Die Gedanken sind frei

Kaeera

Kapitel 3: So schwarz wie der Tod

"Rika?", kam die gedämpfte Stimme von der anderen Seite der Türe. Warum....warum war er noch da? Warum war dieser Idiot nicht einfach weggegangen? Musste er denn alles noch schlimmer machen?
Sie wischte sich die Augen ab, versucht den Weinkrampf zu stoppen, aber wieder vergeblich. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an, heiß vor lauter Weinen und ihr Hals war rauh. Als sie auf ihre Hände schaute, bemerkte sie, dass diese zitterten. Wie gebannt beobachtete sie es, als ob sie Angst hätte, aufzuschauen...als ob jeden Moment ihre Welt um sie zusammenbrechen könnte.

Auch ihr restlicher Körper bebte. Sie trug noch immer das Kleid, eine einsame Schönheit in einem Hausflur, zusammengerollt an die Haustür lehnend, den Kopf in den Armen versteckt, mit geweiteten Pupillen in das Nichts schauend. Ihre ansonsten so voll Willen funkelnden Augen schienen trübe, und der harte Zug um ihren Mundwinkel war vollständig verschwunden. Das offene Haar fiel weich auf ihre Schultern und verlieh ihr einen verletzlichen Anblick.


Mitten in der Schwärze

Stehst du

Alleine

Um dich herum

Die Anderen

Lachen, Weinend, Kämpfend, Wütend, Freudig, Lächelnd, Umarmend, Errötend

Unerreichbar

Bis ein schwarzer Pfeil geflogen kommt

So dunkel wie die Nacht

So schwarz wie der Tod

So leise wie das Nichts

Und er trifft das Bild um dich herum

Zersplittert es

In tausend winzige Stückchen

Sie fliegen um dich herum

Wirbelnd, Glitzernd

Und als du sie zu fangen versuchst

Gleiten sie durch deine Hände

Unerreichbar

Für immer....


Sie wollte es doch gar nicht! Sie wollte weder weinen noch traurig sein...warum konnte sie es bloß nicht? Es waren ihre Gefühle, sie sollte doch fähig sein, diese zu kontrollieren....war sie zu schwach dazu? Nein, sie wollte nicht schwach sein. Niemals. Niemals so werden wie Mutter oder die anderen Mädchen, sich niemals mehr verletzen lassen, von keinem, sich einfach zurückziehen, ganz alleine, die Mauer aufbauen, keinen durchlassen, für immer, immer, immer....immer....für immer allein....
Die Gedanken jagten nur so durch ihren Kopf, machten sie schwindelig, bis sie es endlich nicht mehr aushielt.

Die Hände um den Kopf gekrallt stand sie auf und wankte von der Türe weg. Gedämpft hörte sie Ryo noch rufen, aber sie nahm die Worte nicht mehr war. Irgendwohin wo es dunkel war, wo sie nichts und niemanden sehen musste, sondern sich in Ruhe beruhigen und ihre Gedanken sortieren konnte.

Am Ende schleppte sie sich in die Abstellkammer, die kein Fenster hatte und nur selten benutzt wurde. Das kleine Zimmer war staubig und stank vermodert, aber all das interessierte Rika in dem Moment nicht. Sie wollte ihre eigene kleine Welt haben, wollte nichts und niemanden sehen bis sie nicht selbst mit sich ins Reine gekommen war.

Ryo's besorgte Rufe konnte sie nicht mehr hören und war auch froh darüber. Denn Rika Makino war stark, sie benötigte keine Hilfe. Sie würde das schaffen, sie würde stark sein, für Mama, und für sich selbst.

* * *

Das Schluchzen verebbte langsam, wurde leiser und sanfter. Ryo hörte schlurfende Schritte, ein Zeichen, dass Rika sich von der Tür entfernte. Seine Besorgnis wuchs; hier auf dieser Seite fühlte er sich gar zu hilflos, mit diesem hölzernen Block als Barriere zwischen ihm und Rika. Was machte sie bloß da drinnen? Er lauschte, doch nun herrschte Totenstille. Unschlüssig schaute er sich um.

Hoffentlich macht sie keine Dummheiten....

Ihn durchfuhr es siedendheiß. Sie würde doch nicht....sie würde sich doch nicht etwas antun, aus lauter Verzweiflung? Das grauenhafte Bild von einer leblosen Rika mit aufgeschnittenen Pulsadern kam ihm in den Sinn, und er schüttelte sich. Nein! Rika war nicht eine von denen, die sich umbrachten. Sie war eine Kämpferin, und solange es etwas zum kämpfen gab....

...solange es etwas gab....

Aber diese Rika war eine vollkommen andere, eine neue Rika. Er kannte sie nicht, es konnte sehr wohl sein, dass sie....sich etwas antat. Er musste zu ihr! Langsam lief er um das Haus und suchte nach einem Weg hinein zu gelangen. Vielleicht hatte er ja Glück...und tatsächlich, ein Fenster stand offen.
Ryo kletterte hinauf und schwang sein Bein über den Fenstersims. Hoffentlich sah ihn niemand, denn sonst konnte er der Polizei erklären, was er hier machte...gewiss keine sehr angenehme Erfahrung.

Das Zimmer war unaufgeräumt, ein totales Chaos, aber Ryo erkannte sofort, dass er in Rika's Zimmer gelandet war. Auf einem kleinen Tisch lag eine Sammlung von Digimon Karten, Renamon obenauf. Er seufzte; wäre nur sein Digimon Partner bei ihm, er hätte ihm gewiss geholfen. So musste er sich selbst zu helfen wissen, und er hatte absolut keine Ahnung, wie man ein Mädchen tröstete. Oder wie man Rika tröstete - sie war ja ein Sonderfall. Wie er sich ihr überhaupt nähern sollte, ohne dass sie in die Luft ging, war ihm ein Rätsel.

Sollte ich vielleicht die anderen rufen?

Jen würde sicher wissen, was zu tun war. Wahrscheinlich. Aber andererseits - Rika würde es ihm nie verzeihen, denn sie hasste Mitleid, ihren einzigen Wesenszug, den Ryo auch teilte. Er konnte es nicht leiden, wenn andere so mitleidig auf ihn runterschauten....

Moment mal. Hatte er etwa so auf Rika gewirkt? Als ob er Mitleid hätte?

Hatte er denn Mitleid?

Irgendwie schon. Ja, das musste er zugeben. Aber viel stärker war der Wunsch, ihr zu helfen, so dass sie sich besser fühlte. Er wollte diesen verlorenen Blick aus ihren Augen treiben, damit sie ihn wieder anschreien konnte, funkelnd vor Wut, doch voller Lebensenergie.

Entschlossen durchquerte er ihr Zimmer und machte sich auf die Suche. Wo konnte sie sich nur versteckt haben? Im Haus war sie noch, das war klar....außer sie hatte sich irgendwie nach draußen geschlichen, aber Ryo bezweifelte das. Und wenn sie hier war, dann würde er sie auch finden.


Einsam

Im Dunkeln

Fallen die Tränen

Auf den staubigen Boden


Verloren

in der Schwärze

Verklingt das Schluchzen

Ungehört


Traurig

in der Kälte

erstickt der Hilfeschrei

Noch bevor ein Ton über die Lippen kommt....


Hoffend

im Grau des Zwielichts

sieht das Auge

einen leichten Schimmer

Voller Wärme...


Das Dämmerlicht in der Abstellkammer war angenehm für ihre Augen, die sich durch das plötzliche und ungewohnte Weinen leicht entzündet hatten. Sie atmete tief durch und bemerkte befriedigt, dass das Schluchzen endlich verebbte und sie sich langsam aber sicher wieder unter Kontrolle hatte. Rika schloss die Augen und fuhr sich durch ihr rötliches Haar. Es war total inakzeptabel, wie sie reagiert hatte. Absolut unangebracht. Sowas sollte nie wieder vorkommen!

Irgendwie verstand sie es nicht, warum die meisten Mädchen so viel und oft weinten. Sie fand es anstrengend, demütigend und total deprimierend. Ihre Gedanken flogen wieder zu ihrer Mutter, die jetzt dort im Krankenhaus lag...was sie wohl zusammenträumte?

Sie würde doch niemals Rika, ihre Tochter, im Stich lassen, oder? Die Frau hatte sich doch immer eine Mutter-Tochter-Beziehung gewünscht, und dazu gehörte es definitiv nicht, dass ein Teil einfach so verschwand.....

Sterben....wenn Mama starb, was sollte sie dann tun? Sie hätte dann nur noch Oma....nicht einmal mehr Renamon, nicht einmal mehr den besten Freund den sie jemals besessen hatte.


Hoffend

im Grau des Zwielichts

sieht das Auge

einen leichten Schimmer

Voller Wärme...


Auf der Suche nach Rika war er schon durch sämtliche Zimmer des Hauses gewandert, ohne sie zu finden. Die riesigen Dimensionen des Hauses überraschten ihn, obwohl er zugeben musste, dass sie Einrichtung durchgehend freundlich gestaltet war und sehr heimelig wirkte.

Ryo war schon in der Küche gewesen, im Wohnzimmer und in einem Schlafzimmer, welches offensichtlich ihrer Mutter gehörte. Doch das rothaarige Mädchen hatte er nirgendwo gesehen, und irgendwie fühlte er sich auch seltsam unwohl, so ohne Erlaubnis in einem fremdem Heim herumzulaufen.

Wo würde ich hingehen, wenn ich total verzweifelt wäre und alleine sein will?

Er überlegte für einen Minute. Es gab Momente in seinem Leben, da wollte er sich am liebsten irgendwo verkriechen....den Kopf unter die Bettdecke stecken und vom Rest der Welt in Ruhe gelassen werden. Meistens zog er sich dann an irgendeinen stillen und verlassenen Ort zurück, wo ihn keiner fand und suchte.

Was wenn Rika das gleiche dachte und fühlte? Was für ein Ort war denn einsam genug? Wo suchte einen garantiert keiner?

Sein Blick fiel auf eine graue, unauffällige Tür. Abstellkammer...Na klar, das perfekte Versteck. Entschlossen ging er darauf zu, zögerte aber, als er seine Hand zum Griff ausstreckte. Er musste sich genau überlegen, was er tun sollte. Sonst würde er wieder irgendeinen Müll zusammenstammeln und Rika verärgern. Ryo musste systematisch vorgehen. Er musste....

Da fiel ihm die rettende Idee ein. Schnell lief er zurück zu Rika's Zimmer und griff nach der Renamon Karte. Das bekannte gelbe Gesicht starrte ihn mit undurchdringlichem Blick an. Er nickte zufrieden. Vielleicht schaffte er es nicht, an Rika ranzukommen, aber mit Renamon's Hilfe - indirekt natürlich - gab es vielleicht eine Möglichkeit, durch ihren Eispanzer zu kommen.

Er umschloss die Karte mit seinen Fingern und ging zurück zu der Abstellkammer. Er holte tief Luft, ein entschlossenes Funkeln in seinen Augen, und öffnete vorsichtig die Türe. Seine Augen mussten sich erst an das graue Zwielicht in dem Zimmerchen gewöhnen, aber so langsam erkannte er Umrisse und sah Rika, die auf dem Boden saß, den Kopf in ihren Armen verborgen.

Ein Licht...

scheint durch den grauen Panzer

Bringt das Eis zum Schmelzen....?

Das schwarze Kleid war staubig und verschmiert. Ryo ertappte sich dabei, wie er das bedauerte....Rika hatte so hübsch darin ausgesehen! Aus diesem Mädchen konnte einmal eine Schönheit werden - falls sie nicht vorher für immer in Depressionen versank.

Als er leise die Tür schloss, blickte sie auf und fixierte ihn. Lange Zeit sprach keiner der beiden ein Wort, sondern starrte jeweils den anderen an. Ryo mit einem ruhigen, ernsten Ausdruck im Gesicht, Rika dagegen aufgewühlt, zornig und genervt. Das Schweigen senkte sich über das Zimmer wie ein eiserner Vorhang, schien die beiden zu umklammert und nicht mehr loszulassen.

Der Junge verlor sich in den lilanen Augen Rikas, Augen voller Tiefe und Geheimnisse. Diese Augen hatten schon immer eine Art magische Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Dieser Willen, der dahinter verborgen war, diese kraftvolle, aber dennoch verletzliche Seele...und dann ihre Selbständigkeit, ihre scheinbare Kälte, die Art, wie sie niemals den Mut verlor oder schüchtern reagierte. Ryo schüttelte den Kopf, sich gedanklich ermahnend, dass er im Moment wichtigere Sachen zu tun hatte, als ins Schwärmen zu geraten.

Er kniete sich vor Rika nieder, was sie dazu veranlasste, ihn wütend anzufunkeln. Sie schwieg aber noch immer, und machte auch keine Anstalten, sich zu bewegen, etwas, das Ryo sehr verwunderte. Vielleicht meldete sich ja ihr Unterbewusstsein zu Wort, dass Hilfe wollte und brauchte und nur Rika's Kontrolle unterlegen war?

Egal. Er nahm die Karte mit dem Bild von Renamon und hielt sie Rika vor die Nase, ohne dass er ein Wort sagte. Ihre Augen weiteten sich und ein Ausdruck des Schmerzes flog über ihr Gesicht. Schnell schaute sie weg, wohl hoffend, dass er es nicht bemerkt hatte, aber Ryo hatte es sehr wohl wahrgenommen. Soweit ging sein Plan auf....

"Glaubst du, dass Renamon dies wollen würde?", sprach er in einer sanften Stimme und fixierte sie mit seinen unergründlichen, tiefblauen Augen.
Rika starrte in das ernste Gesicht, sah zum ersten Mal Ryo ohne sein Lächeln. "Was?", brachte sie mühsam hervor, verärgert, dass sie immer noch nicht die Kontrolle über ihre Stimme zurückerlangt hatte.

"Glaubst du, Renamon fände es toll, wenn er wüsste, dass du hier in der Kammer sitzt und dich vor dem Rest der Welt verschließt?", Ryo sah sie fragend an.

"Renamon geht dich einen feuchten Kehricht an!", fauchte sie und drehte sich um. "Hau bloß ab! Glaub bloß nicht, dass du mir helfen kannst!"

"Ich weiß nicht ob ich es kann.", sagte er leise. "Dir helfen. Aber ich möchte es gern. Denn du brauchst Hilfe."

"Ich brauche keine Hilfe!", sie fuhr herum und funkelte ihn an. "Besonderes nicht von einem Möchtegern-Macho wie dir, der sein verdammtes Leben lebt und immer nur Glück und Freude hat, während die anderen sich mit Problemen durch's Leben schleppen und weder ein noch aus wissen....", sie schlug sich die Hand vor den Mund, als hätte sie schon zuviel gesagt.

Nun wurde auch Ryo wütend. "Woher weißt du denn, ob mein Leben immer nur eitel Sonnenschein ist??! Du kennst mich doch gar nicht!", er warf die Hände in die Luft. "Ich hab ebenso wie andere Menschen Leid erlebt, und auch ich weine manchmal nachts unter der Bettdecke. Was fällt dir ein, sowas zu behaupten?"

"Ich kann behaupten, was ich will!", schrie Rika zornig zurück und funkelte Ryo an. "Du Sunnyboy! Du....Ekel! Was willst du eigentlich? Verfolgst mich ins Krankenhaus und dringst sogar in mein Haus ein!! Was denkst du denn, wer du bist? Superman? Der große Lebensretter? Heldenhafter Ryo? Er kommt, umarmt das weinende Mädchen und schon ist alles im Lot? Ha!", verächtlich schnaubte sie. "Auf das Getue kann ich verzichten."

"Das ist kein Getue!", Ryo knallte wütend seine Hand auf den Boden. "Ich bin besorgt um dich, verdammt. Ich zähle dich nämlich zu meinen Freunden, obwohl du mich nicht so behandelst! Und es ist ganz normal, dass man sich um seine Freunde sorgt und ihnen helfen will, wenn's denen mal schlecht geht. Ist das denn so schwer zu verstehen??"

"Ich BIN kein Freund von DIR!", ihre Augen glitzerten gefährlich. Innerlich schien das Mädchen zu kochen. "Ich BRAUCHE deine blöde Freundschaft nicht. Ich WILL sie nicht. Geh zu deinen Fans und such dir da einen raus, damit sie dich anbeten können. Aber LASS MICH IN RUHE!!!"

Ryo schüttelte den Kopf. "Wieso glaubst du immer, dass mein Leben so perfekt sei?", fragte er verärgert. "Ich habe es dir gerade eben schon mal gesagt: auch ich bin nur ein Mensch mit Emotionen. Und auch ich weine manchmal. Das ist doch ganz normal. Man kann weder kontinuirlich glücklich sein, noch kann man....", er warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. "...seine Gefühle vollständig unter Kontrolle halten. Das ist unnatürlich und führt nur zur Katastrophe."

Sie warf ihren Kopf zur Seite. "Das ist doch meine Sache, oder nicht? Du brauchst einfach nur zu gehen, dann wirst du damit auch nicht mehr belästigt!"

Die beiden starrten sich an und man konnte regelrecht die Blitze zwischen ihren Augen zucken sehen. Dann explodierte Ryo.

"Herrgottnochmal, RIKA!", schrie er wütend, verlor das erste Mal seine Fassung vor Rika's Augen. Seine blauen Augen funkelten sie an, zwei tiefe Seen, in denen es nun toste vor unterdrückter Wut. "Das versuch ich dir doch die ganze Zeit zu erklären! Ich WILL nicht gehen, aber ich WILL dir helfen! Im Gegensatz zu dir Dickkopf weiß ich nämlich, dass es besser ist, seinem Kummer freien Lauf zu lassen als ihn immer und immer wieder zu unterdrücken. Irgendwann muss es doch zur Explosion kommen, geht das in deinen Dickschädel nicht rein? Und dieser Moment scheint gerade ziemlich nah zu sein, denn so 'instabil' und verändert hab ich dich noch nie gesehen!"

"Ich...ich bin nicht instabil!", gab das Mädchen zurück, ihre Augen unruhig hin und her suchend, nach einer Idee, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen konnte. Diese Seite von dem sonst so freundlichen Ryo hatte sie noch nie gesehen. Warum war er nur so wütend? Es konnte ihm doch egal sein, was mit ihr passierte, es ging ihn doch einen feuchten Kehricht an...

Er ist dein Freund, Dummkopf...

Von wegen. Er war nicht ihr Freund. Seit sie ihn kannte, hatte sie ihn gehasst und schikaniert, kein einziges freundliches Wort mit ihm gewechselt und ihm ständig den kalten Rücken zugedreht. Außerdem - ein Typ wie Ryo war nicht mit Mädchen wie ihr befreundet, nicht mit Mädchen, die seine Freundschaft gar nicht wollten. Das ging doch, rein logisch gesehen, gar nicht!

Aber er denkt von dir als eine Freundin, auch wenn du ihn nicht leiden kannst. Er macht sich Sorgen um dich!

Misstrauisch äugte sie unter ihren Haaren hervor und starrte ihn an. "Ich...brauche keine Hilfe.", wiederholte sie, selbst nicht mehr ganz überzeugt von ihrer Ansicht.


****


Ryo verspürte das plötzliche Bedürfnis, seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen. Wie konnte jemand nur so DICKKÖPFIG sein!! "Tust du eigentlich nur so blöd oder was?", regte er sich auf, wohl wissend, dass das die falsche Reaktion war, aber er brachte es einfach nicht fertig, ruhig zu bleiben.

"Ich...", Rika wusste nicht mehr was sie sagen sollte und starrte Ryo nur großäugig an.

"Nein. Sag nichts.", er hob seine Hände und atmete tief durch. "Verdammt noch mal, denk doch NACH! Siehst du es nicht? Du hast geweint, ich hab es genau gehört. Und es war keine Weinen-weil-meine-beste-Freundin-was-böses-gesagt-hat. Nein, es war ein Weinen aus Verzweiflung und Trauer und weil du nicht mehr weißt, was du tun sollst. Das merk ich doch!"

Er schaute sie an. "Versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen, Rika. Du brauchst Hilfe. Wenn nicht meine, dann von jemand anders. Aber bitte, lass dir doch helfen!"


Du siehst das Licht
greifst danach
willst es festhalten
doch etwas hindert dich daran

als du dich umschaust
siehst du den schwarzen Pfeil

Schwarz wie die Nacht
Dunkel wie der Tod
Kalt wie das All

hält dich umklammert
mit eisigem Griff

Und das Licht rückt in weite Ferne....


"Ich....", innerlich zitterte Rika. Sie wusste, dass er recht hatte, fühlte es in ihrem Inneren, aber dann war da immer diese Stimme in ihrem Kopf, die 'Nein' kreischte, die darauf bestand, dass sie keine Hilfe brauchte. Das Mädchen erinnerte sich - erinnerte sich daran, warum sie keine Gefühle spüren wollte, warum sie sich auf niemanden verlassen wollte....

"Ich will mir nicht helfen lassen.", flüsterte sie und starrte Ryo an, ihren Blick in weite Ferne gerichtet als sie sich die schmerzhaften Bilder ihrer Vergangenheit ins Gedächtnis rief. "Wenn ich das tue, dann will ich mir beim nächsten Mal auch helfen lassen. Immer wieder. Ich werde schwächer werden, verlasse mich auf andere, vertraue ihnen....", ihr Gesicht wurde hart. "Aber dann kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem keiner zu Hilfe kommt, an dem man ganz alleine damit fertig werden muss! Und dann bricht es dir das Herz...", ihre Stimme hörte sich erstickt an und sie musste sich schon sehr anstrengen, dass sie nicht zu weinen begann.

"Deshalb willst du dir nicht helfen lassen?", fragte Ryo ungläubig. "Deshalb verschließt du dich vor anderen und lässt keinen an dich ran?"

Rika fixierte in mit einem ärgerlichen Blick, plötzlich realisierend, dass sie ihrem größten Feind ihr Herz ausgeschüttet hatte. "Vergiss am besten, was ich gesagt habe.", fauchte sie.

"Oh nein.", er schüttelte den Kopf. "Ich bin froh darüber. Sehr froh sogar. Jetzt weiß ich nämlich endlich den Grund für dein Verhalten. Du hast einfach Angst verletzt zu werden!"

Er kratze sich am Kinn, plötzlich wieder sein altes Selbst, ruhig, ausgeglichen. Von dem zornigen Ryo von vorhin war nichts mehr vorhanden, aber Rika wusste, dass es ihn gab. Irgendwie hatte dieser junge zwei total verschiedene Seiten....genau wie ich...

"Aber Rika...", er suchte nach den richtigen Worten. "Auf die Dauer kann man nicht so leben wie du es tust. Die Gefühle lassen sich leider nicht vollständig unterdrücken. Spätestens wenn du dich verliebst wirst du das merken! Und auch wenn du Angst hast, verletzt zu werden - das Leben hat nunmal seine Risiken. Und das ist die Kehrseite der Medaille! Aber wenn du diese Gefahr nicht auf dich nimmst - dann wirst du auch niemals richtig lachen oder einem Menschen vetrauen können. Du wirst niemals jemanden lieben...."

"Ach was. Liebe ist etwas für Narren.", meinte Rika abwertend. "Ich sehe keinen Sinn darin, plötzlich auf rosaroten Wolken zu laufen, Händchen zu halten und mich romantisch zu benehmen. Ich weiß gar nicht wie das geht!"

Ryo sah das plötzliche Bild von einer romantischen, flirtenden Rika vor seinem inneren Auge - kokett aufgeschlagene Wimpern, ein leichtes Erröten und nervöses Herumfummeln mit den Händen - und musste sich das Grinsen verkneifen. "Nicht jeder, der verliebt ist, benimmt sich so.", er rieb sich die Nase. "Denke ich. Liebe kann sich in verschiedenen Formen äußern. Und jeder kann lieben, auch du....naja, wenn du mal was von deinem Eispanzer weglässt und nicht jeden gleich abblockst!"


Für einen Moment glaubte Ryo, dass er es geschafft hatte. Dass er endlich zu ihr durchgedrungen war und sie kapiert hatte, was er sagen wollte. Es war Selbstzerstörung, so zu leben. Er hatte ihr das klarmachen wollen, obwohl das Thema Liebe ihm eher unbewusst herausgerutscht war - auf dem Gebiet hatte er recht wenig Erfahrung.

Doch als er schon hoffte, dass sich nun alles zum Guten wenden würde - eine trügerische Illusion - erschien wieder der altbekannte Schatten auf Rika's Gesicht.

Dem Mädchen wurde auf einmal klar, was sie gerade getan hatte - ihr Herz ausgeschüttet, zum ersten und wahrscheinlich einzigsten Mal....und ausgerechnet vor Ryo. Was war nur mit ihr los gewesen? Sie hatte sich gedemütigt, hatte Schwäche zugegeben...Nun hatte er Macht über sie, wusste Bescheid über ihre Gefühle und konnte das hemmungslos ausnutzen. Rika war nicht bewusst, dass sie sich in eine Panik hineinsteigerte - die wachsende Sorge um ihre Mutter, die augenblickliche Situation, die sie völlig überforderte und dann noch Ryo, das alles zehrte an ihren Nerven.

Und Rika, wie sie nun einmal war, kannte nur eine Art, darauf zu reagieren: Wut.

Ihr Gesicht wurde wieder unnahbar, als sie von einer Sekunde auf die nächste ihr Herz verschloss. "Ich behalte meinen Eispanzer, danke.", sagte sie mit rauher Stimme. "Geh doch zu jemand anders. Geh zu den anderen Mädchen, die dir ihre Seele ausschütten und sich an deiner Brust ausweinen, weil sie von jemandem gehänselt wurden. Da kanst du den großen Beschützer spielen, den großen Held! Auf jeden Fall gehst du mir dann nicht mehr auf die Nerven!"

Das dunkle Licht in der Kammer untermalte die Szene, gab ihr einen düsteren Anstrich. Schatten warfen sich auf Rika's Gesicht und ließen sie so hart und kalt wirken wie eine Steinstatue.

"Aber Rika...", meinte Ryo verzweifelt. "Machst du dir denn gar keine Sorgen wegen deiner Mutter?"

Sie schloss die Augen und sprach mit sichtlicher Mühe, konnte jedoch ein leichtes Beben in ihrer Stimme nicht unterdrücken. "Natürlich sorg ich mich um sie! Was denkst denn du? So herzlos bin ich auch wieder nicht. Ich zeige meine Sorge nicht, und ich komme alleine damit klar, kapiert?"

"Nein.", erwiderte er simpel. "Kommst du nicht."

Er starrte sie nur an, blaue Augen bohrten sich in violette, ein Blick der bis in die Seele zu reichen schien. Rika zitterte leicht, als sie regelrecht spürte, wie dieser Blick ihre tiefsten Gedanken und Gefühle las, ein alles durchschauender Strahl...sie verlor sich in den zwei Seen, obwohl sie es nicht wollte, war starr und unfähig etwas zu sagen.

Ryo hingegen sah zwei wunderschöne violette Augen, die ihn voller Entschlossenheit ansahen, von einer solchen inneren Kraft erfüllt, dass es ihn fast umhaute.
Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Eigentlich....eigentlich hätte er schon längst gehen sollen. Klar. Sie hatte ihn immerhin oft genug abgewiesen...

Warum bin ich überhaupt noch hier?

Warum kümmere ich mich überhaupt um sie? Warum ist es mir nicht egal?


Wieder standen die beiden in dem Raum, unfähig sich zu rühren. Ryo's Gedanken rasten. Er fühlte sich verwirrt, ihm war heiß und der eisenharte Blick Rikas ging ihm durch die Seele. Er konnte regelrecht spüren, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Ich sollte nach Hause gehen, ganz einfach....ich sollte sie hier versauern lassen, ist doch ihre eigene Schuld. Sie hat mich behandelt wie...wie Dreck! Warum tue ich das?

Weil mich irgendwas dazu zwingt...weil sie mich irgendwie anzieht...

Ryo war noch nie zuvor verliebt gewesen. Vielleicht hätte er dann eher verstanden, was vor sich ging. Aber in Sachen Gefühle war er auf seine Art genauso ein Eisklotz wie Rika, obwohl er das nicht wusste - und auch nicht wahrhaben wollte. Verliebt war auch nicht ganz die richtige Bezeichnung für das, was er fühlte - Starke Sympathien traf den Kern schon eher.

Rika hingegen spürte wie sie unter diesem Blick zu schrumpfen schien. Ein Zustand, der ihr gar nicht gefiel! "IDIOT!", schrie sie und stampfte an Ryo vorbei, endlich den Blickkontakt unterbrechend. Sie öffnete schwungvoll die Tür und verließ den düsteren Raum.

Das helle Tageslicht blendete in ihren Augen, und sie musste blinzeln. Schnell bedeckte sie ihre Augen, die sowieso empfindlich von dem vielen Weinen waren, und lief schnell von der Türe weg. Warum brachte der kerl sie nur so aus der Fassung? Warum lockte er die Teile von ihr hervor, die sie sonst nie zeigte? Was war das für eine Macht?....

Ihre Schritte lenkten sie unbewusst ins Wohnzimmer, ein großer, heller und freundlicher Raum - in dem jedes Möbelstück und jedes Bild an ihre Mutter erinnerte. Gedankenverloren nahm sie eine Großaufnahme von ihr in die Hände - eine Aufnahme aus einem Fotomagazin, was denn sonst...Schön war sie, wie immer, freundlich lächelnd mit strahlenden Augen. Früher hatte sie dieses Lächeln regelrecht verabscheut, doch nun wünschte sie sich sehnlichst, diese Gesicht vor ihren Augen sehen zu können...

Wie bleich sie doch im Krankenhaus gewirkt hatte! So...leblos und kalt....überhaupt nicht mehr hübsch, als ob sie ihr Strahlen verloren hätte. Ein Strahlen, welches Rika selber nie besessen hatte...Ihr Blick glitt zum Fenster, wo die Sonne gerade hinter dem Horizont versank. Wo Großmutter wohl blieb? Alleine würde sie in diesem Haus bestimmt verrückt werden...und an Schlaf war auch nicht zu denken.

Morgen gehe ich nicht in die Schule....

Leise Schritte verrieten ihr, dass Ryo ihr - wieder einmal - gefolgt war. "Warum verlässt du nicht einfach das Haus?", fragte sie müde, mit dem Rücken zu ihm.

"Ich habe dir meine Gründe genannt.", erwiderte er ruhig, hinter ihr stehenbleibend.

"Du brauchst dir keine Sorgen um mich machen."

"Tu ich aber. Ich bin halt genauso dickköpfig wie du..."

Rika wollte gerade etwas Scharfes erwidern, als plötzlich das Telefon klingelte. Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als ihr einfiel, dass das höchstwahrscheinlich ein Anruf vom Krankenhaus war. Sie ging zu dem Gerät und zögerte. Es mochte ja irgendwie dämlich klingen, aber sie hatte Angst davor, abzuheben...doch schließlich gab sie sich einen Ruck und nahm den Telefonhörer in die rechte Hand.

"Ja? Rika Makino hier?"

Träume, Illusionen, Wünsche, Gefühle

Sie sind in deinem Kopf

Gaukeln dir Stärke vor

Wo Schwäche herrscht

Und lassen dich

Irgendwann im Stich

Doch sollen wir deshalb ohne leben?

Können wir deshalb ohne leben?

......

Ist ein Leben ohne Gefühle überhaupt lebenswert???

*********************

"Rika? Ich bin's.", ertönte die sanfte Stimme ihrer Großmutter. Rikas Hand verkrampfte sich um den Hörer, so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

"Was ist? Weshalb rufst du an?", fragte sie verstört.

"Ich wollte bloß sichergehen, dass alles in Ordnung ist.", die Stimme zögerte. "Rika...der Zustand deiner Mutter hat sich verschlechtert. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne bei ihr im Krankenhaus bleiben."

"Aber...", 'Ich will auch bei ihr bleiben' hatte sie sagen wollen, doch irgendwie konnte sie es nicht. Sie brachte es einfach nicht fertig und verfluchte sich dafür.

"Du schaffst das alleine, nicht wahr Rika?", meinte ihre Großmutter vertrauensvoll, und doch hörte sie sich dünn an, ausgelaugt.

"...Ja....", Rika musste schlucken. Alleine daheim, die ganze Nacht, das erschien ihr auf einmal furchteinflößend.

"Ich weiß. Trotzdem...mir wäre es lieber, wenn du einen Freund oder eine Freundin anrufst. Denkst du, es könnte jemand bei dir übernachten?"

"Nein, Oma, das will ich nicht.", brachte sie endlich hervor. "Ich schaff das schon, ich bin ja nicht aus Zucker. Außerdem ist es ja nur für eine Nacht....wie sollten uns eher Sorgen um Mama machen!"

"Ja, du hast recht.", kam die Antwort. Irgendwie hatte Rika das Gefühl, dass die alte Dame in ihre Seele schauen konnte - genau wie Ryo vorhin! "Was ist denn mit Mama?", wollte sie wissen, teils aus Sorge, teils um vom Thema abzulenken.

"Ihre Atmung hat für einen Moment gestoppt. Aber nichts schlimmes!", beeilte sie sich zu sagen. "Nach einer halben Minute hat sie wieder angefangen und jetzt schläft sie friedlich, wie ein Baby."

"Gut.", sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. "Soll ich dir was ins Krankenhaus bringen?"

"Nein, ich fahr nachher kurz nach Hause und hol mir alles was ich brauche. Wird ja nicht viel sein."

"Okay."

"Dann bis später. Mach's gut!"

"Ja...", ein Klicken verriet, dass ihre Großmutter aufgelegt hatte. Rika ließ langsam den Hörer sinken und starrte auf die schwarze Tastatur des Telefons. Erst jetzt realisierte sie, was die Nachricht zu bedeuten hatte - erstens war sie heute alleine und zweitens....war ihre Mutter fast gestorben! Ihr wurde übel, als sie daran dachte. Während sie geweint und die Schwache gespielt hatte, kämpfte ihre Mutter um das nackte Überleben. Verdammt! Ihre Hände begannen zu zittern, als langsam der Schock einsetzte.

Da fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Ryo war hinter sie getreten und starrte sie an, aus seinen blauen Augen. "Ist alles in Ordnung?", fragte er besorgt. Rika las in seinen Augen - das erste Mal, dass sie so etwas tat - und sah nur ehrliche Fürsorge und offene Sympathie.