- KAPITEL ACHTUNDZWANZIG -

Flieg!


Nala hatte kaum eine paar Sekunden so dagelegen, da legte sich eine Hand auf ihre Schulter und sie blickte auf. Verschwommen erkannte sie Miromir. Er nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und küsste sie auf die Stirn.
Da geschah es. Während wenigen Sekunden strömte das Bewusstsein eines ganzen Elfenvolkes auf Nala ein. Ihre Geschichte des Elfenvolkes, ihre eigene Herkunft, die ganze Macht, die eine Elfe besass ging auf sie ein. Tausende von Eindrücken und Gedanken schwirrten in Nalas Kopf, was ihr grosse Kopfschmerzen bereitete.
Bevor Nala wusste, was eigentlich geschah, ergriff Miromir ihre Hand und legte ihre andere Hand auf Severus' Brust.
"Denk jetzt nicht nach", sagte er. "Versuch es noch einmal, es besteht noch eine kleine Hoffnung. Eine sehr kleine jedoch."

Auch er legte seine rechte Hand auf Severus' Brust und schloss die Augen. Nala tat es ihm gleich und war wieder von Severus' Blut umgeben. Doch dieses Mal war sie stark und Miromir gab ihr noch mehr Kraft. Das rote Blut verschwand ganz langsam. Es wurde von einem grellen, weissen Licht verdrängt. Je mehr von dem Licht da war, desto stärker wurden ihre Kopfschmerzen und sie glaubte, ihr Kopf würde gleich platzen. Eine Weile hielt sie es noch aus, ohne eine Ahnung zu haben, was sie eigentlich gerade tat oder wo sie war. Da war nur noch dieses weisse Licht, doch es wurde nicht mehr heller. Seine Intensität blieb nun so, wie sie war, aber es schien, als würde das Licht nun zu einem immer kleineren Punkt, der langsam in die Dunkelheit hinaus flog und dann war plötzlich alles schwarz. Nala verlor ihr Bewusstsein.

**

Als Nala erwachte, wusste sie zuerst nicht, wo sie war. Sie war in einem halbdunklen Zimmer, die Sonne würde gleich aufgehen und sie lag in einem grossen, behaglichen Bett. Sie blinzelte vorsichtig um sich und erkannte, dass sie in ihrem Zimmer war. In Hogwarts. Was war denn nur geschehen? Langsam kehrten die Erinnerungen an die letzten Ereignisse zurück. Dann wurde ihr bewusst, was mit Severus geschehen war und sie begann zu schluchzen und viele Tränen strömten über ihr Gesicht. Wie konnte es sein, dass er tot war? Warum hatte er sie einfach verlassen? Sie konnte das einfach nicht fassen. Immerzu hatte sie dieses Bild im Kopf, als sie ihren Kopf auf seine Brust gelegt hatte und hörte, wie sein Herz immer langsamer schlug. Hätte sie ihm doch nur helfen können.
Wie lange war sie eigentlich schon hier? Sie erinnerte sich noch an etwas anderes... Konnte das denn wirklich sein? Konnte es sein, dass sie eine Elfe war?...
Und sie hatte viel geträumt. Ein Traum war ihr aber besonders präsent. Severus hatte an ihrem Bett gesessen, ihre Hand gehalten und über ihr Gesicht gestreichelt. Noch mehr Tränen weinte sie jetzt.
Sie strengte sich an und erinnerte sich an die letzten Sekunden, bevor alles dunkel geworden war. "Severus ist ins Licht gegangen", drang es in ihren Kopf. Sie hatte es nicht geschafft ihn zu retten.

Ein unerträglicher Schmerz durchbohrte ihr Herz. "Warum nur?!" schrie es in ihr. Ihre Augen waren so verschleiert von den vielen Tränen und sie schaffte es kaum sich zu bewegen, aber sie wollte aufstehen. Hinaus an die Luft. Sie wollte den Himmel sehen.
Auf wackeligen Beinen ging sie in ihr Wohnzimmer und erblickte Merlin, der auf dem Sofa noch schlummerte. Sie setzte sich neben ihn, hob ihn dann hoch und drückte ihn an sich. Eine Weile weinte sie in sein schwarzes Fell. Schliesslich machte sie ihm sein Frühstück, aber bevor sie ihn fressen liess, gab sie ihm noch einen Kuss auf seinen weissen Fleck.
Dann ging sie hinaus und während sie durch ihre Tür ging, legte sie einen Zauber auf sich, damit sie unsichtbar wurde.

Ganz allein ging sie durch die Gänge von Hogwarts. Niemand hätte sie sehen können und niemand hätte ihre stillen Tränen gehört. Der Boden war eiskalt unter ihren nackten Füssen, aber es war ihr egal. Sie ging ihren Weg zum Astronomieturm.

Als sie endlich oben war, machte sie sich wieder sichtbar, lehnte sich an die Burgzinnen und schaute hinunter zum Wald.
"Dort", dachte sie, "dort hat er mich verlassen!"
Graue Wolken hingen am Himmel, aber von der aufgehenden Sonne wurden sie leicht orange gefärbt. Sie konnte die Strahlen der Sonne in den Wolken sehen. Immer noch war alles verschleiert. Ihre Tränen wollten nicht stoppen. Eine kleine, weisse Feder flog plötzlich an ihrer Nase vorbei und Nala sah ihr nach.

"Flieg, kleine Feder, flieg zu ihm."


Fliegen! Jetzt kannst du wieder fliegen, Severus
Du wirst Frieden finden, aber behalte die Erinnerung,
bis wir uns wieder sehen

Deine Seele ist frei, finde das Licht
Du bist auf deinem Weg, warte nicht auf mich
Aber ich werde dich nicht vergessen

Flieg, wohin die Engel singen
Flieg, warte nicht auf mich...


"Nein! Warte!" flüsterte Nala in den Himmel. "Ich will nicht ohne dich sein. Ich werde kommen."

Es war, als wäre ihre Lunge mit Steinen gefüllt. Ihr war das Atmen noch nie schwerer gefallen und sie wurde immer wieder von diesen Schluchzern geschüttelt.
Langsam stieg sie auf eine der Burgzinnen. "Ich habe dich immer geliebt, Severus. Ich werde es immer tun." Sie sah nicht hinunter, sondern nur hinauf in die Wolken. Sie schaute der kleinen Feder nach. Sie wollte einen Schritt nach vorne machen, aber...


...jemand hielt sie an den Knöcheln fest. Sie wurde hinuntergezerrt und landete in zwei starken Armen. Es waren nicht die von Severus, sondern es war Remus, der sie gerade umklammerte.

"Zum Glück habe ich eine "Karte des Rumtreibers", sonst hätte ich dich nicht rechtzeitig gefunden", sagte Remus sanft. "Ich kann nicht glauben, dass du das tun wolltest!"
"Nein, lass mich gehen, Wolfsfreund. Ich will nicht mehr!" Ihre Stimme klang schwach und traurig.
"Nala komm zu dir! Das glaube ich dir nicht! Natürlich willst du noch! Jetzt doch mehr denn je!"
Nala stemmte sich von ihm weg und sah in verwirrt an. "Spinnst du? Severus ist weg! Ich will nicht ohne ihn sein!" Erneut kamen Tränen in ihr hoch.
"Nala! Hör mir doch zu! Severus ist nicht weg! Du hast ihn doch gerettet!"
Jetzt musste Remus sie heftig durchschütteln, aber sie starrte ihn einfach nur fassungslos an. Warum sagte Remus das? Wie war es möglich? Nach langem Schweigen meinte sie: "Du sollst mich nicht anlügen! Das kann nicht sein... Wo ist er?"
"Nala, bitte! Es ist wahr. Ich nehme an, er schläft noch." Remus hatte noch nicht einmal sein letztes Wort zu Ende gesprochen, da war Nala schon losgerannt.

Sie lief so schnell sie ihre Beine trugen, hinunter zu den Kerkern. Sie stürmte in Severus' Räume und weiter in sein Schlafzimmer. Wie vom Blitz getroffen, blieb sie stehen. Sein Zimmer war dunkel, aber sein Bett war leer. Jetzt fühlte sie zum ersten Mal, seit sie heute erwacht war, Kälte in sich und um sie herum. Sie hatte kalt am ganzen Körper und begann zu zittern.
Ihr wurde schlecht, aber es war nicht die Art von Übelkeit, die von einem abliess, sobald man sich übergeben hatte. Diese Übelkeit lag noch viel tiefer. Sie hätte jetzt nicht einmal mehr springen können, ein Leben ohne ihn wollte sie sich aber auch nicht vorstellen.
Ohne zu wissen, was sie hier überhaupt noch machte, ging sie zu seinem Schank um einen Umhang zu holen, weil ihr so kalt war. Als sie daran roch, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Er roch nach ihm. Alles hier roch nach ihm.
Sie zog den Umhang an, aber es half ihr nicht wirklich. Langsam ging sie zu seinem Bett und setzte sich hin. Tränen tropften auf sein Kissen und sie erkannte den Abdruck seines Kopfes darin. Sie stutzte plötzlich, weil sie merkte, dass sein Bett noch warm war.
Sie schüttelte sich innerlich zurecht. Was sass sie hier herum, wenn sie doch genau wusste, dass er irgendwo hier sein musste? Remus würde sie doch nicht belügen. Also musste sie ihn suchen. Eine Welle der Hoffnung kam wieder in ihr auf. "Vielleicht ist er zu mir gegangen?" hoffte sie. Erst jetzt kam ihr der Ring in den Sinn, den sie am Finger trug. Er leuchtete schwach und Nala versuchte dem Leuchten zu Folgen, so dass es stärker wurde.

Ohne sich um Schuhe oder Kleidung zu kümmern führte sie ihre Suche zum See.
"Warte!" schrie sie und Severus blieb am anderen Ende das Sees stehen.

*

Severus war aufgewacht und hatte seinen Kopf voller Gedanken. Er erinnerte sich gut an die letzte Nacht. Er hatte gedacht, er würde sterben und war jetzt doch noch hier. Das sollte ihn glücklich machen und eigentlich war er ja auch froh, aber weshalb fühlte er sich dann so seltsam? Nala hatte ihn gerettet. Eigentlich hatte er nicht mehr auf eine Rettung gehofft, doch sie hatte es wider jeder Erwartung geschafft. Ihm war klar, dass sie ihm dieses Mal wirklich das Leben gerettet hatte und nur sie konnte so etwas. Es war nicht wie bei seinem Unfall beim Quidditch. Da hätte Poppy schon noch helfen können, aber letzte Nacht... Er verfluchte diese Nacht und seinen Bruder. "Es hätte niemals so weit kommen dürfen", sagte er sich. Aber sein Bruder war jetzt tot. Severus konnte nicht sagen, dass sein Bruder den Tod verdient hätte. Wäre es so, stände ihm das gleiche zu. Er hatte seinen Bruder schon lange gehasst, aber den Tod hätte er ihm nie an den Hals gewünscht. Sie existierte wohl doch, diese Hassliebe, an die er eigentlich nie recht hatte glauben wollen.
Er wusste gar nicht, wie er sich jetzt fühlen sollte. Da war dieses Gefühl von Glück in ihm, weil er noch bei Nala war, aber da war auch dieser Schock, die Wut und die Trauer. Trauer war ein Gefühl, dass er schon seit langem aus sich verbannt gehabt hatte, aber jetzt war es wieder da und alles verwirrte ihn.
Er beschloss einen Spaziergang zum See zu machen, das würde ihm helfen seine Gedanken zu ordnen.

Es war noch so früh am Morgen, dass er in Ruhe ein wenig zum See spazieren konnte. Er glaubte, dass um diese Zeit noch niemand wach sein würde. Die Sonne war gerade erst aufgegangen.

Er hatte gerade die Hälfte des Sees umrundet, als jemand rief. Er blickte auf und sah Nala am anderen Ufer. Sie kam auf ihn zu, aber nicht so, wie er es eigentlich erwartet hätte. Sie legte einen Zauber auf sich und ging geradewegs übers Wasser. Sie rannte nicht, nein sie ging einfach in normalem Tempo über den See. Sie beherrschte ihre Zauberkunst tatsächlich schon sehr gut. Da kam doch wirklich eine Elfe über den See auf ihn zu. Hinter sich liess sie eine silberne Spur, die durch die leichten Wellen wieder verschwand nach einer Weile. Bei dem Anblick blieb ihm einfach die Sprache weg. Es war wie in einem Traum, aber je näher er kam, desto mehr erkannte er, dass nichts in Ordnung war. Nala hatte ihr Nachthemd an und ihre Füsse waren nackt. Dazu trug sie einen schwarzen Umhang... Das war doch alles äusserst merkwürdig. Dann erkannte er, dass es sein Umhang war und das riss in wieder aus seinen Gedanken. "Los geh ihr entgegen! Du kannst das doch auch!" sagte die kleine Stimme in ihm.
Er belegte sich mit dem selben Bann und ging ihr vorsichtig entgegen.

Mitten auf dem See trafen sie sich und fielen sich in die Arme. Nala konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Dann begann sie mit den Fäusten auf seine Brust zu trommeln.
"Wie konntest du nur?!" schluchzte sie. "Ich dachte, du wärst tot! Du wolltest mich verlassen! Wie konntest du nur?! Und wäre Remus nicht gekommen..."
Severus zog sie fester in seine Arme. Er wusste, dass es für sie ein grosser Schock war, aber so ganz konnte er nicht verstehen, was sie da sagte.
Severus konnte aber so viel verstehen, dass sie wütend auf ihn war, weil er sie um ein Haar einfach so verlassen hätte. Beide wussten aber, dass er aus Liebe gehandelt hatte.

Nala war wirklich wütend auf ihn, aber nicht so wie sie jemals sonst wütend auf ihn gewesen war. Es war eine andere Wut. Sie wusste genau, weshalb er von ihr gegangen wäre, aber es machte sie trotzdem so zornig, dass er sie so traurig machen wollte. Klar, wollte er sie nur retten und hätte er es nicht getan, wäre er allein zurück geblieben. Ihr war auch klar, dass sie an seiner Stelle genauso gehandelt hätte. Sie wusste schon vorher, dass sie beide dazu im Stande wären. Schliesslich hatte sie es ihm auf dem Balkon bei sich zu Hause gesagt, dass sie für ihn sterben würde. Aber sie war auch wütend auf ihn, weil er nicht bei ihr war, als sie aufwachte und weil sie sich um ein Haar das Leben genommen hätte. Das alles machte ihr Angst. Angst vor ihm, Angst vor sich selbst. Natürlich hatte er nicht gewusst, dass sie aufgewacht war und dass sie springen wollte, aber sie war ihm böse. Gleichzeitig liebte sie ihn mehr denn je.

Sie fühlte sich so anders. Sie war nicht sie selbst. Da waren so viele Gefühle in ihr, dass sie einfach nur froh war, wenn sie jemand festhielt. Umso froher war sie, dass es Severus war, der sie in seinen Armen hielt, trotzdem half es ihr nicht, dass sie sich besser fühlte. Sie war alles zusammen: verwirrt, schockiert, erleichtert, zornig, ängstlich, traurig, verunsichert, kalt. Sie wusste nicht mehr recht, wer sie war oder was sie hier eigentlich tat, aber an ihrer Liebe zu Severus würde sie nie mehr zweifeln.

Lange standen sie "auf" auf dem See und hielten sich einfach nur fest. Es schien, als gäbe es keine Worte mehr. Was hätte Severus auch sagen sollen? Es gab nichts, wofür er sich im Moment hätte entschuldigen wollen und er wusste nicht, was er Nala sagen konnte. Sie wusste doch bereits alles. Er hatte sie gerettet und wäre bereit gewesen zu sterben. Durch grosses Glück konnte sie ihn schliesslich retten und jetzt sollte doch eigentlich alles gut sein. Doch Severus hatte Verständnis für Nalas Verzweiflung. Auch er hatte nicht das Gefühl, dass alles gut war.

Er liess sie weinen und schreien und wiegte sie in seiner Umarmung. Irgendwann wurden ihre Schluchzer weniger und sie war verstummt. Nur noch stille Tränen kullerten über ihre Wangen.
Sie sah zu ihm auf und meinte: "Warum musst du ein Held sein?"
Severus antwortete nichts. Er blickte ihr tief in die Augen und Nala verspürte plötzlich diese bekannte innere Ruhe, doch nur für einen ganz kurzen Moment. Er legte eine Hand auf ihre Wange und wischte mit dem Daumen die Tränen weg.
"Es tut mir leid", flüsterte Nala.
Endlich beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie zärtlich.
Sie wollte gerade wieder ihren Kopf in seiner Brust vergraben, da hielt er ihren Kopf in beiden Händen.
"Danke, dass du mich nicht aufgegeben hast." Severus machte eine Pause um nach Worten zu suchen. "Danke, dass du mich liebst und bitte vergib mir, ich kann nicht aufhören dich zu lieben."
Jetzt flog ein winzig kleines Lächeln über Nalas Lippen. "Das sollst du doch auch nicht. Ich danke dir, dass du noch da bist."

Sie küssten sich noch einmal, dann nahm Severus sie bei der Hand und führte sie zum Ufer. Aber er merkte, wie blockiert sie war. Sie hatte ihn zwar geküsst, doch so hatte es sich noch nie vorher angefühlt. Es war, als hätte sie Angst, als würde sie es nicht wirklich wollen. Sie war kalt.
Da gab es Dinge, die sie ihm noch nicht gesagt hatte und er wollte das jetzt hören. Deshalb setzte er sich mit ihr auf die nächste Bank und schaute sie fragend an.
"Warum hast du meinen Umhang an und noch dein Nachthemd?"
Nala blickte betrübt zu Boden, dann sagte sie leise: "Als ich aufgewacht bin, glaubte ich, dass du gestorben bist. Ich bin in deine Wohnung, weil..." Sie machte eine kurze Pause, damit sie anders weiterfahren konnte. "Mir wurde kalt und ich habe deinen Umhang angezogen, dann bin ich hier hinaus gekommen."
"Es tut mir leid. Wir haben nicht damit gerechnet, dass du nicht wissen wirst, dass du mich gerettet hast. Offensichtlich bist du ein wenig zu früh bewusstlos geworden letzte Nacht."
"Offensichtlich", sagte Nala nur.
"Es tut mir leid. Ich war doch gestern nicht wirklich bei mir. Ich wollte nur noch schlafen und heute Morgen... ich weiss nicht, ich musste einfach spazieren gehen. Einfach an die frische Luft." Er machte eine kurze Pause, dann fragte er vorsichtig weiter: "Weißt du, dass du eine Elfe bist?"
"Ja. Ich bin aber immer noch eine Hexe, oder?"
"Ja, das bist du. Dumbledore will mit dir sprechen. Er kennt sich da besser aus, er wird dir Genaueres sagen."
"Hmm", hauchte sie.

Nach einer Weile wollte Severus noch etwas wissen.
"Was hast du damit gemeint, als du sagtest 'Wäre Remus nicht gekommen...'?"
Sie sah ihm kurz traurig in die Augen, dann starrte sie wieder auf den Boden. "Na gut, ich werde es dir sagen, du wirst es sowieso erfahren", sprach sie noch leiser. "Nachdem ich aufgewacht bin heute Morgen bin ich hinauf auf den Astronomieturm um zu springen. Remus hat mich im letzten Moment gefunden, bevor es zu spät gewesen wäre."
Sie stand auf und wollte gehen, drehte sich aber noch einmal um. "Verzeih!" sagte sie niedergeschlagen und liess dann einen schockierten Severus hinter sich.

Nachdenklich blieb Severus sitzen und ging ihr nicht nach. Jetzt erst verstand Severus, wie sich Nala fühlen musste und er fühlte sich selbst auch schlecht deswegen. Er ärgerte sich, dass er nicht bei ihr war, als sie aufgewacht war. Es hätte ihr und ihm so viel Kummer erspart. Kein Wunder war sie so seltsam. Sie hätte sich fast getötet, weil sie dachte er wäre tot. Wie sehr sie lieben ihn musste, wenn sie so weit gegangen wäre. Und sie musste sich ziemlich hintergangen gefühlt haben, als sie herausgefunden hatte, dass er noch lebte. Endlich war ihm klar, was in ihr vorgehen musste, aber es war eines dieser seltenen Gefühle, die man einfach nicht recht greifen oder benennen konnte. Nala brauchte jetzt Zeit für sich, damit sie das alles verarbeiten konnte. Vorerst musste sie einfach allein sein und den Schock überwinden, den sie jetzt noch hatte und er würde sie in Ruhe lassen, aber er würde trotzdem auf sie aufpassen. Das schwor er sich.
Auch er selbst brauchte zuerst etwas Zeit für sich um das alles zu verstehen, aber er war sich sicher, dass sie bald wieder füreinander da sein konnten.

Severus atmete tief durch, als er sich erhob, denn er hatte noch eine andere Aufgabe zu tun. Heute noch würde er zu seiner Schwägerin gehen und ihr erzählen müssen, weshalb Salem tot war. Elena wusste zwar schon, was für ein Schwein Salem eigentlich war, aber sie würden ihn trotzdem gemeinsam beerdigen und sie waren beide traurig, das es so enden musste.

*

Nala war unter der Dusche gewesen und hatte sich angezogen. Gerade als sie auf dem Weg zu Dumbledore war, lief ihr Remus über den Weg.
"Wie geht es dir, Nala?" wollte er wissen.
"Ich weiss es nicht recht, aber ich danke dir, dass du mich nicht hast springen lassen. Ich will nicht mehr daran denken, was passiert wäre, wenn du nicht gekommen wärst." Nala hatte sich wieder etwas gefangen. Wenigstens war sie jetzt nicht mehr so aufgelöst, sondern dachte jetzt wieder ein bisschen klarer.
"Ich möchte auch nicht daran denken. Bist du auf dem Weg zu Albus?"
"Ja."
"Darf ich dich begleiten?"
"Ja, ich glaube, das wäre mir sogar sehr recht."

Remus nahm sie am Arm und ging mit ihr zu Dumbledores Büro. Dort machten es sich die beiden auf dem Sofa vor dem Kamin bequem.
Albus nahm in einem Sessel Platz und musterte Nala besorgt.
"Wie fühlst du dich?"
"Ein wenig besser."
"Sicher?"
"Ich werde nie mehr versuchen mich zu töten, wenn du das meinst", sagte Nala ernst.
"Versprochen?" fragte Albus erleichtert.
"Versprochen."

Mit einem Schmunzeln zauberte Dumbledore ein Frühstück herbei.
"Klasse!" rief Nala.
Auch die anderen liessen es sich schmecken und erzählten abwechslungsweise, was eigentlich alles geschehen war.

Sie hatten gegen die Todesser erfolgreich gekämpft. Sieben Todesser waren getötet worden, fünf sind nach Azkaban geschickt worden und Salem ist von Nala getötet worden. Der Auror, der verletzt wurde hatte sich noch nicht ganz erholt, war aber auf dem Weg der Besserung.
Nala erfuhr, dass ihre Urgrossmutter die Tochter einer Hexe und einem Elf war. Weil ihr Vater eine Elfe gewesen war, war es auch so schwierig irgendwelche Informationen über sie zu finden. Niemand hatte gewusst, dass ihr Vater eine Elfe war, bis Miromir es Dumbledore erzählt hatte. Das machte auch Nala in gewissen Masse zu einer Elfe. Sie war lange eine "schlafende Elfe" und ist deshalb nicht entdeckt worden. Erst später begann ihre Magie zu wachsen, ausgelöst durch schlimme Angstzustände. Durch den Kuss hatte Miromir in ihr ihre ganze Macht geweckt und ihr das ganze Wissen der Elfen weitergegeben.
"Aber, Albus, was bin ich denn nun? Eine Hexe oder eine Elfe?" unterbrach Nala. "Und meine Eltern sind Muggel. Wie soll das alles gehen? Und ich sehe, doch auch nicht aus, wie eine Elfe!"
"Nun, deine Eltern sind Menschen, das kann man nicht leugnen, aber deine Urgrossmutter war halb Hexe und halb Elfe. Auch du bist nun so zu sagen eine Halbelfe, aber in den Augen der Elfen wirst du wahrscheinlich nicht so angesehen. Für sie bist du praktisch genauso eine Elfe wie jede normale Elfe. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber bei den meisten zählen die inneren Werte, wie man so schön sagt, somit giltst du für sie als Elfe. Deine Urgrossmutter muss sehr mächtig gewesen sein und offensichtlich hast du alles von deiner Urgrossmutter geerbt, deswegen besitzt du die Magie der Hexen und Zauberer und die Magie der Elfen. Du bist eigentlich ein Glückspilz in dieser Beziehung."

Nala spürte, welche Macht sie besass und dass sie nun den erwachsenen Zauberern und Hexen in nichts mehr nachstand. Diese Tatsache machte sie glücklich und erfüllte sie mit Stolz.

"Ausserdem, wenn ich mir deine Ohren recht betrachte, kann ich schon eine gewisse Ecke dort oben feststellen und auch deine Haut ist fast aussergewöhnlich hell", schmunzelte Remus.
"Schon gut." Sie rollte mit den Augen, schenkte Remus aber ein kleines Lächeln.

Dumbledore fuhr fort und erklärte, was geschehen war, nachdem Miromir dazugekommen war. Nachdem er Nala den Kuss gegeben hatte, konnte sie mit Miromirs Hilfe Severus retten. Severus war wieder zu sich gekommen und war sogar schon wieder so fit gewesen von dieser regelrechten Wunderheilung, dass er mit der Hilfe von Dumbledore und Miromir zum Schloss zurückhumpeln konnte. Die völlig entkräftete Nala war von Remus in ihr Bett gebracht worden und auch Severus schlief erschöpft ein, als er endlich in seinem Bett lag. Miromir hatte seine kleine Schwester bei Poppy gleich abgeholt und sie mit nach Hause genommen.

"Was habt ihr mit Salem gemacht?" fragte Nala vorsichtig und Dumbledore erkannte ihren schuldigen Blick richtig.
"Die Auroren haben ihn mitgenommen wie alle anderen Todesser. Er wird heute zu seiner Frau gebracht für die Beerdigung."
"Oh", brachte Nala nur heraus.
"Hör mir zu, Nala. Salem hat ganz genau gewusst, worauf er sich einlässt, wenn er ein Todesser ist. Du musstest gegen ihn kämpfen. Übrigens habe ich noch gestern Abend mit Severus gesprochen und er hat mir erzählt, wie er euch angegriffen hat und du dich gewehrt hast. Es ist nicht deine Schuld, er hat es selbst so gewählt."
"Trotzdem war er Severus' Bruder..."
"Ja, der Bruder, der ihn töten wollte!"
"Da hast du recht." Nala sah ein, dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte, aber sie hoffte gleichzeitig, dass Severus es auch nicht tat und dass er die Dinge so sehen würde wie Albus.

"Jetzt hast du aber einiges zu tun, Nala" meinte Dumbledore. "Zuerst will dich Poppy sehen, dann solltest du dich bei deinen Eltern melden, ich habe Ihnen gestern Abend aber noch geschrieben und Ihnen kurz das Wichtigste erklärt. Severus hatte mich darum gebeten. Er hätte es selbst getan, aber er war zu fertig. Und Miromir erwartet dich heute Abend. Übrigens interessiert es mich sehr, was deine Animagus-Gestalt ist."
"Das wirst du schon noch erfahren" gab Nala zurück. Sie wusste es irgendwie schon, aber sie war sich noch nicht ganz sicher und wollte deshalb lieber noch nicht darüber sprechen. Allerdings bemerkte sie das seltsam Zwinkern, das Albus Remus zuschickte.
"Ich denke, du weißt schon, wie du dich verwandeln musst, trotzdem ist es mir lieber, wenn Minerva bei deiner ersten Verwandlung dabei ist, nur für alle Fälle."
"In Ordnung. Ich werde sie fragen, ob sie heute Nachmittag Zeit hat. Vielen Dank. Also, dann werde ich jetzt mal zu Poppy gehen", verabschiedete sie sich.