprout schon seit vier Jahren
mit einem riesigen Mercedes hier aufkreuzt. Frag mich, wie sie sich den
hat leisten können... Hab nur gehört, ihr Mann sei ziemlich reich."
Elaine musste kurz auflachen, als sie an die kleine untersetze Hexe,
die ständig mit Erde beschmutzt war, dachte, wie sie in einem Ferrari
vor dem Schloss auftauchte. Professor Sprout wäre die letzte im Lehrerkollegium
gewesen, der sie so etwas zugetraut hätte.
„Ach, und weißt du schon? Ich bin jetzt Lehrer!", berichtete
Hagrid stolz.
„Wirklich? Gratuliere! Welches Fach? Wie bist du da ran gekommen?"
„Die Pflege magischer Geschöpfe. Das Fach passt mir genau auf
den Kragen. Hab alles Dumbledore zu verdanken. Nachdem Professor Kesselbrand
vor zwei Jahren in den Ruhestand gegangen ist, kam Dumbledore schnurstracks
auf mich zu und bot mir die Stelle an. Großartiger Mann, Dumbledore..."
„Das ist er", bestätigte Elaine, die Albus Dumbledore als einen
liebenswerten, alten Kauz in Erinnerung hatte. Er war verrückt und
genial zugleich, man konnte ihm einfach nur vertrauen.
Mit einem Quietschen hielt die Kutsche direkt vor dem Eingang des Schlosses.
Nachdem Elaine ihre Autoschlüssel schweren Herzens einem Hauself übergeben
hatte - sie fragte lieber nicht danach, wie diese kleinen Lebewesen vom
Sitz aus überhaupt die Kupplung berühren konnten -, betraten
sie über das Schlossportal die Eingangshalle. Nichts hatte sich verändert,
als sie das letzte Mal vor vierzehn Jahren in dieser Halle gestanden hatte.
Sie wirkte immer noch so pompös und beeindruckend, wie damals.
„Müssen jetzt zu Dumbledore", meinte Hagrid schnaubend, während
er Elaine durch die Korridore des Schlosses führte. „Hat extra auf
dich gewartet, bis du ankommst."
Vor einem Wasserspeicher blieb der Halbriese stehen.
„Flubberblupp", sagte Hagrid.
Mit einem Male hüpfte der Wasserspeicher zur Seite und die Wand
hinter ihm gab einen Eingang frei, in dem sich eine Wendeltreppe befand.
Sie musste wohl zu Dumbledores Büro führen. Gemeinsam stiegen
Hagrid und Elaine auf die Treppe, die sich plötzlich in Bewegung setzte
und sie in Richtung einer Tür transportierte.
Oben angekommen betraten sie das Büro des Schulleiters von Hogwarts.
Elaine war überrascht, ihn in einem Nachtgewand und einer Schlafmütze
zu sehen. Ein kurzer Blick auf die Uhr an der Wand sagte ihr, dass es bereits
nach Mitternacht war.
Dumbledore kam ihr lächelnd entgegen und reichte ihr die Hand.
Seine Augen wirkten durch die Brille mit den halbmondförmigen Gläsern
ein wenig müde.
„Miss Laudry, nun sind auch Sie endlich angekommen... Da bin ich aber
beruhigt. Hatten Sie eine gute Fahrt?"
„Ja, ich bin gut vorangekommen."
„Professor Santana, der ebenfalls dieses Schuljahr neu an Hogwarts
ist und Zauberkunst unterrichten wird, ist vor einer Stunde auch aus London
hier eingetroffen. Er hatte zunächst vor, zu apparieren, hat es dann
aber aufgegeben. Er hatte zuviel Gepäck und es wäre ihm zu stressig
gewesen, ständig zwischen London und dem Verbotenen Wald hin und her
zu apparieren und jedes Mal einen Koffer mehr mitzunehmen. Ich war ganz
überrascht, dass er hier mit dem Auto auftauchte. Wenn ich das früher
gewusst hätte, denn hätten Sie gemeinsam hier anreisen können."
Dumbledore seufzte kurz. „Ich denke, Sie sind sicherlich müde
von Ihrer Reise. Gehen Sie jetzt besser zu Bett. Ich bin sicher, die Hauselfen
haben Ihre Zimmer bereits hergerichtet."
Dumbledore wandte sich an Hagrid. „Hagrid, würden Sie so freundlich
sein und Elaine zu ihren Gemächern führen. Das Passwort lautet
‚Senftorte'."
„Klar doch."
Dann richtete Dumbledore seinen Blick wieder auf Elaine. „An dem Tagesablauf
in Hogwarts hat sich nichts geändert. Um acht Uhr gibt es Frühstück.
Das wird jedoch im Lehrerzimmer eingenommen, da die Große Halle über
die Sommerferien leer steht. Wissen Sie, wo sich das Lehrerzimmer befindet?"
„Ja, Direktor", antwortete Elaine.
„Gut, dann werde ich Sie und Professor Santana morgen dem Lehrerkollegium
vorstellen. Alles andere können wir dann noch besprechen, insbesondere
was das Curriculum und die bereits vollbrachten ‚Taten' Ihrer Vorgänger
angeht."
Elaine nickte daraufhin.
„Also gut. Dann wünsche ich Ihnen angenehme Träume in Ihrem
neuen zu Hause", sagte der alte Mann mit einem breiten, verschmitzten Lächeln
im Gesicht.
„Das wünsche ich Ihnen auch, Professor Dumbledore."
„Albus, nennen Sie mich Albus. Im Lehrerkollegium rufen wir uns alle
gegenseitig mit Vornamen."
„Gute Nacht, Albus", sagte sie daraufhin. Dann wurde sie von
Hagrid hinausgeleitet.
Im Korridor des zweiten Stocks liefen sie und Hagrid in einen Seiteneingang
und dann stiegen sie eine Wendeltreppe hinauf.
„Das ist hier der Ostturm", erklärte Hagrid. „Hier sind deine
Gemächer."
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, waren sie schon vor einer
Holztür angekommen. Elaine war wahrlich froh darüber, dass sich
der Ostturm im Gegensatz zum Astronomieturm durch Breite, und nicht durch
Höhe auszeichnete.
„Senftorte", sagte Hagrid und mit einem Male tat sich die Tür
auf. Frei gab sie ein riesiges, halbkreisförmiges Zimmer mit mindestens
zwei Meter hohen Fenstern, die in Dreiergruppen angeordnet waren und deren
weinrote Vorhänge bis an den gekachelten Fußboden reichten.
Zwischen den Fenstergruppen, von denen es vier im ganzen Raum gab, befand
sich die karge Turmwand, die allerdings von sich bewegenden Bildern verschönert
wurde.
In der Mitte des Zimmers an der Wand zwischen der zweiten und der dritten
Fenstergruppe stand ein Kamin, den Hagrid mit seinem rosafarbenen Schirm
entzündete. Vor dem Kamin befanden sich zwei Sessel, ein kleiner Tisch
und ein bisschen weiter in der Mitte des Raumes ein riesiger Schreibtisch
mit Löwenfüßen und ein dazu passender Stuhl.
Wie Elaine sah, hatten die Elfen bereits ihre Sachen in ihr Zimmer
gebracht, denn auf dem Schreibtisch stand der Briefbeschwerer, den sie
einst von Mrs. Jackson zum Geburtstag erhalten hatte.
Elaine trat in das Zimmer ein. Direkt neben der Eingangstür befanden
sich zwei weitere Türen, die den Weg zu der anderen Hälfte des
Turmes freigaben. Die eine führte in das Bad, in dem eine Badewanne
in der Mitte stand, die andere zu ihrem Schlafzimmer mit einem riesigen
Himmelbett und mehreren Wandschränken. Auch in diesen beiden Zimmern
waren die zwei Meter hohen Fenster in Dreiergruppen angeordnet.
Der neuen Professorin für die Verteidigung gegen die dunklen Künste
blieb für einen Moment die Sprache weg. Das alles hier war mindestens
doppelt so groß wie ihre Wohnung, die sie in London gehabt hatte.
„S' toll, nich war? Hier hat Professor Flitwick gelebt, bevor er Anfang
der Sommerferien in Ruhestand gegangen ist."
„Professor Flitwick ist in Ruhestand gegangen? Ich hab mich schon gewundert,
als Dumbledore meinte, Professor Santana sei der neue Lehrer für Zauberkunst."
„Ja, ja. War schon ziemlich alt, der kleine Professor Flitwick. Älter
sogar als Dumbledore. Hat sich den Ruhestand jetzt redlich verdient", sagte
Hagrid, noch immer in der Tür stehend.
Dann räusperte er sich. „Werd' dich jetzt aber erst mal allein
lassen. Olympe wartet schon auf mich. Die mag es überhaupt nicht,
wenn ich sie nur einen Augenblick alleine lasse."
„Olympe?!", fragte Elaine irritiert.
„Du kennst sie nicht? Ach ja, hab sie dir ja noch gar nicht vorgestellt.
Werden wir wohl auf morgen verschieben müssen", und breit grinsend
fügte Hagrid hinzu, „wird ne' ziemliche Überraschung für
dich werden. Gute Nacht."
„Gute Nacht!", rief Elaine ihm noch hinterher, und wunderte sich, welches
Ungeheuer Hagrid diesmal angeschleppt hatte. Sie kannte seine Vorliebe
für jede Art Monster, die er sich gern als Schoßtierchen zu
halten pflegte.
Elaine beschloss, nicht weiter über ‚Olympe' nachzudenken und
machte sich fertig für ihr wunderschönes Himmelbett.
Am nächsten Morgen begab sie sich gegen acht Uhr in das Lehrerzimmer.
Sie war ein wenig aufgeregt, als sie daran dachte, was ihr nun bevorstand.
Ihr einziger Trost bestand darin, dass sie nicht der einzige Neuling war
und sich Professor Santana ebenfalls in dieser Situation befand. So galt
die gesamte Aufmerksamkeit des Kollegiums nicht allein ihr.
Sie betrat das Zimmer. In dem großen, getäfelten Raum hatte
sich wohl der gesamte Lehrerstab von Hogwarts versammelt und viele der
Gesichter waren Elaine noch aus ihrer eigenen Schulzeit bekannt: McGonagall,
Sprout, Sinistra, Vector und viele andere... Nur zwei der Lehrer erkannte
sie nicht wieder und einer von ihnen musste wohl Professor Santana sein.
Ein braungebrannter, schwarzhaariger, älterer Mann lächelte
sie verlegen an. Der andere ihr unbekannte Lehrer hatte ebenfalls schwarze
Haare, die ihm bis über die Schultern reichten. Überhaupt schien
schwarz seine Lieblingsfarbe zu sein, denn er war vollkommen in diese Farbe
gehüllt. Seine dunklen Augen blickten argwöhnisch zu ihr herüber.
Hätten Blicke töten können, dann wäre sie sicherlich
jetzt tot.
„Ah, da ist sie ja schon...", Dumbledore eilte ihr entgegen. „Darf
ich vorstellen, liebe Kollegen. Elaine Laudry, die neue Lehrerin für
die Verteidigung gegen die dunklen Künste. Ich denke, Sie kennen bereits
das Kollegium. Der einzig Neue hier in der Runde ist Professor Carlos Santana."
Dumbledore führte sie auf den älteren, schwarzhaarigen Mann
zu, der ihr mit einem breiten Lächeln das weiße seiner Zähne
zeigte und ihr die Hand schüttelte. Wenn Dumbledore ihr gestern nicht
erzählt hätte, dass dieser Santana aus London kam, hätte
sie schwören können, er sei ein Südländer.
Aber Carlos Santana galt nicht ihr vollstes Interesse. Aus irgend einem
Grunde machte der Direktor keine Anstände, den anderen ihr unbekannten
Lehrer vorzustellen. Doch Dumbledore schien ihren verwunderten Blick bemerkt
zu haben.
„Ach, das hätte ich ja vollkommen vergessen", sagte er, stellte
sich hinter den in schwarz gehüllten Lehrer und legte seine Hände
auf dessen Schultern. „Severus Snape ist kurz nach Ihrer Zeit in Hogwarts
hierher gekommen. Er unterrichtet Zaubertrankkunde."
Elaine trat auf den Zaubertränkelehrer zu, der sie immer noch
argwöhnisch beäugte, und hielt ihm ihre Hand entgegen. Er blickte
erst misstrauisch auf sie hinab und schüttelte sie dann.
„Sehr erfreut", sagte Elaine und Snape antwortete kurz angebunden:
„Ebenfalls." Dann zog er schnell wieder seine Hand zurück.
Mit einem Male stürmte Hagrid in das Lehrerzimmer, dicht gefolgt
von einer Frau seiner Größe, vermutlich auch Halbriesin.
„Tut uns leid. Haben vollkommen die Zeit vergessen", sagte Hagrid hastig
und schob seine Begleiterin vor sich.
„Elaine, darf ich vorstellen! Olympe Maxime... Sie ist Lehrerin an
Beauxbatons", berichtete er stolz und lief dabei rot an. Sie schloss daraus,
dass Olympe wohl mehr war als eine Lehrerin an der französischen Zauberschule
und auch mehr als eine ganz gewöhnliche Freundin Hagrids.
„Es freut misch Sie kennen-sü-lernen", sprach Olympe mit leicht
französischem Akzent.
„Mich ebenfalls", antwortete Elaine freundlich, bevor Dumbledore sie
alle zu Tisch bat.
An dem Essen in Hogwarts hatte sich ebenfalls nichts geändert.
Es war noch genauso appetitlich wie vor vierzehn Jahren. Bei der riesigen
Auswahl war wirklich für jedermanns Geschmack etwas dabei und die
Teller und Schüsseln füllten sich auch immer nach, so dass man
keine Angst haben musste, etwas Gutes zu verpassen.
Nach dem Frühstück richtete Dumbledore die Unterhaltung auf
dienstliche Belange. Die Stundenpläne und der organisatorische Ablauf
des kommenden Schuljahres mussten besprochen werden.
„Und da wir gerade bei organisatorischen Belangen sind", erhob Dumbledore
seine Stimme, „Wir brauchen einen neuen Hausvorstand für Ravenclaw,
jetzt wo Professor Flitwick in den Ruhestand gegangen ist."
Das gesamte Lehrerkollegium blickte auf, als hätten sie vollkommen
vergessen, dass Professor Filius Flitwick mehr als nur eine freie Lehrerstelle
im Fach Zauberkunst hinterlassen hatte.
Dumbledore holte den sprechenden Hut, der auf einem unbesetzten Stuhl
lag, hervor.
„Ich hoffe, wir finden jemanden, der die Eigenschaften für das
Haus Ravenclaw erfüllt", meinte Dumbledore gelassen und rief als erstes
Professor Sinistra zu sich.
Diese setzte den Hut auf und wenig später verformte sich die Hutkrempe.
„HUFFLEPUFF!", schrie der Hut.
Dumbledore nahm ihn Sinistra wieder ab und Professor Vector war die
Nächste.
„GRYFFINDOR!"
Vector und Sinistra folgten die Professoren Fitzgerald, Lehrer für
Muggelkunde, Janeway, Lehrerin für alte Runen, sowie McDougal, Hastemaneuro
und Raab, die die Siebentklässler durch ihre Schwerpunktfächer
führten, doch allesamt war kein einziger Ravenclaw unter ihnen. Der
Großteil der gesamten Lehrerschaft war Gryffindor und Hufflepuff,
vereinzelt war noch ein Slytherin anzutreffen.
Selbst nachdem Madam Hooch und Hagrid hergehalten hatten, war man noch
nicht zu der richtigen Person gekommen.
„Was ist mit Sibyll Trelawney?!", fragte Professor Sinistra, und suchte
den Raum nach der Lehrerin für Wahrsagen ab. Natürlich war sie
nicht anwesend, wie fast zu jeder Lehrerkonferenz.
„Ich glaube nicht, dass sie die Eigenschaften einer Ravenclaw verkörpert.
Außerdem wird sie diesen Hut sowieso nicht aufsetzten, in der Angst,
er könnte ihrem ‚Inneren Auge' schaden", sagte Professor McGonagall
streng und humorlos, doch Sinistra und Vector mussten bei diesen Worten
anfangen zu kichern.
Dumbledore warf den Dreien einen ermahnenden Blick zu und drehte sich
dann in Richtung Elaine und Carlos, die bisher bei der Suche nach einem
neuen Hausvorstand für Ravenclaw vollkommen außer Acht gelassen
worden waren.
Der Direktor warf Elaine einen verträumten Blick zu und murmelte:
„Ich frage mich ob..."
Er unterbrach sich. „Elaine, würden Sie bitte zu mir kommen?"
Elaine tat wie ihr geheißen und ehe sie sich versehen konnte,
hatte ihr Dumbledore den sprechenden Hut aufgesetzt. Sie kannte dieses
Gefühl – diese Auswahl hatte sie in ihrem ersten Schuljahr in Hogwarts
schon einmal hinter sich gebracht.
„Hmmm, dein Köpfchen kenne ich doch schon. Ich hab meine
Meinung dir bezüglich nicht geändert", spukte die Stimme des
sprechenden Hutes durch ihren Kopf, und in den Raum rief er so laut er
nur konnte: „RAVENCLAW!"
Fast das gesamte Lehrerkollegium klatsche, als Elaine den Hut abnahm
und sich verwirrt an Dumbledore wandte. „Aber das kann nicht sein. Als
ich hier zur Schule ging, war ich eine Gryffindor!"
„Das mag wohl so sein. Der sprechende Hut ordnet eine Person nicht
nur nach ihren Fähigkeiten in die Häuser, sondern auch nach ihren
Taten. Es ist sehr lange her, seitdem Sie den Hut das letzte Mal aufhatten
und inzwischen ist viel passiert, vielleicht gerade soviel, dass der Hut
meinte, Sie verkörpern jetzt eher die Eigenschaften, die Rowena Ravenclaw
so an ihren Schülern schätzte."
Elaine gab sich mit dieser Antwort zufrieden, obwohl es sie wunderte,
dass der Hut ihr gesagt hatte, er hätte seine Meinung ihr bezüglich
nicht geändert. Sie hielt es nicht für notwendig, Dumbledore
davon zu erzählen, denn der Hut war bereits schon von so vielen Schülern
aufgesetzt worden, da hatte er sie wohl einfach verwechselt.
Dumbledore sagte: „Nun, wenn Sie akzeptieren und die Kollegen diese
Wahl ebenfalls unterstützen, dann sind Sie der neue Hausvorstand von
Ravenclaw."
„Gut, dann akzeptiere ich die Stelle als neue Hauslehrerin", sprach
Elaine ohne weiter über ihre Worte nachzudenken.
Die Lehrer klatschten - alle, bis auf einer. Severus Snape stand still
in der Ecke und wartete bis der Trubel vorbei war. „Ich möchte gern
meine Bedenken dazu äußern, Direktor", sagte er kalt, ohne Elaine
eines Blickes zu würdigen.
„Reden Sie, Severus."
„Es ist nicht üblich, dass ein neuer Lehrer zugleich ein Hausvorstand
wird. Das hat es noch nie auf Hogwarts gegeben. Die Schulordnung, die uns
die Gründer dieser Schule hinterlassen haben, schreibt vor, dass der
Titel eines Hauslehrers nur an diejenigen vergeben werden darf, die mindestens
zwei Jahre lang an dieser Schule unterrichtet haben."
„Das stimmt, Severus, aber dennoch befinden wir uns hier in einer Zwickmühle,
die von der Schulordnung nicht vorgesehen war", antwortete Dumbledore beschwichtigend.
„Nach der Schuldordnung ist es zwingend vorgesehen, dass ein Hauslehrer
die Eigenschaften seines eigenen Hauses verkörpern muss, und wie Sie
gesehen haben, scheint Professor Laudry hier die einzige Ravenclaw zu sein,
bis auf Professor Santana und Trelawney, deren Häuser wir noch nicht
festgestellt haben. Und das Haus Ravenclaw für die kommenden Jahre
ohne Hausvorstand zu lassen, halte ich für keine gute Idee. Da sollten
wir den Verstoß gegen diese veraltete Regel der Schulordnung billigend
in Kauf nehmen."
„Wie Sie meinen, Direktor", antworte Snape widerwillig und zog sich
zurück.
„Also, wie es aussieht, kommen keine weiteren Einwände von Seiten
des Kollegiums", sprach Dumbledore zu Elaine gewandt. „Sie sind somit die
neue Hauslehrerin von Ravenclaw."
Mit diesen Worten holte er hinter seinem Rücken das blau-bronzene
Wappen der Ravenclaws hervor und befestigte es an Elaines Umhang.
Noch vor einem Monat hätte Elaine nicht im Traum daran gedacht,
dass sie einmal nach Hogwarts zurückkehren würde, und jetzt war
sie dort Lehrerin für die Verteidigung gegen die dunklen Künste
und Hausvorstand von Ravenclaw.
Sie fragte sich, welche Überraschungen das kommende Schuljahr
noch für sie bringen würde. Aber sie hatte sich getäuscht.
Ihr erstes Schuljahr an Hogwarts als Lehrerin war derart ereignislos, dass
sie kaum geglaubt hätte, sich wieder in der unberechenbaren Welt der
Magie zu befinden.
Zwar waren bedeutende Dinge passiert, wie die Ernennung eines neuen
Zaubereiministers, oder ständige Übergriffe von Todessern auf
Magier und Nichtmagier, doch an Hogwarts schien die Zeit stillzustehen.
Aber Elaines zweites Jahr an der Schule für Hexerei und Zauberei
sollte ganz anders werden....
