In diesem Teil und auch in den weiteren kommt es immer zu einem Wechsel der Erzählperspektive. Meistens sind diese durch Absätze gekennzeichnet. Ich hoffe, das sorgt nicht für übermäßige Verwirrung...~Kaeera

Die Gedanken sind frei

by Kaeera

Kapitel 2: Schwarzer Pfeil

Sie wusste nicht, wie lange sie schon so gesessen hatte. Die Sonne war tiefer gesunken, ihre Strahlen färbten sich dunkler. Bald würde sie untergehen. Und Rika....saß einfach nur da. Alleine.
Sanft wiegte der Wind die Schaukel hin und her. Die Zeit verging. Unmerklich. Ein ständiger Strom. Nichts hält ihn auf.
Die Renamon Karte glitt aus ihren erstarrten Händen und segelte langsam zu Boden. Das Papier zeigte einzelne, verschrumpelte Flecken - dort, wo ihre Tränen aufgeprallt waren. Mit trüben Augen schaute sie ihr hinterher und machte keinerlei Anstalten, sie aufzuheben.

Hätte sie nicht ihren Kopf gesenkt gehabt und hätte sie mehr auf ihre Umgebung geachtet, so hätte sie vielleicht die Gestalt bemerkt, die sich ihr näherte - oder die Schritte gehört. Aber sie bemerkte erst, dass jemand vor ihr stand, als der Schatten auf die Karte am Boden fiel. Langsam hob sie den Kopf, halb in Erwartung, das besorgte Gesicht ihrer Großmutter zu sehen.

Stattdessen starrte sie direkt in zwei blaue Augen, welche sie besorgt musterten.

"Ist alles in Ordnung?", fragte eine bekannte - allzu bekannte! - Stimme. Rika brauchte einen Moment, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Für ein paar Sekunden schaute sie fassungslos in das Gesicht des anderen Tamers - ausgerechnet Ryo! - dann ging ihre Schutzmauer wieder hoch, und aus dem verletzlichen Mädchen wurde wieder die eiskalte Rika, wie sie jeder kannte.

"Was willst du?", sagte sie hart und drehte ihren Kopf weg, damit er die Tränenspuren nicht sehen konnte.

Ryo neigte verwundert den Kopf. "Du sahst so traurig aus.", erwiderte er und betrachtete sie prüfend. Er war gerade auf dem Heimweg von einem Freund gewesen, als er das Mädchen im Park bemerkt hatte. Erst auf den zweiten Blick hatte er realisiert, dass es ja Rika war - seine alte Rivalin und Kampfgefährtin. In Erwartung eines freundlichen Plausches war er nähergekommen, doch er hatte bald gemerkt, dass etwas nicht stimmte.
Für einen kurzen Moment hatte sie so....verloren ausgesehen.

Etwas stimmte nicht. Und zwar gewaltig.

Rika war indessen aufgestanden. "Das geht dich nichts an.", sie blitzte ihn an. "Kümmere dich um deinen eigenen Kram, ja? Deine Sunnyboy-Stimmung kann ich hier nicht gebrauchen." Mit einem Ruck drehte sie sich um und lief in die entgegengesetzte Richtung davon.
Ryo runzelte die Stirn. "Sowas."

Etwas weißes flatterte zu Boden und landete auf seinem Schuh. Der Junge bückte sich und hob das Papier auf.

Eine Renamon Karte....

"Tränenspuren?", verwundert schaute er auf und beobachtete, wie das Mädchen den Spielplatz verließ. Wenn er es jetzt genau betrachtete....irgendwie wirkte ihr Gang verändert. Nicht mehr so kraftvoll und energisch wie früher. Ausgelaugt. Schwach.

Traurig.

Entschlossen steckte er die Karte in die Hosentasche und folgte Rika. Auch wenn sie nie besonders große Sympathien für ihn gehegt hatte - sie war ein Tamer, der wohl ein ernsthaftes Problem hatte, und Ryo war fest entschlossen, ihr zu helfen.

* * *

Ärgerlich kickte sie einen Stein zur Seite. Ausgerechnet Ryo. Jeder-mag-mich-Ryo. Das-Leben-ist-toll-und-ich-bin-mitten-drin-Ryo. Sunnyboy. Wie konnte man nur permanent eine solch gute Laune behalten? Und es schien ihm nicht einmal etwas auszumachen, wenn sie ihn anschrie. Früher hatte er immer bloß gelacht und mit den Schultern gezuckt. Als ob er etwas wusste, von dem sie, Rika, keine Ahnung hatte.
Und nun tat er so scheinheilig, als sei er besorgt um sie!

Ich brauche seine Hilfe nicht. Niemals. Ich weiß schon, wahrscheinlich hat er erwartet, dass ich ihm um den Hals falle - Ryo, der Retter in der Not, Held unzähliger Kämpfe, blablabla.
Da hat er sich getäuscht! Ich brauche keine Hilfe. Eher sterbe ich. Ich hoffe bloß, ich begegne ihm nicht mehr...

Wütend schritt sie durch den Park. Dann fiel ihr auf einmal wieder der Grund ein, warum sie so...anders gewesen war. Vielleicht sollte sie zum Krankenhaus zurückgehen. Sie hatte emotional gehandelt, wie ein kleines Mädchen. Wie dumm. Sie sollte dort sein und stark sein. Für ihre Mutter. Rika konnte sich genau vorstellen, wie ihre Mutter reagiert hätte, hätte sie diesen Unfall gehabt. Weinen. Jammern. Klagen. Die ganze Zeit, wahrscheinlich hätten die Ärzte ihr ein Beruhigungsmittel geben müssen.
Aber sie war anders! Sie war stark. Sie konnte das durchstehen, kein Zweifel.

Entschlossen wandte sie ihre Schritte wieder in Richtung Krankenhaus. Wie dumm war sie gewesen. Weglaufen...als ob das was helfen würde. Rika und weglaufen? Nie! Lieber der Gefahr ins Gesicht schauen.
Oder der Trauer...

Das Krankenhaus sah so grau und kahl aus wie immer, obwohl auch hier die Sonne schien. Aber irgendwie strahlte das Gebäude eine negative Energie aus; Trauer, Angst, Leid und Schmerzen, alles zentriert. Rika ging langsam die Stufen hoch und merkte nicht, dass Ryo ihr gefolgt war. Zusehr war sie in ihren Gedanken versunken, kostete es sie Kraft, eine gelassene Miene zu bewahren. Sie hätte nie geglaubt, dass Gefühle so schwer zu kontrollieren waren...

Ryo hingegen betrachtete sie aufmerksam und wusste nicht, was ein gesundes Mädchen wie Rika im Krankenhaus zu suchen hatte. Wie auch immer, er spürte dass es etwas mit ihrer augenblicklichen Stimmung zu tun hatte, deshalb ging er nach ihr in das Gebäude.

Warum ist sie bloß immer so abweisend? Ich hab ihr doch nichts getan...

Ryo folgte dem rothaarigen Mädchen in das Krankenhaus. Sie wanderte durch die Gänge, offensichtlich in ihren Gedanken verloren - normalerweise hätte sie ihn sofort bemerkt. Der Junge schaute sich um und entdeckte einen alten Mann, der langsam den Gang hinaufschlurfte, mit eingefallenem Gesicht und leeren Augen. Er schauderte. Krankenhäuser hatten irgendwas unheimliches....

Als kleines Kind war er mal in einem gewesen, wegen einer Blinddarmoperation, und jetzt noch konnte er die Angst spüren, die er damals gehabt hatte, als er die Ärzte in ihren weißen Kitteln gesehen hatte.

Was wollte Rika bloß hier? War jemand krank? Vielleicht einer von den anderen Tamern?

Nein, dann hätten sie ihm bestimmt etwas gesagt.

Was dann? Ein Mädchen wie Rika ging doch nicht ohne weiteres in ein Krankenhaus....vielleicht war es jemand, von ihrere Familie, der erkrankt war?

Ryo zögerte. Falls das eine Familienangelegenheit war, durfte er sich dann einmischen? Immerhin war das ja privat, und er, Ryo, konnte nicht gerade von sich behaupten, das er auf gutem Fuße mit Rika stand.

Aber auf der anderen Seite wusste er ganz genau, dass Rika niemals einen ihrer Freunde um Hilfe oder Trost bitten würde. Auch wenn er selbst nicht helfen konnte, er konnte wenigstens den anderen Tamern davon erzählen.
Und so folgte er weiterhin dem Mädchen, bis sie vor einer Tür stand und langsam eintrat.

Schwärze

Überall

In deinem Herzen

Deinen Gedanken

Bestimmt dein Tun

Bestimmt dein Selbst

Und lässt dich nicht mehr los.....

Als sie eintrat, erwartete sie der gleiche Raum. Die Rollladen heruntergelassen, das Zimmer in ein Dämmerlicht getaucht. Das Bett mit dem leblosen Körper in der Mitte - einsam. Und an der Seite des Bettes ihre Großmutter, auf einem Stuhl sitzend. Sie hatte sich nicht umgedreht, als Rika eintrat, doch trotzdem sprach sie ihre Enkelin an.

"Komm her, Rika."

Stumm trat das Mädchen neben die alte Dame. "Entschuldigung.", sagte sie leise. "Ich hatte mich für einen Moment lang...nicht in der Gewalt." Es kostete sie große Überwindung, diese Worte auszusprechen. Aber ihre Großmutter verdiente eine Erklärung.

"Ich weiß. Und ich wäre besorgt gewesen, hättest du anders reagiert.", sie lächelte das rothaarige Mädchen an. "Ich hab noch einmal mit dem Arzt gesprochen. Wir können nichts tun als abwarten. Es liegt nun allein an deiner Mutter."

Das Mädchen schaute auf das hübsche, doch blasse Gesicht ihrer Mutter. War diese Frau stark genug, um dagegen anzukämpfen? Eine Person, die es vermied hinaus in den Regen zu gehen - weil es die Frisur ruinierte? Im Koma liegen und es schaffen, wieder aufzuwachen; aus eigener Kraft?

Als ob sie ihre Gedanken gelesen hätte, legte ihre Großmutter eine beruhigende Hand auf ihre Schultern. "Deine Mutter ist stark, stärker als es auf den ersten Blick aussieht. Vertraue ihr."

Nach kurzem Zögern nickte Rika. "Ja."

"Du kannst nach Hause gehen.", fügte ihre Oma hinzu. "Du langweilst dich sowieso bloß, und helfen kannst du ihr nicht. Geh nach Hause, ruh dich aus und ess etwas. Ich werde nachkommen, sobald ich kann - ich muss nur noch ein paar Formalitäten erledigen." Mit diesen Worten schob sie das Mädchen zur Zimmertür hinaus.

Rika warf noch einen unsicheren Blick zurück in das Zimmer, doch als sie das Lächeln auf dem Gesicht der anderen Frau sah, lächelte auch sie und ging langsam in Richtung Ausgang.

"Ich mache mich eher Sorgen um dich, Rika...", sagte ihre Großmutter leise, als das Mädchen sie nicht mehr hören konnte. Sie hatte sehr wohl gemerkt, wie aufgewühlt Rika gewesen war...und wie sie ihre Enkelin kannte, würde sie sich auf keinen Fall helfen lassen.

Auch sie hatte Ryo nicht bemerkt, der, in einer Ecke stehend, alles mitbekommen hatte und nun besorgt die Stirn runzelte

* * *

Nun verstand er gar nichts mehr. Ryo hatte beobachtet, wie das Mädchen in das Zimmer gegangen war und - nach ein paar Minuten - es wieder verlassen hatte. Es war schon schwer genug gewesen, unauffällig auf diesem Gang zu stehen; konnte er vielleicht in das Zimmer schleichen?

Eigentlich hatte er ja ein schlechtes Gewissen dabei. Wollte er denn, dass andere Leute sich in seine Dinge einmischten? Nein....und für Rika war er ja fast ein Fremder, oder, schlimmer noch, ein Feind.

Dann wiederum....er wollte ihr einfach helfen. Es gab etwas an diesem störrischen Mädchen, das ihm imponierte. Und ja, er wäre gern besser mit ihr ausgekommen. So wie mit den anderen Tamern. Nicht gerade angehimmelt zu werden, so wie es Kazu tat, aber eine ehrliche Freundschaft.

Unschlüssig stand der Junge in dem Gang. Sollte er Rika folgen, oder sollte er mehr herausfinden?

Seine Entscheidung wurde ihm abgenommen, denn genau in diesem Moment trat eine ältere Frau aus dem Zimmer gegenüber. Ryo versuchte im Schatten zu verschwinden, doch sie hatte ihn schon gesehen. Lächelnd sprach sie ihn an: "Du bist doch einer von Rika's Freunden, nicht?"

Ryo nickte. "Obwohl man nicht gerade sagen kann, dass wir Freunde sind.", gab er zu. "Sie mag mich nicht besonders."

"Beruht das auf Gegenseitigkeit?", sie neigte den Kopf.

"Naja...", Ryo zögerte. "Ich hab eigentlich keine Ahnung, warum sie mich nicht mag. Ich finde sie ganz okay."

"Warum bist du hier?"

Er fluchte innerlich. Er hatte gehofft, dass diese Frage nicht kam...wahrscheinlich würde sie ihn nun wütend rausschmeißen, oder den Doktor rufe, weil er einfach so hierhergekommen war. Obwohl...sie sah eigentlich recht verständnisvoll aus.

Ryo räusperte sich. "Ähm, ich hab Rika im Park gesehen, und irgendwas war nicht in Ordnung mit ihr, doch als ich sie gefragt hab, da ist sie weggegangen...naja, und ich wollte wissen was passiert war, also bin ich ihr gefolgt...bis hierher.", er kratzte sich am Kopf. "Tut mir leid."

"Du hast dir Sorgen um sie gemacht?"

Ryo errötete. "Kann man so sagen."

Sie musterte ihn aufmerksam. "Weißt du was", sagte sie schließlich, "Ich werde dir erzählen was passiert ist. Rika wird es garantiert nicht tun, aber sie ist so dickköpfig, dass sie niemals einsieht wann sie Hilfe benötigt. Ich glaube sie braucht jeden Freund und jede Freundin die sie hat, denn ihre Art, Probleme zu bewältigen, stößt hier auf ihre Grenzen..."

Sie ergriff Ryo am Arm und zog ihn sanft in das Krankenzimmer. "Komm rein und ich erzähl dir alles. Danach möchte ich, dass du mit ihr redest. In Ordnung?"

Ryo konnte bloß nicken, überrumpelt vom plötzlichen Verlauf der Ereignisse.

* * *

Der Weg zurück nach Hause war seltsam - wie im Traum. Sie lief durch die selben vertrauten Straßen, sah die gewohnten Bilder, doch über allem lag eine drückende, unwirkliche Stimmung. Wie...ein Traum, eine Geschichte, ein Film. Nicht Real. Als ob sie, Rika, nur ein Beobachter wäre. Als ob diese Dinge gar nicht ihr zugestoßen wären, sondern irgendjemandem. Einer Hauptfigur in einem Roman. Einer Filmschauspielerin.
Aber nicht Rika Makino.

Es ärgerte sie selbst, dass sie so dachte. Es war unlogisch und dumm, sich dermaßen vor der Realität zu verkriechen. Es war kein Traum.

Ihre Mutter war in Krankenhaus.
Ihre Mutter konnte sterben!

Meine Mutter und nicht irgendjemand...

Sie fragte sich, ob andere Mädchen wohl genauso empfanden. So....hilflos. Sie war bestimmt nicht die einzige, die solch ein Schicksal hatte, aber dieser Gedanke half ihr auch nicht weiter. Es war als ob ihr Schmerz größer, wichtiger, trauriger wäre.

Nein.

Falsch.

Keinen Schmerz ranlassen. Nicht weinen. Nicht fühlen. Dann tut es auch nicht weh. Einfach nichts empfinden. Gar nichts.

Eine Hülle um das Herz aufbauen. Undurchdringlich. Eisenhart. Kein Einfluss von außen. Abgeschottet. Kalt.

Und darunter wächst das Leiden....

* * *

Er schlenderte langsam in Richtung von Rika's Haus, seinen Gedanken nachhängend. Die letzten paar Stunden waren seltsam, verwirrend und erschreckend gewesen. Was mit Rika's Mutter passiert war....einfach schrecklich. Was mochte das Mädchen wohl denken?

Wie würde er sich denn an ihrer Stelle verhalten?

Ryo wusste es nicht. Bis jetzt war sein Leben recht gut verlaufen. Seine Eltern lebten noch, er hatte keine großen Probleme und sah alles immer optimistisch, was eine sehr angenehme Art zu leben ist. Er konnte es sich gar nicht vorstellen, wie es sein musste, wenn diese schöne Welt für einen zerbrach.

Wie konnte er ihr dann helfen?

Er verstand Rika doch gar nicht. Er wusste nicht, was in ihrem Herzen vorging. Tief drinnen. Unter der Eisschicht, mit der sie sich gern einhüllte. Weinte sie etwa - innerlich? Er war gewiss nicht der richtige Mensch in dieser Situation. Sie hasste ihn. Verschmähte ihn, ging ihm aus dem Weg wenn sie nur konnte.

Warum denn eigentlich?

Einen Menschen, der weint, kann man umarmen.
Einen Menschen, der wütend ist, kann man beruhigen.
Einen Menschen, der depressiv ist, kann man aufheitern.

Aber was kann man tun mit einem Menschen, der gar nichts tut? Apathisch? Verschlossen? Gefühslos?

Umarmte er sie, würde er sich eine Ohrfeige einhandeln.
Beruhigen konnte er sie sowieso nie, und aufheitern? Leichter gesagt als getan...

Voller Besorgnis erkannte er nun die ganze Tragweite des Problems. Jetzt verstand er, warum Rika's Großmutter so besorgt gewesen war. Dieses Verhalten war einfach zerstörerisch. Früher oder später musste es zum Desaster kommen. Keiner konnte ganz alleine durch die Welt gehen. Helfen. Man musste ihr helfen.

Nur wie?

* * *

Sie erreichte ihr Haus und betrat zögernd den Flur. So leer. Einsam. Mit der einen Hand strich sie über die Wand, betrachtete die bekannten Bilder und Möbel. Nein! Rika schüttelte den Kopf und ballte die Fäuste. Sie brach nicht zusammen. Sie schaffte das.
Schnell ging sie in ihr Zimmer, damit sie die Räume, die sie allzusehr an ihre Mutter erinnerten, nicht mehr sehen musste. Ihr Zimmer, das war ihr Reich. Rikas Reich. Ihre Poster, ihre Möbel, ihre Klamotten. Ihr Schulzeugs auf dem Tisch. Mathe. Noch von vorhin. Auf dem kleinen Tischchen ihre gesammelten Digimon Karten.

Wie sollte sie bloß morgen in die Schule gehen? Allein der Gedanke daran...die anderen treffen, die sich fröhlich in den Pausen unterhielten. Jen würde bestimmt etwas merken, das Mädchen schien einen besonderen Riecher für sowas zu haben. Aber die anderen durften nichts merken! Sie würden nur Mitleid haben, würden versuchen sie zu trösten, ihr zu helfen. Und bald wüsste es die ganze Schule. Nein, das könnte sie nicht ertragen. Sie hasste Mitleid! Mitleid war etwas für Schwache. Und sie war stark....

Die Tür zu ihrem Kleiderschrank stand offen, genau wie ihr Fenster. Sie konnte noch immer die Vögel singen hören. Als ob nichts passiert wäre....

In ihrem Schrank herrschte ein einziges Durcheinander. Jeans, T-shirts, Pullis, alles war wild hineingestopft, zerknittert und zerknüllt. Ganz unten am Boden ragte etwas schwarzes hervor. Rika überlegte, was für ein Kleidungsstück das wohl war, doch es fiel ihr einfach nicht ein. Sie kniete sich hin und wühlte durch den Klamottenhaufen bis sie endlich das schwarze Kleidungsstück in den Händen hielt.

Ein Kleid....

Ein schwarzes Minikleid mit einem roten Seidenhüftschal, der locker um die Taille geschwungen war. Der Ausschnitt war V-förmig und die Träger etwa drei Zentimeter breit. Verdutzt drehte sie es in ihren Händen. Seit wann besaß sie so etwas?
Dann fiel es ihr wieder ein. Ihre Mutter hatte es ihr geschenkt - zum 15. Geburtstag. Und sie hatte es gleich in den Schrank gepfeffert, um es nie wieder sehen zu müssen...
Damals hatte es einen riesigen Streit gegeben. Ihre Mutter hatte es sich so gewünscht, dass sie das Kleid anzog, und Rika war wütend gewesen, weil diese Frau ihre Einstellung immer noch nicht akzeptieren konnte.

Und nun....starb diese Frau vielleicht.

Sie drückte das Kleid an ihre Brust. Ihre Schultern bebten, doch sie weinte nicht. Mit größter Willensanstrengung hielt sie sich davon ab. Sie wollte, dass ich dieses Kleid trage. Rika strich über den glatten Stoff. Es würde ihr Freude machen, wenn ich es anziehen würde. Langsam stand sie auf und nahm das Kleid. Einmal, einmal in ihrem Leben würde sie es anziehen - ihrer Mutter zuliebe.

* * *

Obwohl er langsam gelaufen war, war er nun doch schon vor Rika's Haustüre angekommen. Eigentlich wollte er das ja gar nicht - hier sein. Er hätte nach Hause gehen sollen. Hätte ihr niemals folgen dürfen. Hätte, würde, könnte....

Du hilfst ihr, nicht wahr?

Er zuckte zusammen, als er die Stimme von Rika's Großmutter in seinem Kopf erklingen hörte. Ryo wusste nicht, was er tun sollte. Das war - zugegebenermaßen - eine Situation, mit der er keine Erfahrung hatte. Die meisten seiner Freunde hatten solche Probleme nicht, oder sie reagierten auf normale Weise darauf. Dies hier ließ ihn total im Regen stehen. Er hatte einfach keine Ahnung!

Wie hypnotisiert starrte er auf die Klingel. Warum denn? Sie wollte seine Hilfe nicht. Aber sie brauchte sie.

Entschlossen drückte Ryo auf die Klingel, sich schon innerlich wappnend für das Donnerwetter, das gleich folgen musste. Rika würde ihm bestimmt wieder lauter Ausdrücke an den kopf werfen. Wie immer eben.

Langsam näherten sich Schritte. Die Tür öffnete sich und zeigte Rika, wie sie verloren im Flur stand.

"Hallo Rika...", sagte Ryo, dann blieben ihm die Worte im Hals stecken. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er das Mädchen in einem Kleid - und mit offenen Haaren. Lose hingen sie über ihre Schultern, glänzten leicht im Sonnenlicht. Das schwarze Minikleid betonte ihre weibliche Figur, und der rote Seidenschal um ihre Hüften verlieh ihr einen Hauch von Eleganz. Zwar war immer noch etwas von ihrer rebellischen Seite zu sehen - trug sie doch noch immer ihre Turnschuhe, und auch ihre Haltung war mehr die eines Jungen - doch zeigte dieses Kleid ganz deutlich, das Rika schön war. Auf ihre eigene, dickköpfige Weise.

Ryo's Kinnlade fiel nach unten. Er hatte schon viele hübsche Mädcheen gesehen, kein Zweifel. Aber er hatte noch nie eine hübsche, mädchenhafte Rika gesehen. Außerdem...wie sie da im Flur stand, so verloren und einsam...irgendwie verletzlich, nicht so stark wie sonst.

"Ryo....", ihr hübsches Gesicht verdüsterte sich und zeigte nun ihr altes mürrisches Selbst. "Was willst du hier?"

"Äh...", machte Ryo. Was sollte er nur sagen? Ihm fiel nichts ein. Irgendwie schien sie immer wieder seinen Blich anzuziehen. Wie schaffte das Mädchen es nur, immer so verschlossen zu wirken? Fühlte sie denn gar nichts?

"Ich war im Krankenhaus....", brachte er heraus. Natürlich das denkbar blödeste, was man sagen konnte. Nun würde sie ihm sicherlich gleich die Tür vor der Nase zuknallen!

* * *

Langsam trat Rika vor den Spiegel. Sie fühlte sich seltsam in dem Kleid. Nicht unwohl, aber anders. Das Mädchen im Spiegel schien jemand ganz anderes zu sein. Jemand aus einem Traum, einer anderen Welt. Sie drehte sich, wider aller Erwartungen fasziniert von ihrer eigenen Erscheinung. Sie hatte sich noch nie viel aus Aussehen gemacht, aber das hier....gefiel ihr. Obwohl sie das - natürlich - nie zugegeben hätte.

Das Klingeln riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken blickte sie auf. Wer konnte das bloß sein? Großmutter? Sie lief zur Türe und öffnete diese.

Doch wer dort stand, war nicht Großmutter. Sondern Ryo. Sie starrte ihn bloß an, wurde sich plötzlich bewusst, wie unmöglich sie aussah, in einem Kleid, vor allem noch vor ihm! Er würde sie für schwach halten, für weibisch, dumm, zickig....

"Hallo Rika....", sagte er in seinem gewohnten Sunnybody-Ton. Dann schien er erst ihr Outfit zu bemerken. Seine Kinnlade fiel nach unten. Rika verfluchte sich innerlich, weil sie das Kleid noch anhatte, verfluchte sich, weil sie die Tür überhaupt geöffnet hatte und verfluchte Ryo, weil er den Nerv hatte, hier aufzutauchen.

"Ryo...", brachte sie endlich heraus, immer noch aufgewühlt von all den Ereignissen, die auf sie einhagelten - und kein Ende war in Sicht.

Ich darf mir nichts anmerken lassen! Rika, reiss dich zusammen. Das ist nur Ryo. Behalte einfach deine Fassade. Kontrolliere die Gefühle.

"Was willst du?", fragte sie unwirsch und versteckte sich - wieder einmal - hinter ihrer Maske.

"Äh...", Ryo war offensichtlich verunsichert. "Ich war im Krankenhaus..."

Rika's Augen weiteten sich kurz, doch gleich hatte das Mädcheen sich wieder unter Kontrolle. Er konnte nichts wissen. Und wenn, dann sollte er besser verschwinden. Es ging ihn nichts an! Überhaupt nichts! Das war allein ihre Sache. Ganz allein. Er sollte sie bloß in Ruhe lassen. Alle. Die ganze Welt. Ihre blöden Freunde, und Oma, sie sollten bloß fernbleiben. Sie machten alles nur schlimmer...

Sie bemerkte, dass sie drauf und dran war auszuflippen. Tief atmete sie durch und starrte Ryo an. "Na und? Haben sie dir endlich dein Gehirn gegeben?", sagte sie im sarkastischsten Ton, den sie fertigbrachte.

Nur nichts anmerken lassen! Eiserne Kontrolle....

Ryo schloss wieder seinen Mund und seufzte. Es war zum Verzweifeln. So ein Sturkopf!

"Nein, aber ich hab deine Großmutter getroffen.", erwiderte er ruhig.

Ein kurzes Zucken der Wangenmuskel war das einzige Zeichen, von dem man auf Rika's Gemütszustand schließen konnte. Irgendwie bewunderte Ryo das. Es kostete doch eine wahnsinnige Anstrengung, so eine Kontrolle zu behalten. Keine Regung, kein Blinzeln, keine Tränen. Wie stark musste der Wille sein, der so etwas vollbringen konnte?

"Na und?", meinte Rika abwehrend und schaute weg. "Hat sie dich vollgelabert?"

"Oh, wir hatten ein nettes Gespräch.", Ryo beobachtete ihr Gesicht mit nachdenklichen, blauen Augen. "Vor allem erzählte sie mir von deiner Mutter..." Er wartete auf ihre Reaktion, wartete auf ein hartes Wort, einen Schlag ins Gesicht oder das Zuknallen der Türe. Doch nichts geschah.

Rika schaute ihn bloß an, geschockt, erschreckt, verloren. Ihre Augen weiteten sich kurz und ihre Hand ballte sich so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie zitterte.

"Das geht dich nichts an, klar?!", explodierte sie. "Das ist ganz und gar meine Sache. Halt dich da bloß raus, du...du Idiot! Mit deinem ewigen Grinsen kannst du sowieso nichts tun!", sie atmete schwer.

"Rika....", versuchte Ryo sie zu beruhigen.

"Nichts da!", sie funkelte ihn an, und etwas glänzte verdächtig in ihren Augen. Ihre Stimme bebte etwas, als sie fortfuhr. "Du glaubst, dass sich alles nur im dich dreht. Dein Leben ist supertoll und du stehst als supertoller Typ in der Mitte. Jeder leckt dir gleich die Füße ab und bewundert dich. Du denkst du bist der Größte und kannst alles!", die roten Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie wie eine Furie dort im Hauseingang stand.

Eine einzelne Träne lief ihre Backe hinunter. "HALT DICH GEFÄLLIGST DA RAUS!!!", schrie sie in voller Lautstärke und knallte die Türe zu.

Schwarzer Pfeil

Verdunkelt dein Herz

Durchbricht die Hülle

Schwarze Pest

Lässt keinen durch

Bis man langsam

Daran zugrunde geht....


Warum weine ich?

Ärgerlich wischte sie die Träne ab und presste sich mit dem Rücken an die Türe. Was wollte Ryo bloß....er wusste davon! Wusste von ihrer Mutter, von dem was passiert war. Nun würde er es sicherlich allen weitererzählen, und alle würden sie mit mitleidigen Blicken streifen. Ryo vorne dran. Dieser Sunnyboy! Er wusste doch gar nicht, wie sie sich fühlte. Er hatte keine Ahnung! Sie brauchte keine Hilfe, sie brauchte kein Mitleid. Warum war er nur ins Krankenhaus gekommen? Dieser Idiot...

Total aus der Fassung gebracht hatte er sie. Was für eine Schande - er hatte sie weinen gesehen! Oder jedenfalls war sie kurz davor gewesen. Gottseidank hatte sie gerade noch rechtzeitig die Tür zuknallen können. Wenn nicht....wenn nicht....

Ihre Schultern bebten und mehr Tränen liefen über ihr Gesicht. "Nein...", flüsterte sie. "Nicht weinen. Ich will nicht weinen. Die verdammten Tränen sollen aufhören zu fließen!" Dich ihr Körper reagierte nicht. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle hoch, und ihm folgten weitere. Die Tränen flossen jetzt nur so, ein Sturzbach der Gefühle. Zu lange waren sie unterdrückt gewesen, nun verlangten sie danach, freigelassen zu werden.
Ihr ganzer Körper wurde wie wild geschüttelt von dem Weinkrampf, und das erste mal, seit Rika sich entschlossen hatte nie so wie ihre Mutter zu werden, weinte sie zum Steinerweichen. Sie wollte es nicht, sie wollte stark sein....aber wie ein reißender Fluss riss die Gefühlswelle all ihre aufgebauten Widerstände und Mauern nieder.

Es war ein trauriger Anblick. Alleine saß sie dort, im Flur, mit dem Rücken an die Tür gelehnt und den Kopf in ihren Armen vergraben. Ihr heftiges Schluchzen war das einzige Geräusch in dem stillen Haus. Selbst die Vögel hatten aufgehört zu singen.
Sie wischte sich die Tränen ab, ein vergeblicher Versuch. Immer neue strömten aus ihren Augen, immer neue Schluchzer ließen ihren Körper erbeben. Als ob auf einmal all das Leid, all der Kummer den sie im Laufe der Zeit mühsam verdrängt hatte, auf sie eingestürzt kam, mit nahezu zerstörerischer Macht.

Schwärze

hüllt dich ein

Du weinst

Doch keiner kann dich hören

Denn deine Mauern

Sind immer noch vorhanden

Bis du innerlich zerbrichst...


Ryo starrte auf die Tür und fühlte sich so dämlich wie nie zuvor. Er Trottel musste natürlich gleich wieder....jetzt war wohl alles verloren. Wenn Rika wütend war, dann half nichts mehr.

"Du glaubst, dass sich alles nur im dich dreht. Dein Leben ist supertoll und du stehst als supertoller Typ in der Mitte! Jeder leckt dir gleich die Füße ab und bewundert dich! Du denkst du bist der Größte und kannst alles!"

Verstört fuhr er sich durchs Haar. Niemals hatte er angenommen, dass sie so von ihm dachte. Sie hatte sich so wütend, so voller Hass angehört...War er so gewesen? War er immer noch so?
Er hatte niemals geglaubt, dass er besonders gut oder toll sei. Nein, Ryo hatte einfach sein Leben gelebt und sich entschlossen, an allem nur die gute Seite zu sehen. Sicher, er hatte das Glück, ein heiles Elternhaus zu haben, er war intelligent und sein Leben war immer recht gut verlaufen.

Plötzlich wurde er sich bewusst, wie das wohl auf Menschen wie Rika wirkte. Ihr Leben war bestimmt um einiges schwieriger als das seine - die Streitereien mit ihrer Mutter, ein Leben ohne Vater...vielleicht war es kein Wunder, dass sie so eiskalt geworden war. Wer immer nur verletzt wurde, der zog sich irgendwann zurück.

Manchmal für immer....

Dann hörte er das Schluchzen. Zuerst nur leise, unterdrückt, versteckt. Doch als er genauer hinlauschte, wurde es lauter. Es kam von hinter der Türe - dort weinte jemand. War das etwa....Rika?

Ryo hatte noch nie jemanden so weinen hören. So wütend und traurig zugleich, so einsam und verloren, eine Ansammlung von Gefühlen aller Art. Dass Rika weinte....das war noch nie vorgekommen. Selbst in den schlimmsten Situationen, in den ausweglosesten Kämpfen war sie immer die alte, beherrschte und starke Rika geblieben. Nie war auch nur eine einzige Träne aus ihren Augen, ein einziges Schluchzen aus ihrer Kehle gekommen.

War das noch dieselbe Rika? War das noch die Rika Makino, die er kannte, das Mädchen das dort hinter der Tür saß und weinte?

Dieselbe und doch eine andere...

"Rika?", er klopfte leise an die Tür. "Rika bist du in Ordnung?" Er wusste, dass es keinen Sinn machte - sie würde ihn sowieso nicht hereinlassen, störrisch wie sie war. Aber er konnte sie doch nicht dort alleinelassen, nicht wenn sie sich in einem so aufgelösten Zustand befand....

"Rika, bitte antworte doch....", sagte er schon fast verzweifelt. Das Herz wurde ihm schwer. Würde sie sich doch nur helfen lassen....

Forsetzung folgt...

Wollt ihr ein Bild von Rika in ihrem Kleid sehen? Dann geht zu http://www.angelfire.com/comics/kaeera/images/rika_kleid_.jpg