- KAPITEL NEUN -
Heim
Als Nala am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich so wohl wie schon
lange nicht mehr. Sie öffnete die Augen noch nicht, sondern spürte nur ihre
Umgebung. Severus' Arm hielt ihren Körper fest an ihn geschmiegt. Seine starke
Brust diente ihr als Kopfkissen. Sie hörte in ihn hinein. Sein Atem war tief
und gleichmässig, doch sein Herz schlug plötzlich etwas schneller. Er musste wohl
träumen oder er war gerade aufgewacht. Tatsächlich war er aufgewacht. Er fühlte
sich ruhig und friedlich und liebevoll blickte er auf das schlafende Geschöpf
in seinen Armen. Mit einer Hand strich er ihr übers Haar und sie schlug die
Augen auf.
"Guten Morgen, Severus." Sie lächelte ihn so wundervoll an, dass er
glaubte, der ganze Raum würde ihn anstrahlen. Womit hatte er sie verdient?
fragte er sich. Noch nie hatte ihn jemand so angelächelt.
"Guten Morgen, meine Liebe. Ich glaube, wir haben diese Nacht beide
ziemlich gut geschlafen." Er strich ihr weiter durchs Haar und sie
kuschelte sich noch enger an ihn. Beide hätten für immer so beieinander bleiben
können, doch es fiel ihnen schmerzlich wieder ein, was sie heute vorhatten.
"Wir sollten jetzt aufstehen, Nala." Er erhob sich langsam und setzte
sie aufrecht hin. Auch sie stand auf, um ihn noch zur Tür zu bringen. Er nahm
ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigfinger, hob ihren Kopf etwas an und küsste sie
zärtlich. Schweren Herzens sah sie ihm hinterher, wie er die Treppe hinunter
rauschte.
Nach einer kurzen Dusche trafen sie sich in der grossen Halle zum Frühstück.
Dumbledore war auch schon auf den Beinen.
"Darf ich mich zu euch setzen oder wollt ihr lieber unter euch sein?"
fragte er höflich.
"Nein, bitte setz dich doch zu uns, Albus", sagte Severus. Ihm war es
recht, kam Dumbledore. Er konnte für etwas Ablenkung sorgen, denn seine eigene
Stimmung war gedrückt. Er hatte sich nie viel aus Weihnachten gemacht, doch
dieses Jahr war anders. Er hätte gerne dieses spezielle Fest mit Nala
verbracht. Es stimmte ihn traurig, dass sie heute nach Hause gehen würde, um
mit ihrer Familie und ihren Freunden zu feiern. Ein dunkler Gedanke machte sich
in ihm breit. Vielleicht würde sie nicht mehr gleich für ihn empfinden, wenn
sie zurück kam. Was, wenn sie gar nicht mehr zurückkam? Er versuchte, dieses
Hirngespinst zu verdrängen, aber es wollte ihm nicht recht gelingen.
Nala spürte, dass es ihn unglücklich machte, obwohl er versuchte, das zu
verbergen. Doch beide wussten, dass sie diese Tage mit der Familie brauchte.
Sie musste sich über einiges klar werden und brauchte Zeit, um über alles
nachzudenken. Severus wollte nicht, dass sie wegen ihm hier bleibt oder sich
gar schuldig fühlte, deshalb sagte er ihr nichts von diesen Gefühlen. Aber auch
er merkte, dass sie es wohl spürte.
Dumbledore bemerkte die seltsame Stimmung und handelte richtig. Er begann, mit
ihnen über Nalas Fortschritte zu sprechen und erklärte, was sie nach den Ferien
lernen würde. Auch das Heilen kam zur Sprache. Dumbledore hatte ihr eigentlich
schon alles erklärt, wie eine Heilung vor sich gehen sollte. Er hatte ihr nicht
zeigen können, wie es funktionierte. Er hatte nur Übungen mit ihr gemacht, die
ihr helfen sollten, in sich selbst zu gehen, um ihre Kraft zu sehen und zu
kontrollieren. Heilen bedeutete ohne Zauberstab, sondern nur mit den Händen
einen Menschen zu heilen. Das war besonders nützlich bei schwereren
Verletzungen und Krankheiten, die man nicht so einfach mit einem Trank oder
einem Zauberstab heilen konnte. Wenn der Tag kam, würde sie von selbst wissen,
wie es ging. Nala war wenig befriedigt mit diesem Rat. Woher sollte sie es
plötzlich können? Dumbledore hatte ihr gesagt, wenn sie sich nicht genug
konzentrieren würde, könnte es geschehen, dass sie die physischen, aber vor
allem die psychischen Schmerzen zu sehr ergreifen, denn bei einer Heilung sei
immer auch eine sehr starke psychische Verbindung zwischen dem Heiler und dem
Patienten vorhanden. Er meinte, sie würde dann schon alles richtig machen. Sie
wusste nicht, wie er so viel Vertrauen in sie haben konnte, aber sie vertraute
ihm auch und beschloss abzuwarten.
Severus redete ihr auch gut zu. "Ich bin sicher, du schaffst es. In dir
steckt grosse Macht! Mach dir nicht so viele Gedanken."
Nala seufzte dankbar und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.
"Was macht ihr beide eigentlich an Weihnachten? Kommen Verwandte?"
"Ja, meine Schwester kommt morgen, aber sie wird nur zwei Tage bleiben
können", sagte Dumbledore.
"Und was ist mit dir, Severus?"
"Meine Eltern sind schon lange tot und mein Bruder und ich haben keinen
engen Kontakt." Seine Stimme war finster und sein Gesichtsausdruck machte
Nala unmissverständlich klar, dass er nicht über seine Familie sprechen wollte.
Dumbledore reagierte schnell und begann mit Severus über Quidditch zu
diskutieren, was ein unverfänglicheres Thema war. Nala hatte schon viel von
Quidditch gehört. Sie selbst hatte erst ein Spiel erlebt, Gryffindor gegen
Ravenclaw, und Madam Hooch hatte ihr während einer Flugstunde alles genau
erklärt. Severus und Albus wirbelten mit Daten, Spielzügen und Spielernamen um
sich und Nala hörte zu, in der Hoffnung, noch mehr über dieses Spiel zu
erfahren.
Aus dem Frühstück wurde noch ein gemütliches Beisammensein. Leider musste auch
das einmal enden. Um acht Uhr standen Nala und Severus widerwillig auf, um sich
zu verabschieden. Dumbledore wünschte beiden viel Glück und bat Severus, sich
bei ihm zu melden, wenn er wieder zurück war.
Sie gingen durch das Lehrerzimmer. Severus stoppte kurz. Er sah zum Feuer im
Kamin und dann wieder zu ihr.
"Warte, ich habe eine bessere Idee als Apparieren. Das kennst du ja schon.
Mach dich reisefertig. Wir treffen uns gleich wieder hier."
Etwas verwirrt rief sie nach: "Vergiss deine Muggelkleidung nicht!"
Er nickte noch mit verzerrtem Gesicht zurück und war dann schon verschwunden.
Nala beeilte sich in ihr Zimmer, zog ihre eigenen Muggelkleider an und holte
ihre Reisetasche und ihren Rucksack, der ihr früher lange als Schultasche
gedient hatte. Merlin bekam noch einen Abschiedskuss, dann flitzte sie schon
wieder zur Tür hinaus. Mit gemischten Gefühlen sprang sie fast die Treppen
hinunter und stiess vor dem Lehrerzimmer mit Severus zusammen. Er nahm sie bei
den Händen, um sie ins Zimmer zu ziehen. Vor dem Kamin machte er Halt.
"Du siehst gar nicht schlecht aus in diesen Kleidern, Severus!"
bemerkte sie. Er schaute an sich hinunter. Ihm gefielen diese Kleider nicht. Er
trug eine dunkelblaue Jeans, ein schwarzer Pullover und einen schwarzen
Wintermantel. Der Mantel gefiel ihm ganz gut. Er wahr wenigstens ähnlich wie
der Umhang, den er sonst trug.
"Dir steht dieses Zeug besser, obwohl du mir in unseren
Kleidern am liebsten bist", sagte er mit leiser Stimme und Nala glaubte,
ein klein wenig Verlegenheit darin zu hören. Sie mochte ihre Kleidung. Auch sie
hatte sich dunkelblaue Hosen angezogen und einen hellblauen Pullover. Ihre
Winterjacke war schwarz und sie hatte sich ihren Lieblingsschal mit dem
grün-blauen Schottenmuster um den Hals gewickelt.
"Hast du schon einmal etwas von Flohpulver gehört?"
Nala schüttelte den Kopf.
"Prima, dann will ich es dir zeigen. Es geht ganz einfach, du wirst schon
sehen. Du musst nur meine Hand halten. Vertrau mir."
Zögernd gab sie ihm ihre Hand. Er erklärte ihr, dass über Hogwarts' Kaminen ein
Zauber lag, damit nur erlaubte Personen über dieses Netzwerk eintreten können.
Und sie war selbstverständlich eine erlaubte Person. Weiter sagte er, dass er
ein spezielles Flohpulver besitze, das einen nicht ganz so schnell drehe. Das
würde es etwas angenehmer machen. Aus einem kleinen Lederbeutel nahm er eine
Handvoll Pulver und warf es ins Feuer. Es flammte blau auf und bevor Nala noch
mehr erkennen konnte, zog er sie ins Feuer und sagte: "Tropfender Kessel,
Winkelgasse." Severus hielt sie in den Armen und die beiden drehten sich
um sich selbst. Viele Kamine schossen an ihnen vorbei. Ein paar Sekunden später
war alles vorbei und sie standen vor dem Kamin in Tropfenden Kessel. Von
Blicken und Getuschel verfolgt ging Severus mit ihr an der Hand durch das
Wirtshaus und grüsste kurz Tom, den Wirt.
Als sie zur Hintertür hinaustraten, atmete er kurz auf.
"So, hier sind wir. Hinter dieser Mauer ist die Winkelgasse. Wenn du den
Tropfenden Kessel in London findest, findest du immer wieder in die Zaubererwelt",
erklärte er ihr. Er war froh, hatte er es ihr gezeigt. Er wollte, dass sie
zurückkehren konnte, wann immer sie wollte. Er drückte ihr einen kleinen Beutel
mit Flohpulver in die Hand.
Er tippte mit seinem Zauberstab auf die Ziegel in der Mauer vor ihnen und aus
der Mauer wurde ein grosser Torbogen. Nala erkannte die Winkelgasse, in der sie
letzten Sommer schon einmal war. Jetzt war auch hier alles weihnachtlich
geschmückt.
"Lass uns kurz zu Gringotts gehen, damit ich etwas Geld wechseln
kann."
Nala brachte nur ein "In Ordnung" heraus. Severus nahm wieder ihre
Hand und führte sie durch die Gasse. Obwohl sie Gringotts schon kannte, waren
ihr diese Kobolde unheimlich. Sie war deshalb erleichtert, als sie wieder
draussen waren.
"Wohin gehen wir jetzt? Zum Flughafen?" fragte sie ihn.
"Ja, ich denke, es ist jetzt Zeit zu gehen. Ich werde dich aber noch bis
dahin begleiten. Also, zurück zum Tropfenden Kessel und ab da musst du uns dann
führen", antwortete er. Er spürte, wie sein Herz immer schwerer wurde mit
jedem Schritt, den sie machten. Ihre Abreise kam immer näher.
Sie gingen zurück zum Tropfenden Kessel und dieses Mal durch seine
Vordertür hinaus. Nala wusste sofort, wo sie sich befanden und überlegte, wie
sie nun am besten zum Flughafen gelangen würden. Sie entschied sich für ein
Taxi, da sie wusste, wie ungern Severus unter Muggeln war. In der U-Bahn würden
eindeutig zu viele um ihn sein. Am Flughafen würde er noch genug Muggel sehen,
dachte sie.
Als ein Taxi bei ihnen hielt, stand Severus etwas unbeholfen neben ihr. Sie
legte das Gepäck in den Kofferraum und hielt dann Severus die Hintertür auf.
Zögernd stieg er ein und sie folgte ihm.
Der Taxifahrer musterte Severus verwundert, denn er sah auch in Muggelkleidern
nicht wirklich wie ein Muggel aus. Das lag hauptsächlich an seiner
Ausstrahlung, aber wohl auch ein bisschen an seinen Haaren. Doch der Taxifahrer
war sich an schräge Leute gewöhnt und fragte höflich:
"Wohin kann ich euch bringen?"
"Zum Heathrow Flughafen, bitte", gab Nala zur Antwort.
Severus war es recht, dass er nichts zu sagen brauchte. Er sass steif neben
Nala und war froh, als sie endlich wieder aussteigen konnten. Doch seine
Erleichterung war nur von kurzer Dauer, denn als er mit Nala den Flughafen
betrat, traf ihn fast der Schlag. Hier wimmelte es nur so von Muggeln und alle
liefen sie wild durcheinander. Nala bemerkte seine Lage und sagte:
"Du kannst sonst hier zurück gehen. Du musst mich nicht begleiten, wenn du
dich so unwohl fühlst."
"Nein, jetzt bin ich schon hier, ausserdem möchte ich dir dein Ticket
bezahlen. Ich lass dich jetzt nicht allein. Aber, um zurückzukehren, werde ich
mir eine stille Ecke suchen und von dort aus apparieren."
"Nun ja ähm, ich muss auch noch ganz kurz ein paar Weihnachtsgeschenke für
meine Familie kaufen." Sie schaute ihn besorgt an.
"Das werd ich auch noch hinkriegen", sagte er tapfer.
Sie hakte sich bei seinem Arm ein und zusammen kämpften sie sich durch die
Menschen. Severus trug ihre Tasche. Zuerst buchten sie einen Flug. Nala bekam
einen Platz in einem Flugzeug, das in zwei Stunden abfliegen würde. Stolz nahm
Severus das Geld hervor und bezahlte das Ticket. Mit einem Lächeln überreichte
er ihr das Ticket und sie steckte es in ihren Rucksack.
"Danke, Severus. Das ist wirklich lieb von dir." Sie hauchte ihm einen
Kuss auf die Lippen.
Danach gaben sie ihre Reistasche am Gepäckschalter auf.
Das Einkaufen wurde nicht so schlimm, wie er es sich vorgestellt hatte. Nala
wusste genau, was sie kaufen wollte und in welche Shops sie dazu gehen musste.
Sie kannte sich offensichtlich schon etwas aus hier. Schnell hatten sie alle
Sachen beisammen. Für ihren Vater hatte sie einen Schal und für ihre Mutter
eine Vase. Ihre beiden Schwestern bekamen je ein Parfum. In der Wartehalle bei
den Sitzen packte sie die Sachen in ihren Rucksack. Severus sass neben ihr und
beobachtete sie traurig.
"Wie heissen eigentlich deine Eltern und deine Schwestern?" fragte
er.
"Mein Vater heisst David, meine Mutter Livia. Die Mittlere Schwester von
uns dreien ist Alexandra, aber wir nennen sie Alex und die jüngste ist
Lola."
"Soll ich dir die Geschenke anschreiben? Ich kenne da einen Zauberspruch.
Es würde ihn niemand hier sehen."
"Nein, danke! Ist schon in Ordnung. .... Auf dein Geschenk wirst du leider
noch etwas warten müssen, bis ich wieder zurück bin." Sie strich ihm
tröstend über seine Wange. Doch sie wusste, dass er nicht traurig war, weil er
noch kein Geschenk von ihr bekommen hatte.
"Du brauchst mir nichts zu schenken." Und für sich dachte er:
"Du brauchst nur zurückzukommen."
"Komm, es ist Zeit, dass ich mich ins Flugzeug setze." Sie versuchte
zu lächeln und nahm seine Hand in die ihrige. Er ging mit ihr noch bis zum
Zollschalter. Dort blieben sie stehen und umarmten sich lange. Er brauchte eine
Zeit, bis er seine Stimme wieder fand. Dann küsste er sie zärtlich und schaute
ihr tief in die Augen.
"Ich wünsche dir eine gute Reise. Frohe Weihnachten, Nala."
"Frohe Weihnachten, Severus. Ich danke dir für alles." Sie legte
ihren Kopf noch einmal auf seine Brust und drückte ihn an sich. Als sie sich
von ihm lösen wollte, hielt er sie an den Schultern fest und schaute ihr mit
seinen schwarzen Augen tief in die Seele.
"Wir sehen uns spätestens Silvester?" Er musste tief einatmen. Nala
sah nun die Trauer in seinen Augen deutlich und auch ihr war sie ins Gesicht
geschrieben. Sie fand keine Worte und konnte nur noch nicken. Sie gab ihm einen
letzten Kuss, bevor sie ihm langsam entglitt. Er schaute ihr nach und sie
drehte sich noch einmal um.
"Ich vermisse dich jetzt schon", sagte sie leise, aber er verstand es
genau.
Als sie durch den Zoll gegangen war blickte sie noch einmal traurig zurück und
sah ihn immer noch an der selben Stelle stehen. Sie kämpfte mit den Tränen,
doch sie schaffte es schliesslich auf ihren Flugsteig und ins Flugzeug.
Severus stand noch eine Weile dort, dann ging er auf die Terrasse. Er setzte
sich auf eine Bank und beobachtete die Flugzeuge auf dem grossen Platz. Ein
ganz kleines bisschen beeindruckte es ihn schon, was diese Muggel geschaffen
hatten, um ohne Magie fliegen zu können. Erst als er Nalas Flugzeug in den
Himmel emporsteigen sah, stand er auf. Er wartete noch, bis er es nicht mehr
sah und ging dann auf eine Toilette. Er wartete, bis gerade keine Muggel mehr
in der Nähe waren, und apparierte vor dem Gelände Hogwarts'. Langsam
marschierte er auf das Schloss zu. Als er endlich vor Dumbledores Büro ankam,
musste er zuerst einmal kräftig schlucken. Er klopfte und wurde herein gebeten.
"Hallo, Albus. Ich bin hier, um mich zurückzumelden, wie du es gewünscht
hast", sagte er mit bebender Stimme.
"Hallo, Severus. Ich hoffe, es ist alles gut verlaufen?" Der
Schulleiter erhob sich aus seinem Sessel hinter dem Bürotisch.
"Ja, es gab keine Probleme mit den Muggeln." Er senkte seinen Blick.
"Ich werde dann mal wieder gehen."
Er war schon wieder bei der Tür, als er Dumbledores Hand auf seiner Schulter
spürte. Er sah in überrascht an. Dumbledore zog seine Hand zurück und sagte
aufmunternd:
"Sie kommt doch schon bald wieder, Severus. Du bist herzlich willkommen,
Weihnachten mit mir, meiner Schwester und Minerva zu feiern."
Severus nickte und rang sich ein "Danke" ab. Er senkte seinen Kopf
wieder und ging in seine Wohnung hinunter. Er liess sich vor dem Kamin in einen
Sessel fallen, schenkte sich ein Glas Wein ein und starrte ins prasselnde Feuer.
Nala fühlte sich in der Zwischenzeit nicht besser als Severus, doch sie wurde
wenigstens etwas besser abgelenkt. Im Flugzeug hatte sie ihren Platz neben
einem älteren Ehepaar und die alte Dame versuchte sie aufzuheitern.
"Hallo, junge Lady. Ich habe Sie vorhin schon gesehen. Ich habe gesehen,
wie sie ihren Freund zurücklassen mussten. Es sah für euch beide schwer
aus." Die Frau hatte wahren Mitleid für sie.
Nala nickte und antwortete: "Es ist schwer, aber ich bin mir noch nicht
ganz sicher, ob ich ihn als meinen Freund bezeichnen kann. Und vielleicht hätte
ich mich lieber nicht erst jetzt verabschiedet, es macht alles noch viel
schwerer."
"Werden Sie ihn wieder sehen?" fragte die Frau interessiert.
"Ja, ich habe vor, Weihnachten mit meiner Familie zu verbringen und
Silvester wieder bei ihm zu sein."
"Sie sind ein tapferes Mädchen." Die alte Dame lächelte sie
freundlich an. "Ich bin Berta Zürcher und das ist mein Mann Hans."
"Oh, ich habe schon lange nicht mehr so schweizerische Namen gehört!"
sagte sie mit einem Augenzwinkern. "Sehr erfreut, Sie kennen zu lernen.
Ich bin Nala Silver." Sie schüttelten sich die Hände und Nala war froh,
dass sie das Glück hatte, einmal neben wirklich freundlichen Leuten im Flugzeug
zu sitzen.
"Waren Sie hier in den Ferien, Frau Zürcher?" fragte Nala.
"Oh bitte, wir brauchen doch nicht so förmlich zu sein. Nennen wir uns
doch einfach beim Vornamen."
Überrascht stimmte sie zu: "Ja gut, das ist mir auch recht." Nala war
erstaunt. Sie kannte kaum eine alte Frau, die so weltoffen und so jung wirkte.
"Schön. Also wir waren hier ein paar Tage im Urlaub. London hat uns gut
gefallen, nicht wahr, Schatz?" Sie sah zu ihrem Mann hinüber, aber er
schlief schon selig ans Fenster gelehnt.
"Er schläft immer gut in Flugzeugen", lachte Berta. "Was ist mit
dir? War er deine Ferienliebe?"
"Nein, nein. Ich lebe an einer Schule im Norden von England. Ich bin dort
Assistentin."
"Wirklich? Wobei den?"
Ohne lange zu überlegen, sagte sie: "Chemie. Und ich helfe in der
Krankenstation aus."
"Ist dein Angebeteter Lehrer an dieser Schule?" wollte sie weiter
wissen.
"Ja ganz genau. Er ist auch mein Tutor."
"Also, unterrichtet er das selbe Fach. Tja, da kann ich nur sagen, dass
man sieht, dass zwischen euch die Chemie stimmt." Berta lachte über ihren
Witz und Nala lächelte, weil sich die alte Frau darüber so amüsieren konnte.
Als das Flugzeug endlich startete, waren die beiden schon in ein tiefes
Gespräch verwickelt. Sie unterhielten sich den ganzen Flug miteinander über
viele verschiedene Dinge. Besonders interessiert war die Dame in Nalas
Liebesleben. Nala gab ihr gerne so gut Auskunft, wie es ihr erlaubt war.
Vor der Landung tauschten sie ihre Adressen aus. Nala gab Berta die Adresse
ihrer Eltern, sie würden ihre Post dann weiterleiten. Zum Schluss wurde sie von
den beiden sogar noch zu ihnen eingeladen. Sie solle doch einmal vorbeischauen,
wenn sie wieder einmal in Lande sein würde, meinte Berta.
"Du kannst deinen Freund ruhig mitbringen. Wir haben ein
gemütliches Haus auf dem Land", bestätigte Hans, der schon seit einer
halben Stunde wach war. Er war genauso freundlich wie seine Frau. Nala fand
dieses Ehepaar wirklich aussergewöhnlich.
Erst als sie ausgestiegen waren und schon auf ein Taxi warteten,
verabschiedeten sie sich.
"Auf Wiedersehen ihr beiden. Ihr beide seid ganz toll. Der Flug hat Spass
gemacht mit euch. Und vielen Dank für die Einladung. Ich werde sehen, dass ich
im Sommer einmal vorbeischauen kann. Vielleicht sogar mit meinem Freund."
"Danke. Es machte auch uns Freude, mit dir zu sprechen. Hoffentlich sehen
wir uns im Sommer. Und schreib mir einmal, Kind!" Berta drückte ihre Hand.
"Viel Glück mit dem Lehrer! Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch,
wünsch ich dir noch", sagte sie noch und stieg dann ins Taxi, das schon
auf sie wartete. Nala konnte ihr gerade noch den selben Wunsch hinterher rufen.
Hans drückte ihre Hand und zwinkerte ihr zu: "Machs gut und frohe
Weihnachten!" Dann verschwand auch er im Taxi und Nala winkte den beiden
nach.
Sie wollte sich kein Taxi nehmen. Sie würde mit dem Zug nach Hause fahren. Ihr
Gepäck war nicht so schwer und ausserdem war es billiger. Sie fuhr in den
Hauptbahnhof von Zürich und erst als sie dort stand und auf ihren Anschlusszug
wartete, kam das Gefühl der Vertrautheit in ihr hoch. Sie kannte diesen Bahnhof
schon so viele Jahre. Es war nicht mehr weit bis nach Hause. Sie stieg in ihren
Zug und sie registrierte jede Kleinigkeit in ihrer Umgebung. Alles war ihr so
vertraut und sie liebte das. Sie freute sich auf ihr Zuhause und ihre Familie.
Sie hatte Severus nicht vergessen, aber momentan fühlte sie sich sehr gut. Ihr
Zuhause gab ihr Stärke und sie spürte richtig, wie diese in ihr wuchs.
Irgendwie hatte sie auch das Gefühl von Stolz in sich. Stolz auf ihre Heimat
und Stolz auf ihre Selbstständigkeit. Sie wusste, hierher würde sie immer
zurückkehren können.
Als sie endlich vor ihrer Haustür stand machte sich eine grosse Erleichterung
in ihr breit. Sie atmete einmal tief durch und klingelte. Über ihr Gesicht
kullerten grosse Tränen.
