Disclaimer: Digimon und die dazugehörigen Charaktere sind nicht mein Eigentum. Diese Geschichte wurde/wird nur aus Spaß geschrieben und es wird keinerlei Profit damit gemacht.

Hallo! Das ist nun meine erste deutsche Geschichte, die ich auf ff.net poste - bis jetzt hab ich mich ja an die englischen gehalten. Ich hoffe es gibt irgendjemanden da draußen, der sie liest (und auch so nett ist zu reviewen). Die Hauptperson in dieser Geschichte ist Rika aus Tamers. Ich mag ihren Charakter furchtbar gerne, und ich liebe es dramatische Stories zu schreiben...ihr könnt euch also auf viel Angst gefasst machen.

Genre: Drama/Angst/Psycho

Rating: PG/PG-13

Possible Pairing: RikaXRyo (Ryo wird auf jeden Fall auftauchen, es ist bloß noch nicht sicher ob es nur Freundschaft wird oder auch mehr....)



Die Gedanken sind frei

by Kaeera

Gedanken lassen sich nicht kontrollieren. Ihr lacht? Glaubt mir - es stimmt. Wir können es versuchen - zu kontrollieren. Und ja, manchmal schaffen wir es. Behalten die Kontrolle fest in unseren Händen - ganz und gar. Immerhin sind es ja unsere Gedanken...nicht wahr? Meine Gedanken. Ich denke, also bin ich. Wenn ich meine Gedanken nicht mehr kontrollieren kann, was dann?? Nein, wir haben ganz bestimmt die Kontrolle...
Aber warum aber schweifen sie dann manchmal ab?

Warum kann es passieren, dass man in der Schule sitzt und fest entschlossen ist, alles mitzubekommen...doch dann schaut man aus dem Fenster und fängt an zu träumen. Der Wind wiegt durch die Blätter, ein Spiel der Natur, wundervoll anzusehen. Auf einmal scheint die Stimme des Lehrers und der Klassenkameraden weit weg. Man gehört nicht mehr dazu; als ob der sanfte Wind von draußen den Geist mit sich genommen hätten. Weg. Fliegen. Frei sein.
Vor dem inneren Auge erscheinen Bilder, die man eigentlich gar nicht denken will. Es ist wie Träumen. Weg von der Realität. Ohne bewusste Kontrolle.

Nein, unsere Gedanken lassen sich nicht kontrollieren. Genauso wenig wie unser Herz.

Obwohl wir das wissen, oder zumindest glauben es zu wissen, akzeptieren wir es nicht. Wir wollen die absolute Kontrolle. Wir wollen keine Gefühle zeigen, über die wir uns nicht im klaren sind. Meistens jedenfalls. Es gibt Menschen, die das tun können - impulsiv ihre Gefühle in die Welt hinauszuschreien, zu lachen und zu weinen, während jeder zusieht.
Und dann gibt es die Menschen, die alles in ihrem Herz verschließen und kalt sind - oder wirken.

Menschen wie Rika.

Warum sie so war? Keiner konnte es sagen, nicht einmal sie selbst. Vielleicht war es eine Art Schutzreaktion gegen ihre Mutter; Protest einmal NICHT so wie sie zu werden. Vielleicht waren es einfach nur unglückliche Umstände in ihrer Jugend. Oder es war in ihren Genen verankert.
Warum darüber diskutieren? Es würde wohl ein Wunder brauchen, um das störrische Mädchen zu ändern - und um ihr klarzumachen, dass sie im Endeffekt nur sich selbst weh tat. Denn kein Mensch ist stark genug um mit allem allein fertigzuwerden...

*************

Der Regen prasselte auf die Dächer, scheuchte die Menschen von den Straßen und verdunkelte den Himmel. Graue Wolken hingen tief über den Häusern, und wer nicht unbedingt hinaus musste, blieb daheim im warmen Wohnzimmer.
So auch Rika. Sie räkelte sich in ihrem Zimmer auf dem Bett, Kopfhörer auf volle Lautstärke, und blätterte in einem Buch. Lesen tat sie nicht wirklich, dazu war sie zu wütend. Wegen dem Streit. Wieder einmal.

Eigentlich war es schon Routine. Ihre Mutter kam heim mit irgendeinem Top/Kleid/sonstwas, welches Rika unbedingt anprobieren sollte. Rika widersprach natürlich. Warum konnte ihre Mutter einfach nicht verstehen, dass sie einen anderen...Stil hatte? Das Mädchen wurde von mal zu mal frustrierter, und heute war sie vollends explodiert.
Sie seufzte und schloss die Augen. Sicher, es gab Momente, in denen sie glaubte, sich gut mit ihrer Mutter zu verstehen, doch diese waren selten.

"Rika?", ihre Großmutter stand im Türrahmen und lächelte sie an. "Sei nicht böse. Sie ist nun einmal so, und ich glaube nicht, dass sie sich in nächster Zeit mal verändern wird."
Rika zog es vor nichts auf diese Frage zu erwidern. Sie starrte nur weiter aus dem Fenster, konzentrierte sich auf die Musik, so dass sie nicht das frustrierte Seufzen ihrer Großmutter hören konnte.

Lasst mich doch einfach in Ruhe.

Dicke, schwere Tropfen prallten gegen die Scheibe. Fasziniert beobachte sie das Wasser, wie es langsam an dem kalten Glas hinunterlief, sich aufteilte und wieder zusammenschloss.

Die ganze Welt soll mich in Ruhe lassen. Ihr versteht mich einfach nicht.

Der Regen war nun so laut, dass sie ihn selbst durch die Geräuschkulisse ihrer Kopfhörer hören konnte. Die dicken Wolken hingen noch immer am Himmel und verdunkelten ihr Zimmer.

Nein, ich will nicht so werden wie meine Mutter. Verletzlich.
Ich kontrolliere meine Gedanken. Meine Gefühle. Ganz einfach. Und ich werde es niemals zulassen, dass mich jemand verletzt!

Sie rollte sich zusammen und vergrub den Kopf in ihren Händen. Selbst wenn sie es gewollt hätte, wäre sie nicht mehr fähig gewesen, einfach so ihre Gefühle zu zeigen. Nein. Alleine konnte sie das nicht mehr schaffen.

Das hat keinen Sinn.', dachte sie sich und stand auf. Bevor sie sich immer mehr in depressiven Gefühlen verlor, wollte sie besser etwas tun. Rika griff nach ihrem Mantel und wanderte aus dem Zimmer. Ein Spaziergang im Regen, ja das würde ihr vielleicht helfen, einen klaren Kopf zu bekommen.

"Rika, du willst bei dem Wetter doch nicht etwa nach draußen gehen?", ihre Mutter stand im Flur und machte ein besorgtes Gesicht.

"Im Gegensatz zu dir bin ich nicht aus Zucker.", erwiderte sie knapp und öffnete die Tür.

"Rika, bleib hier!", kam der Befehl.

"Nein!", sie schrie fast. "Lass mich einfach in Ruhe, okay? Ich bin nicht wie du! Ich sterbe nicht wenn ein bisschen Regen auf mein Haar fällt, okay? Ich will einfach nur ein wenig spazierengehen! Geh du zu deinem blöden Shooting, mich kümmert's nicht!"
Sie knallte die Tür zu und lief hinaus in den strömenden Regen.

Ihre Schuhe waren sofort durchnässt von den Pfützen auf dem glitschigen Boden. Der Regen traf sie hart im Gesicht, und einzelne Tropfen liefen ihre Backen hinunter - wie Tränen. Aber Rika kümmerte sich nicht darum. Sie wanderte durch die ausgestorbenen Straßen, es war ein seltsames Gefühl.

Als ob die Stadt mir gehört....als ob alle von den Straßen gegangen wären, um mir Platz zu machen. Rika, the Digimon Queen!

Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. Immerhin hatte sie es den Digimon zu verdanken, dass ihr Herz nicht völlig zu Stein erstarrt war....der Gedanke, als Königin bezeichnet zu werden, erschien ihr nun lächerlich. Immerhin war sie mit den Digimon befreundet und regierte sie nicht. Und obwohl sie es nie zugegeben hätte - Freunde zu haben war eine willkommene Abwechslung. Vor allem Renamon...

Renamon....

Warum konnte sie sich mit ihrer Mutter nur nicht so gut verstehen wie mit ihrem Digimon Partner? Warum konnte sie Rika nicht einfach so akzeptieren, wie sie war?

Und warum kann ich meine Mutter nicht so akzeptieren, wie sie ist?

Sie verdrängte schnell die Stimme in ihrem Hinterkopf und lief weiter durch den Regen. Über dieses Thema wollte sie jetzt nicht weiter nachdenken. Gab es nicht irgendwo einen trockenen Platz? So langsam wurde es doch kalt, obwohl das störrische Mädchen es - natürlich - niemals gezeigt hätte.

Platsch, Platsch, Platsch.

Ihre Schuhe klatschten auf den nassen Asphalt, und sie spürte das Wasser zwischen ihren Zehen. Jedesmal, wenn sie sie bewegte, quoll es zwischen den Socken hervor, ein lustiges Gefühl. Für eine Weile amüsierte sie sich damit. Dann, urplötzlich, hörte sie auf und schaute sich ärgerlich um.

Was ist denn heute los mit mir? Sonst bin ich nicht so. Mensch, als ob mein Kopf mich nerven will mit blöden Gedanke. Hör auf!
Ganz ruhig. Du musst dich nur auf etwas anderes konzentrieren. Warum fühl ich mich bloß so....seltsam?

Sie schaute hinauf zum Himmel, nasse Strähnen ihres roten Haares verdeckten die Sicht. Sie strich sie hinter die Ohren.

Ich muss mich irgendwie ablenken.

Sie schüttelte sich unwillig und ging schnurstracks in den nächsten Laden. Es war ein kleiner Zeitschriftenladen, der zu allem Überfluss auch noch Digimon Karten verkaufte. Für einen Moment schaute sie diese nur nachdenklich an und suchte nach Geld in ihrer Hosentasche.

Kann auch nicht schaden...darauf kann ich mich wenigstens konzentrieren.

Sie kaufte eine Packung und steckte die Karten in ihre Hosentasche.

Besser ich geh heim. Sonst wird der Ärger noch größer.

Als sie zu Hause ankam, hatte der Regen aufgehört. Nur noch vereinzelte Tropfen fielen auf den grauschillernen Asphalt. Rika seufzte und trat in den Hauseingang. Ihr strähniges Haar hing in ihr Gesicht, und die schmutzigen Turnschuhe hinterließen große Pfützen auf dem Boden. Schnell zog sie sie aus und schmiss sie in die nächste Ecke. Ihre Socken quietschten auf dem sauberen Boden.

Langsam lief sie in die Küche und suchte nach etwas Essbaren.

Keiner daheim? Irgendwie hätte ich jetzt erwartet, dass Mama mir entgegen gelaufen kommt....

....'was machst du denn für Unsinn, Rika? Du bist doch ein Mädchen...'

Sie schnaubte verächtlich. Mädchen, Zuckerkram. Es war nicht so, dass sie unbedingt als Junge hätte geboren worden wollen, aber sie wehrte sich strikt dagegen, in eine bestimmte Schublade gesteckt zu werden, nur weil sie ein Mädchen war.

...'Mädchen sollten Kleider tragen, Rikalein'...

"Ach was!", murmelte sie und öffnete den Kühlschrank. Das leise Summen beruhigte ihre ohnehin schon aufgewühlten Nerven, und frustriert ließ sie ihren Kopf gegen das kühle Metall sinken.

Seltsamer Tag heute...normalerweise hab ich nicht solche Stimmungsschwankungen.

"Rika?", ihre Großmutter betrat die Küche und lächelte sie an. "Deine Mutter ist schon gegange. Sie war ziemlich aufgewühlt..." Das Mädchen machte ein abweisendes Gesicht. "Na und?"

"Lass es dir nicht auf der Seele liegen. Sie mag dich sehr, aber genau wie du kann sie ihre Gefühle nicht recht ausdrücken."

"Gefühle sind sinnlos.", erwiderte Rika kurz. Sie griff nach der Milchpackung und füllte sich ein Glas. Leise, gluckernde Laute. Konzentriert richtete sie ihre Augen nach unten, denn sie wollte ihrer Großmutter nicht ins Gesicht sehen. Diese allesverstehenden, gütigen Augen waren das einzige Mittel, um Rikas Fassade zum Bröckeln zu bringen.

Und genau das kann ich momentan nicht brauchen...

Sie wanderte wieder in ihr Zimmer zurück, um die nassen Klamotten auszutauschen

Rika zog sich die durchnässten Socken von den Füßen und betrachtete sie interessiert. Was für eine schlechte Qualität diese Schuhe hatten....Für einen kurzen Moment spielte sie mit dem Gedanken, sich die Haare zu fönen, aber sie verwarf ihn schnell. Die würden auch so trocknen.

Und ich bin ja nicht aus Zucker.

Mit der linken Hand griff sie nach ihrem Rucksack - in der rechten trug sie das Glas mit Milch - und blätterte durch ihr Hausaufgabenheft. Wenigstens ein gutes, die Lehrer heute waren gnädig gewesen. Nur zwei Aufgaben in Mathe, die das Mädchen mit links lösen konnte. Mathe, ja, das mochte sie. Es war logisch. Nicht unbedingt einfach, aber logisch, kalt, gefühlsarm. Nicht so wie irgendwelche Sprachen, bei denen man ein Gefühl' haben muss. Welches Wort jetzt hineinpasst, wie das konjugiert wird...nein. Zahlen waren simpel. Eine Zahl blieb immer Zahl, sie veränderte sich nicht plötzlich, oder gaukelte einem was vor - um dann am Ende nur noch tiefer zu verletzen.
Langsam schlürfte sie die weiße Flüssigkeit und genoss das kühle Gefühl in ihrer Kehle.

Sie war so in ihren Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkte wie die Zeit verging. Der Minutenzeiger auf der Uhr rückte vorwärts und vorwärts, aber für sie war es irrelevant. Endlich bedrückte sie dieses seltsame, graue Gefühl nicht mehr, welches schon den ganzen Tag auf ihrer Seele gelegen hatte. Vielleicht lag es ja daran, dass ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke gebrochen waren und sie nun sanft liebkosten, oder vielleicht gibt es eine Grenze für schlechte Laune - ein bestimmtes Niveau, nachdem es einfach nur noch aufwärts geht.

Auf jeden Fall konnte man sogar ein schmales Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens sehen, eine willkommene Abwechslung nachdem Rika den ganzen Tag schon ziemlich düster gewirkt hatte.

Mit einem befriedigten "So!" schrieb sie die letzte Zahl hin und lehnte sich zurück.

Na bitte. Geht ganz einfach. Gefühle unter Kontrolle halten. Ist doch auch besser so.

Sie war gerade am Überlegen, was sie als nächstes tun sollte, als das Telephon rang. Sie lauschte und hörte die vertrauten Schritte ihrer Großmutter. Gut, dann musste sie nicht aufstehen.

Wahrscheinlich eh nix Wichtiges...ein blöder Verehrer von meiner Mutter oder sowas.

Sie packte ihr Schulzeugs zusammen und steckte es in ihren Rucksack. Bevor sie heute unter die Dusche sprang, wollte sie noch etwas fernsehen. Als sie ein letztes Mal aus dem Fenster blickte, bemerkte sie, dass die Sonne nun vollends durch die dichte Wolkendecke gebrochen war und die Bäume im Garten mit ihren goldenen Strahlen erhellte. Ein richtig schöner Anblick, so freundlich und warm. Rika lächelte und öffnete das Fenster ihres Zimmers. Sie wollte die frische Luft einatmen und ein paar Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht spüren.

"Rika?", die Stimme ihrer Großmutter durchbrach ihre freundlichen Gedanken.

"Was ist?" Rika drehte sich um und schaute der älteren Frau ins Gesicht. Das normal lächelnde Gesicht war nun von Sorgenfalten durchzogen.

"Rika...", sie zögerte kurz und richtete dann die sorgenvollen Augen auf ihre Enkeltochter. "Es...ist etwas passiert. Etwas Schlimmes."

"Wie bitte?", Rika fühlte sich sofort unbehaglich und starrte ihre Großmutter fragend an. Die Sonne schien genau auf ihren Rücken und wärmte sie. In der Ferne fing ein Vogel an zu singen.

"Deine Mutter hatte einen Unfall."

Der Vogel - es war eine Amsel - sang weiter das schöne Lied. Die Regentropfen auf dem Fenster glitzerten in der Sonne, ähnelten Diamanten, eine Traumlandschaft. Die Blätter der Bäume raschelten im Wind.

"Ein LKW hat ihren Wagen in die Seite getroffen. Das Krankenhaus hat gerade angerufen."

Eine sanfte Brise wehte durch das offene Fenster und umschmeichelte Rika's Haar. "Tchilp, Tchilp, Tchilp!", sang die Amsel, ihre klugen schwarzen Augen schienen die Szene zu beobachten. Am Himmel verdrängte die Sonne auch die letzten Regenwolken, und die Leute kamen wieder aus ihren Häusern.

Rika schwieg.

"Rika, ich möchte dass du dich anziehst, ja? Wir fahren dann gleich ins Krankenhaus...", die Stimme ihrer Großmutter war sorgenschwer und hatte ihr Lächeln verloren.

Rika schaute bloß ins Leere. Auf dem Boden konnte sie die Reflexionen der Sonnenstrahlen entdecken. Gelbe Lichtpunkte, die langsam zitterten, jedesmal wenn der Wind die Vorhänge bewegte.

Das kann nicht sein...Nicht, wenn das Wetter so schön ist. Das muss ein Traum sein.

Die Amsel sang weiterhin ihr wunderschönes Lied. Andere Vögel fielen in den Chor, und die Sonne trocknete die letzten Regentropfen auf der Fensterbank. Das Mädchen mit den roten Haaren stand bloß in der Mitte ihres Zimmers und nahm das alles gar nicht wahr. Vergessen waren die nassen Haare, das Glas Milch und die Mathe-Hausaufgaben.

Komm schon, sei stark. Es wird schon nicht so schlimm sein...wahrscheinlich nur ein verstauchter Knöchel oder so.

Langsam, wie in Trance, griff Rika nach einem frischen Paar Socken und zog diese an. Sie war so verwirrt, dass sie sogar vergaß ihr Haar zusammenzubinden und es einfach offen über die Schultern hängen ließ. Sie nahm ihre Jacke und zog sich die Schuhe an, immer noch diesen seltsam abwesenden Ausdruck im Gesicht - als ob sie das alles nichts anginge. Als ob sie nur ein Beobachter wäre, Real-TV oder so etwas, wer weiß das schon...Ihre Schuhe machten immer noch diese seltsamem Geräusche - quietsch, quietsch, quietsch - es hatte wirklich keinen Sinn gehabt, sich trockene Socken anzuziehen. Und sie wartete bis ihre Großmutter den Schlüssel geholt hatte, wartete alleine im Flur, und obwohl in ihrem Innern ein Sturm tobte, zeigte ihr verschlossenes Gesicht keine Gefühlsregung.

Und gerade dann, wenn die Sonne anfängt zu scheinen

Wenn alles gut scheint

Wenn du wieder lachen kannst

Kommt ein schwarzer Pfeil geflogen

Und trifft dich genau ins Herz

Zersplittert es

Tausende winziger Stückchen

Fliegen herum

Ziellos


Das Auto fuhr die Straße entlang, gelegentlich durch eine Pfütze. Obwohl seit dem Regen erst eine halbe Stunde vergangen war, war der Asphalt schon fast überall trocken. Nur an vereinzelten Orten spiegelte sich das Sonnenlicht in den Pfützen. Auf den Gehsteigen sah man nun auch mehr Leute, die auf dem Weg nach Hause waren oder einfach nur die Sonnenstrahlen genossen.

Rika lehnte den Kopf gegen die Scheibe und starrte aus dem Fenster. Irgendwie konnte sie es immer noch nicht recht glauben. Jedesmal, wenn das Auto an einem lachenden Menschen voreifuhr, verfinsterte sich ihr Blick. Diese schöne Wetter schien einfach nicht zu passen. Ja, der Regen vorhin, das war das richtige Wetter. Aber jetzt war es zu...schön. Freundlich.
Seit der Neuigkeit hatte das Mädchen kein Wort mehr von sich gegeben. Sie zog sich nur noch mehr in ihr selbstgebautes Schneckenhaus zurück.

Meine letzten Worte zur ihr waren, dass sie mich in Ruhe lassen soll...zornig...

Ein leiser Seufzer entschlüpfte ihren Lippen, aber sonst zeigte sich keine Regung auf dem hübschen Gesicht. Jahrelange Erfahrungen hatten ihr gelehrt, wie man die Kontrolle behalten konnte. Und sie war nicht eins von den Mädchen, die gleich anfingen zu heulen. Eigentlich hatte sie schon lange nicht mehr geweint. Vor anderen Leuten? Als sie Renamon verabschiedet hatte.
Und alleine? Jedesmal, wenn sie ihre Renamon Karte in den Händen hielt...obwohl das in dem letzten halben Jahr nicht mehr vorgekommen war.

Weinen ist schwach...Ich bin stark.

Das Auto bog in das Krankenhausgelände ein und hielt auf dem Parkplatz. "Zur Intensivstation.", sagte Rika's Großmutter nur knap und die beiden stiegen aus dem Auto. Das rothaarige Mädchen lief bloß ihrer Oma hinterher, immer noch in diesem seltsamen Zustand.
Die Sonne schien immer noch, und auch hier sangen Vögel im Gebüsch. Rika warf ihnen nur einen ärgerlichen Blick zu und lief dann ins Gebäude.

Die Formalitäten bekam sie gar nicht mit. Menschen in weißen Kitteln fragten Dinge, füllten Formulare aus, alles in einem sehr ernsten Ton. Sie verstand die Worte nicht, sondern starrte bloß die weiße Wand an, bemerkte den bräunlichen Fleck und beobachtete ihn fasziniert. Sie bemerkte auch nicht, dass beie, Arzt und Großmutter, besorgte Blicke über das apathische Mädchen wandern ließen. Die seltsame Stimmung von vorher hielt sie wieder gefangen, nur noch fester.

Der schwarze Pfeil

bohrt sich in dein Herz

und zerschmettert es

Es schmerzt

doch du kannst nicht weinen

Es tut weh

doch alleine schaffst du es nicht...

Krankenhäuser...Gebäude der Emotionen. Trauer, Leid, Schmerz und Freude, all das haben diese Häuser gesehen. Viele Erinnerungen sind oft mit den alten Gemäuern verbunden, und es gibt fast keinen Menschen, der sagen kann, dass er nichts bei dem Gedanken an Krankenhäuser empfindet. Die meisten hassen sie. Krankenhaus, das bedeutet Leid und Schmerzen.

Rika war keine Ausnahme. In ihrem ganzen Leben war sie erst einmal in einem Krankenhaus gewesen und hatte es seitdem tunlichst vermieden, diese Erfahrung zu wiederholen. Schon allein der Geruch in den Gängen reichte aus, um sie in den Wahnsinn zu treiben.
Diese seltsame Mischung aus Sterilität und....krank konnte wohl jedem die Laune verderben.

Auch diesmal war es nicht anders. Weißgekleidete Gestalten eilten durch die Korridore, Lautsprecher quäkten und dieser penetrante Krankenhausgeruch schlängelte sich durch alle Ritzen. Irgendein Arzt führe Rika und ihre Großmutter durch das Labyrinth von Gängen, und das rothaarige Mädchen fühlte sich seltsam fehl am Platze. Jeder wusste anscheinend, wo er hin musste und was er zu tun hatte. Nur sie irrte herum wie ein verlorenes Kind, obwohl sie ja einen Führer hatte. Es war nur dieses Gefühl....

Hilflosigkeit. Kranke und traurige Menschen waren Personen, mit denen Rika nicht umgehen konnte. Sie wusste weder, wie sie den Kranken helfen, noch wie sie jemanden trösten konnte. Wie konnte sie auch jemanden trösten, wenn es niemanden gab, der ihr half?

Und plötzlich war sie in einem Raum. Krankenhauszimmer. Weiß, steril, kalt, unpersönlich....in der Mitte ein Bett. Weiß. Weiße Laken. Sauber.
Mitten in den Laken das Gesicht ihrer Mutter. Auch weiß. Nein, bleich.
Ein dicker Verband schlang sich um ihren Kopf und verbarg die sonst so wohlfrisierten Haare. Auch das übliche Lächeln war wie vom Erdboden verschwunden. Sie sah so ernst aus...

Rika trat vorsichtig näher, blieb aber gleich wieder stehen. Ihr Herz pochte, als sie verzweifelt versuchte, aufkommende Emotionen zu unterdrücken.

Nicht weinen, nicht weinen....ich weine nicht, nein...reiß dich zusammen...

Ihre Augen fühlten sich heiß an, und ihre Hände zitterten, doch ihre Fassade hielt.

"Was ist mit ihr?", fragte sie mit rauher Stimme, es kostete sie alle Konzentration, diese am Zittern zu hindern.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter - Großmutter. "Sie hat eine schwere Kopfverletzung und liegt gerade im Koma. Die Ärzte wissen noch nicht ob sie...ob sie...wieder aufwacht.", es kostete die ältere Frau sichtlich Mühe zu sprechen. "Falls sie aufwacht, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie geheilt wird, aber falls nicht...", sie ließ die letzen Worte im Raum stehen, und sie sanken mit unheilvoller Schwere in Rika's Seele.

Ihre Blick glitt über die leblose Form ihrer Mutter, und plötzlich hatte sie Angst. Was wenn sie nun sterben würde? Einfach so...weg, verschwunden, ausradiert. Die Angst packte ihr Herz und hielt es fest, doch Rika weigerte sich dagegen. Sie hatte die Kontrolle. Es half ihrer Mutter nichts, wenn sie zusammenbrach. Deshalb waren Gefühle sinnlos. Sie waren selbstmörderisch! Wer Gefühle hatte, tat nur sich selbst weh. Je mehre Gefühl, je mehr Liebe, desto größer der Schmerz. Und obwohl das Mädchen immer versucht hatte, sich zu distanzieren, merkte sie nun schmerzhaft, dass ihre Mutter ihr doch wichtig war...

Im stummen Aufschrei wehrte sie sich dagegen. Sie wollte nicht leiden! Sie wollte keine Gefühle!

Abrupt drehte sie sich um und stürmte aus dem Raum. Weg, nur weg! Sie wollte raus hier, raus aus dem Krankenhaus, das förmlich nach Tod und Trauer stank. Ihre Schritte wurden schneller und schneller, bald rannte sie mit voller Kraft und stürmte durch die Eingangstür, sich nicht darum kümmernd, was die Leute dachten.

Rika wusste nicht einmal, wohin sie lief. Sie stürmte durch die Straßen, horchte auf das rhythmische Auftreffen ihr Füße, hörte ihren keuchenden Atem. Alles war verschwommen, sie konnte nichts mehr klar erkennen. Doch das zählte auch nicht. Hauptsache, sie konnte all das hinter sich lassen.

Eine einzelne, störrische Träne rollte ihre Backe hinunter, schnell wischte sie sie ab und rannte weiter. Ihr roter Haarzopf flatterte im Wind, immer noch leicht feucht vom vorherigen Regenschauer.

Irgendwann konnte sie nicht mehr. Sie wurde langsamer und stoppte schließlich, hielt inne und stütze sich auf ihren Knien ab. Schweißtropfen liefen von ihrer Stirn. Die Sonne schien freundlich auf sie herab; Rika bedachte sie mit einem giftigen Blick.

Als ihr Atem sich langsam beruhigte hatte, schaute sie sich um. Seltsamerweise war sie wieder an dem alten Spielplatz, dem Spielplatz, wo sich die Tamers immer getroffen hatten. Erinnerungen überfluteten ihr Gehirn, und sie musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um nicht einfach auf den Boden zu fallen und loszuheulen.

Renamon....ich wünschte du wärst bei mir...

Schwarzer Pfeil

breitet sich aus

sendet schwarze Wellen

durch die Seele

zerstört

lässt nichts übrig

nur Dunkelheit


Ein sanfter Wind bewegte leise die Schaukeln. Der Spielplatz war leer, wie ausgestorben. Wahrscheinlich durften die Kinder noch nicht raus, da der Untergrund noch matschig war.
Rika setzte sich auf eine der Schaukeln und lehnte ihren Kopf gegen das Seil. Sie fühlte sich so....leer. Ihre Welt hatte einen Riss bekommen. Ihr Weltbild...plötzlich hatte sie gelernt, dass es doch nicht so einfach war, die Gedanken und Gefühle zu kontrollieren.

Denn die Gedanken sind frei...

Warum tat es weh? Warum wollte sie weinen? Hatte sie es nicht schon längst verlernt? War es nicht gut so? Warum aber spürte sie dann so ein Bedürfnis danach, einfach mal zu weinen...

Nein! Sie schalt sich selbst. Weinen hatte keinen Nutzen. Weinen war sinnlos. Es war verschwendete Energie, man konnte nichts damit erreichen.

Denn Gefühle lassen sich nicht kontrollieren...

Die Sonne schien auf ihr schönes Haar und trocknete es. Sie schaukelte sanft hin und her und beobachte den Boden. Ihr ganzes Leben war umgekrempelt. Von heute auf morgen. Einfach so...

Warum?

Mit ihrer freien Hand fasste sie sich in die Hosentasche und zog die zerknitterte Packung mit Digimon Karten hervor. Mit zitternden Händen öffnete sie das Glitzerpapier und holte den Inhalt hervor. Die erste Karte zeigte...

Renamon!

Und tatsächlich, es war eine Renamon Karte. Deutlich sah Rika die vertraute Gestalt ihres Freundes. Etwas nasses fiel auf die Karte.

Tränen?

Zu ihrer Verwunderung bemerkte sie, dass es ihre Tränen waren. Sie weinte! Ärgerlich wischte sie die Tränen weg und schluckte. Nein, nicht weinen. Nicht weinen....

Renamon...

Mama...

To be continued.....