Die Gedanken sind frei
by Kaeera
Kapitel 4: Träume, Erinnerungen und Tränen
Ryo hatte sich dezent im Hintergrund gehalten und das Gespräch mitverfolgt. Genau hatte er beobachtet, wie sich Rika an dem Hörer festgeklammert hatte und wie angespannt das rothaarige Mädchen war. Es schmerzte ihn, sie so zu sehen. Er hatte sie immer für so stark gehalten, sie sogar ein bißchen beneidet, weil sie nie so etwas wie Leid und Trauer empfinden zu schien, doch heute hatte er angefangen zu verstehen, dass das alles nur Fassade war. Eine Mauer, aufgebaut als Schutz vor der restlichen Welt. Was hatte dieses Mädchen nur so verletzt? Was konnte einen einzelnen Menschen derartig tief verletzen, dass er jeglicher Gefühle entsagte und lieber als kalter Eisklotz dahinvegetierte?
Schwarzer Pfeil
hat dich umklammert....
Intuitiv legte er seine Hand auf ihre Schulter und schaute sie an. "Ist alles in Ordnung?", wollte er wissen, darauf hoffend, dass sie ihm einmal eine ehrliche Antwort gab. So langsam wurde es ihm nämlich wirklich zuviel - das war schon bald eine Situation für den Psychiater und nicht für ihn, einen normalen Schuljungen!
Dunkelheit
hält dich fest im Griff....
Sie antwortete ihm nicht, sondern starrte nur ins Leere, offensichtlich ihren eigenen, düsteren Gedanken nachhängend. Er fühlte, wie sein Temperament wieder zu kochen begann - Rika war auch wirklich die Einzige, die ihn so schnell zur Weißglut bringen konnte. Warum denn bloß, verdammt noch mal? Demnächst würde er ausrasten, aber so richtig, und das würde der Situation sicherlich nicht gerade helfen....
Du schreist um Hilfe
Lautlose Töne
Du weinst zum Herzerbarmen
Mit ausgetrockneten Augen
Du greifst nach dem Licht
Mit gefesselten Händen...
Er wartete auf eine Antwort, wartete darauf, dass sie ihn schlug, ihn beschimpfte
oder aus dem Zimmer warf. Doch sie schaute nur blicklos ins Leere, so verloren
und einsam, alleine...unglücklich.
Was tue ich? Was ist los mit mir? Was...was denke ich bloß? Ich weiß
nichts mehr, ich...verliere die Kontrolle! Nein, bitte nicht....ich darf nicht
zusammenbrechen, ich muss stark sein...stark...nein....
Voller Schrecken spürte sie, wie auf einmal alles zu bröckeln begann. Ihre schöne Mauer zeigte Risse, und die eiserne Kontrolle, die sie geglaubt hatte zu haben, erwies sich nun doch als schwächer als angenommen. Sie wollte es nicht, doch in ihrer Kehle bildete sich ein Kloß, der immer mehr anzuschwellen schien. Ihre Augen fühlten sich heiß an....
Nein, ich will nicht weinen....ich darf nicht weinen...
Hilflos starrte sie Ryo an, wie gebannt von der Krise, die sich in ihrem Inneren abspielte. Sie war schon die ganze Zeit am Rande eines Nervenzusammenbruchs gewesen, und nun war das Fass am Überlaufen.
Alles geht kaputt und ich kann nichts dagegen tun...
Erinnerungen kamen zurück, an die Zeit wo sie noch unbeschwert gelebt hatte, wo sie die Menschen geliebt und ihnen vertraut hatte. Dann der Schock - ihr Vater, der sie verließ und niemals wiederkam. Sie hatte ihm vertraut, hatte ihn geliebt, und er hatte ihr Herz gebrochen...Angst war in ihr gewachsen, die Angst dasselbe noch einmal durchstehen zu müssen. Sie hatte geglaubt, dass sie mit einer großen Willensstärke das Problem in den Griff bekommen könnte, aber irgendwie....irgendwie floss jetzt alles durch ihre Finger und verschwand.
Eine einzelne Träne rollte ihre Wange hinunter. Plötzlich wusste sie nicht mehr, wo sie war oder warum sie weinte. Der Raum verschwamm um sie herum, als ihre Knie weichwurden und sie langsam zu Boden sank. Hilfreiche Hände griffen ihr unter die Schultern und hielten sie fest. Wie nach einem Rettungsring griff sie nach ihnen und klammerte sich an sie, hemmungslos schluchzend. Auf einmal war ihr alles egal, vergessen waren Ryo und die anderen. Es war ihr egal, ob er es weitererzählte und jemand Mitleid mit ihr hatte. Die aufgestauten Gefühle hatten sich ihren Weg nach draußen gesucht und endlich die Wände gesprengt.
Sie vergrub ihr Gesicht in etwas Weichem, suchte Schutz in der Wärme. Es fühlte sich angenehm an, wie geborgen, und sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte.
Ryo hatte mit allem gerechnet, doch die Tatsache, dass Rika sich plötzlich gegen ihn lehnte und anfing zu weinen...das überforderte ihn völlig. "Äh...", machte er und spürte, wie sein Kopf sich knallrot färbte. Das Mädchen schien gar nicht mehr mitzubekommen, was um sie herum vorging, sondern weinte nur.
Er verfluchte sich selbst, weil er nicht wusste, was er tun sollte und kramte verzweifelt in seinem Gedächtnis nach irgendwelchen Ideen. Was taten die anderen denn bloß, wenn jemand traurig war? Bei den Jungs kam es ja selten vor, dass jemand weinte, und die Mädchen...tja...was taten die normalerweise?
Langsam hob er seine Hände und tätschelte unbeholfen ihre Schultern. "Es ist okay.", sagte er mit kratziger Stimme. Seine Arme schlangen sich um ihren Oberkörper, ohne dass er bewusst den Befehl dazu gegeben hatte, und er hielt sie fest, spürte ihren bebenden Körper.
Irgendwie wusste er, dass es besser war, nichts zu sagen. Sie musste sich erst einmal richtig ausweinen, danach würde es ihr bestimmt besser gehen. So begnügte er sich damit, sie in den Armen zu halten und beruhigende Worte zu murmeln. Jetzt erst verstand er, was ihre Großmutter gemeint hatte.
Das kleine Mädchen mit den rotem Pferdeschwanz spielte im Wohnzimmer
mit ihren Autos. Sie sah glücklich und zufrieden aus, als plötzlich
der Frieden durch laute Stimmen durchbrochen wurde. Erschreckt schaute sie auf.
Ihre beiden Eltern betraten den Raum, beide sahen sie wütend aus. "Papa!",
rief sie und rann ihrem Vater mit offenen Armen entgegen. Sie verehrte ihn heiß
und innig. Manchmal half er ihr Baumhäuser zu bauen und andere tolle Sachen
zu machen, gegen die ihre Mutter war. Es war immer lustig, wenn Papa da war,
er war so stark und groß.
Doch diesmal schwenkte er sie nicht herum, wie er es immer tat, sondern
beachtete das kleine Mädchen gar nicht. Überrascht schaute sie aus
ihren großen Augen zu ihm empor. "Papa?"
Der Mann seufzte und beugte sich zu ihr hinunter. "Papa muss gehen, Ruki.
Er geht weit fort und wird lange wegbleiben."
"Du darfst nicht gehen!", sagte das Mädchen. "Du bist mein Papa!"
"Manchmal muss man Dinge tun, die einem unangenehm sind...", er schaute sie an, und schon damals wusste sie sofort, dass das nur eine Ausrede war. Ihre Mutter starrte nur aus dem Fenster und sagte keinen Ton. "Dann komme ich mit!", meinte sie bestimmt.
"Nein, Ruki, das geht leider nicht. Du bleibst bei Mama, in Ordnung? Mama wird gut für dich sorgen."
"Aber ich will dass du auch bleibst!", Tränen formten sich in ihren Augen und sie fing an zu schluchzen. "Ich will nicht, dass du gehst! Du sollst hierbleiben! Mama, sag ihm dass er hierbleiben soll!", Hilfesuchend schaute sie zu ihrer Mutter, doch diese machte keinerlei Anstalten, ihr zu helfen. Also klammerte sie sich am Hosenbein ihres Vaters fest und fing an wie verrückt zu schreien.
"Ruki, sei doch still...", versuchte er sie zu beruhigen, doch keine Chance. Sie umklammerte sein Bein mit eisernem Griff. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als Gewalt anzuwenden. Unsanft landete Rika auf dem Boden. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie den Rücken ihres Vaters anstarrte. Langsam verließ er das Haus.
"PAPA!", kam der letzte verzweifelte Aufschrei, doch er drehte sich nicht einmal um. Ihre Mutter trat langsam hinter sie und legte eine Hand auf ihre Schulter. "Du kannst es nicht ändern, Ruki...."
"Nenn mich nicht Ruki!", sie schlug die Hand ihrer Mutter weg und funkelte sie an. "Nur Papa darf das!", sie wischte die Tränen weg und rannte aus dem Zimmer. Das war der Moment gewesen, als zum ersten Mal der verschlossene und harte Zug um ihren Mund auftauchte....
~~~
Ihre Schultern bebten, als langsam die verdrängten Erinnerungen wiederkamen
und ihr Herz von neuem bluten ließen. Oh, und wie sie ihn gehasst hatte!
Er war gegangen, einfach so, hatte sie im Stich gelassen, und sie hatte ihm
vetraut, ihn geliebt und bewundert...und ihre Mutter war auch nicht besser gewesen.
Jedes Mal, wenn Rika nach ihrem Vater gefragt hatte, war sie ihr ausgewichen,
hatte sie vermieden, ihr in die Augen zu sehen. Selbst heute hatte sie nur eine
vage Vorstellung davon, was wirklich passiert war....
Konnte man ohne Gefühle leben? Rika hatte geglaubt, dass sie es konnte,
aber als auf einmal diese Trauer auf sie hereinbrach....das war doch auch ein
Gefühl, oder? Konnte man sich denn gar nicht dagegen schützen? War
man wehrlos und hilflos, musste man durchs Leben irren und einfach damit fertigwerden,
immer und immer wieder aufs tiefste zu verletzt werden?
Sie hatte geglaubt, dass sie sich schützen konnte, hatte eine Mauer um
sich herum aufgebaut, aber dabei nicht wahrhaben wollen, dass sie sich ins eigene
Fleisch schnitt!
Irgendwann konnte sie nicht mehr. Ihr Körper war erschöpft von dem ganzen Weinen, ihre Augen taten weh und es wurde ihr alles zuviel. Die Schulter an der sie lehnte fühlte sich warm an, vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Es war gar nicht mehr wichtig, dass diese Schulter zu Ryo gehörte. Sie hatte es einfach vergessen...es dauerte nicht mehr lange bis das Mädchen eingeschlafen war, die tiefen Linien des Kummers in ihr hübsches Gesicht gegraben.
Sie trug noch immer das schwarze Kleid, vielleicht ein Ausdruck dafür, dass sich etwas geändert hatte...dass sich hoffentlich etwas geändert hatte...
Ryo lächelte, als er bemerkte, dass das Mädchen in seinen Armen eingeschlafen
war. Vorsichtig hob er sie auf - wie leicht sie war! - und trug sie zum Sofa.
Er zog ihr behutsam die Schuhe aus und legte eine Decke über ihren schmächtigen
Körper. Wenigstens ein Problem war - vorerst - aus der Welt geschafft.
Er ließ sich selbst in einen Sessel plumpsen und seufzte. Nun merkte er
erst, wie ausgelaugt er sich fühlte. Müde schaute er aus dem Fenster;
die Sonne war untergegangen und die Vögel verstummt. Vielleicht sollte
ich meine Eltern anrufen...fiel ihm ein, doch irgendwie schaffte er es nicht,
sich zu erheben. In seinem Kopf kreisten die Gedanken, überschlugen sich
und verwirrten ihn nur noch mehr.
Sein Blick wanderte zu Rika. Wie friedlich sie aussah! Und hübsch...er wusste nicht, warum er sich so seltsam fühlte. Als ob er...als ob es seine Pflicht wäre, sie zu beschützen. Er wollte es, wollte verhindern, dass sie weinte, wollte sie lächeln sehen, fröhlich, unbeschwert - aber nicht so verloren und einsam!
Was war nur los mit ihm?
Er erinnerte sich an die Zeit, als er Rika zum ersten Mal getroffen hatte. Eine einsame Kriegerin mit einem mordsmäßigem Dickkopf, die stur ihren eigenen Weg ging und auf keinen Ratschlag hörte. Warum hatte sie ihn von Anhieb an nicht leiden können? Es war Ryo stets ein Rätsel gewesen - soweit er sich erinnerte, hatte er nichts Böses getan, außer dass er bei dem Wettbewerb besser abgeschnitten hatte als sie.
Naja, vielleicht war das ja in ihren Augen eine Todsünde...
Er lächelte bei dem Gedanken. Sie war schon etwas besonderes, dieses Mädel....eine Furie wie keine zweite. Konnte einen Jungen zu Boden schlagen und allen das Fürchten lehren, indem sie sie nur anfunkelte. Und doch...es gab auch eine andere Seite, wie er heute gesehen hatte. Zwar hatte er es immer vermutet, aber nun wusste er es und fühlte sich seltsam erleichtert. Es war wohl doch unmöglich, immer nur stark und selbstbewusst zu sein.
"Du Sunnyboy mit deinem ewigem Lächeln, dir fällt alles in den Schoß und alle liegen dir zu Füßen. Du weißt gar nicht wie das ist!"
Sein Gesicht verdüsterte sich, als ihm diese Worte in den Sinn kamen. Das sie so von ihm dachte...natürlich wusste er, wie das war! Kummer, Leid, Angst, alles Gefühle die er zu Genüge kannte. Aber er war wie Rika und zeigte nie, was er wirklich empfand. Lächeln ist ein guter Weg, deinem Gegner die Zähne zu zeigen...
Rika bewegte sich im Schlaf und murmelte irgendetwas. Es klang wie 'Papa', aber Ryo war sich nicht ganz sicher. Was war denn mit ihrem Vater? Wenn er es recht bedachte....er hatte ihn noch nie gesehen, und auch unter ihren Freunden war das ein Thema, das man lieber vermied, wenn man nicht zur Zielscheibe von Rikas Zorn werden wollte. Bestimmt gab es dort auch einige traurige Geheimnisse....er seufzte tief. Das würde wohl doch noch länger brauchen als zuerst angenommen...
"Mama, wann kommt Papa wieder nach Hause?", fragte das kleine Mädchen
und lehnte sich an das Sofa. Sie war inzwischen acht Jahre alt und starrte ihre
Mutter nun herausfordernd an. Diese seufzte und blickte von den Magazinen auf,
in denen sie gerade geblättert hatte.
"Ruki..."
"Rika!", kam die scharfe Antwort.
"Meinetwegen, Rika...Papa kommt nicht wieder. Ich hab es dir schon einmal gesagt. Es ist aus, verstanden? Er ist weg. Für immer."
"NEIN!", Rika schrie zornig auf. "Ich will nicht dass er
weg ist! Er ist mein Papa! Ich will meinen Papa haben! Warum ist er gegangen???
Er hatte mich doch lieb...", große Tränen kullerten ihre Wangen
hinunter. "Er hatte mich lieb...", wimmerte sich und wischte mit dem
Ärmel ihres T-Shirts über das Gesicht.
Dann rannte sie aus dem Zimmer, hinaus in den Garten. Sie verkroch sich in ihrer
Lieblingsecke, einem kleinen Platz in den Gebüschen wo nur sie hinkam.
Aus ihrer Hosentasche kramte sie ein kleines Bild mit dem lachenden Gesicht
ihres Vaters. Er hatte es ihr zum Geburtstag geschenkt.
"Von wegen 'er hat mich lieb'...", flüsterte sie und Tränen tropften auf das Foto. "Wenn er mich lieb hätte, dann wäre er nicht einfach gegangen. Das war alles eine Lüge! Nichts als Lüge!!!"
Zornig schmiss sie das Foto in den Gartenteich und schrie: "DIESE GANZEN GEFÜHLE SIND EINE LÜGE! LIEBE! HAH! WAS IST DAS SCHON???", ihre Fäuste ballten sich zornig und ihre Augen funkelten. "Ich werde niemals zulassen, dass ich Gefühle empfinde! Hört ihr? Ich werde mich nicht noch einmal hereinlegen lassen! Denn es ist doch sowieso alles Lüge...", sie drehte sich um und rannte ins Haus zurück. "Und weinen werde ich auch nie mehr!"
Als Frau Makino nach Hause kam, war es schon dunkel. Die große Villa
sah leer und furchteinflößend aus, nirgendwo brannte Licht. Die ältere
Frau runzelte besorgt die Brauen. Hoffentlich war Rika nicht wieder weggerannt
oder hatte eine andere Dummheit angestellt!
Sie schloß die Einganstüre auf und betrat den dunklen Flur. Schatten
schienen auf jeder Seite zu lauern und nahmen dem sonst so wohnlichem Haus etwas
von seiner Gemütlichkeit. Aber das Gefühl verschwand in dem Momemt,
wo sie das Licht einschaltete.
"Rika?", rief sie und legte ihre Schlüssel auf die Ablage. "Rika,
bist du da?" Als keine Antwort kam, machte sie sich auf die Suche. Sie
schaute in das - wie immer unordentliche - Zimmer ihrer Enkelin, doch das Mädchen
war nicht da.
Dann begab sie sich ins Wohnzimmer - und musste sofort lächeln.
Rika, ihre unnahbare ich-schaff-alles-allein-Enkelin Rika, lag auf der Couch mit einer Decke über ihrem Körper, zusammengerollt wie ein Fötus und offensichtlich tief schlafend. Sie lächelte und strich vorsichtig über das Gesicht des Mädchens. Selbst jetzt konnte man noch die Tränenspuren sehen.
Dann drehte sie sich um und bemerkte die zweite Person im Raum. Es war der Junge von vorhin - wie war noch sein Name gewesen? Ach ja, Ryo...er saß im Sessel, den Kopf zur Seite gelehnt und auch friedlich schlummernd. Die Frau seufzte erleichtert. Es war wohl doch in Ordnung gewesen, Rika alleine zurück zu lassen. Sie hatte sich zuerst Sorgen gemacht, doch offensichtlich hatte dieser Junge ihre widerspenstige Enkelin gut im Griff - oder wusste wenigstens mit ihr umzugehen.
Irgendwie hatte sie das gleich gespürt, als sie ihn getroffen hatte. In seinen Augen funkelte nämlich der gleiche entschlossene Wille und Dickkopf wie in Rika's. Außerdem mochte er sie...das war genug. Auch wenn das Mädchen ihn nicht leiden konnte, er war sicher die beste Ansprech- oder Streitperson in diesem Fall!
Fürsorglich zupfte sie an der Decke herum und sorgte dafür, dass den beiden Jugendlichen auch warm genug war. Danach ging sie in ihr Zimmer und packte die Sachen, die sie benötigen würde, um die Nacht im Krankenhaus bei ihrer Tochter zu verbringen.
"Gute Nach, ihr beiden!", flüsterte sie liebevoll als sie den Raum verließ und das Licht löschte. Stille senkte sich wieder über das Haus der Makino's.
Langsam füllten goldene Lichtstrahlen das Wohnzimmer. Die Sonne war gerade am Aufgehen und schien durch das Laubdach der Bäume im Garten. Die ersten Vögel fingen an zu singen - wieder einmal die schwarze Amsel mit ihrem schönen Lied. Im Garten regte sich das Leben; Vögel sprangen auf und ab, die Bienen fingen eifrig an von Blüte zu Blüte zu fliegen und eine Eidechse saß träge in der Sonne und faulenzte.
Der Tag zeigte sich von seiner besten Seite. Angenehme Temperaturen, Sonnenschein, ein leichter Wind in der Luft und das Vogelkonzert im Garten. Kurzum ein geniales Wetter, ein Wetter wo die Leute aufstehen und lächeln, sich auf den Straßen grüßen und einfach glücklich sind.
Die Sonnenstrahlen kitzelten Ryo an der Nase und er öffnete ein Auge. Schläfrig bemerkte er, dass er 1.)nicht zu Hause war, 2.) in einem Sessel saß und 3.) sein Hals furchtbar weh tat. Wahrscheinlich von der unbequemen Position, in der er geschlafen hatte. Er blinzelte und schaute auf die Uhr. Halb Fünf Uhr morgens! Er konnte noch mindestens zwei Stunden schlafen! Für einen Moment überlegte er sich noch, ob er nicht besser aufstehen sollte, bevor Rika aufwachte und ihn zur Türe hinauswarf, aber bevor er eine Entscheidung fällen konnte, war er schon wieder eingeschlafen.
Er träumte irgendeinen Wirrwarr, zusammenhangsloses Zeugs, unsinnig und
totaler Blödsinn. Irgendwie war ihm die ganze Zeit bewusst, dass er schlief,
doch das schien irgendwie gar nicht von Bedeutung zu sein. Einerseits sah er
sich selbst wie er im Sessel lag, andererseits ging sein Bewusstsein auf eine
abartige Reise. Er schwamm im Meer, stritt sich mit Rika(die seltsamerweise
ein weißes Kleid(!) trug), wurde einen Strudel hinuntergezogen und fand
sich schließlich in einer düsteren Einöde wieder. Neben ihm
steckte ein schwarzer Pfeil.
Ryo's Traum:
Der Sand blies ihm ins Gesicht, Staub wirbelte auf, grau, kalt, verdeckte die Szenerie und machte die Landschaft kalt und unansehnlich. So weit er auch schaute, er konnte keine Pflanze, kein Lebewesen entdecken. Wie tot, gestorben, vergangen sah die Gegend aus. Selbst der Himmel zeigte ein verhangenes Grau, kein Sonnenstrahl durchbrach die dichte Wolkendecke. Es war still, ruhig, kein Laut, kein Rascheln. Unheimlich...
Ryo sah sich um und fröstelte. Ihm war kalt, und die depressive Umgebung begann ihm auf die Nerven zu gehen. Er wusste ganz genau, dass er träumte, doch dieses Wissen half ihm nicht aufzuwachen. Im Gegenteil, es machte alles noch schlimmer, da er sich vollkommen ausgeliefert fühlte, hilflos, und doch wusste, dass dies alles nur eine Produktion seines eigenen Gehirnes war!
Der Junge zuckte zusammen, als plötzlich neben ihm etwas in den Staub fiel, mit einem surrenden Geräusch. Er blickte hinunter und blinzelte. Neben ihm steckte ein schwarzer Pfeil im Sand.
Schwarz wie die Nacht
Dunkel wie der Tod
Er kniete sich nieder und berührte das Objekt mit dem Finger. Sofort begann der Pfeil sich aufzulösen, bildete Schlieren aus schwarzem Nebel, die sich um Ryo herum zogen und ihn zu fesseln schienen. Er zuckte zurück und fiel auf seinen Hintern. Was war das nur?
Auf einmal stoppten die Nebelschwaden, als ob sie etwas bemerkt hätten. Sie wanden sich zögernd in eine andere Richtung, richteten sich aus und strömten schließlich davon. Ryo kam sich etwas blöd vor, als er aufstand und dem Nebel folgte, doch irgendetwas sagte ihm, dass es wichtig sei. Bald erreichte er ein kleines Tal, in dem die schwarzen Schwaden wogten wie ein dunkles Meer, ein allesverschlingendes Etwas. Und in der Mitte stand eine Figur in einem weißen Kleid, einsam, alleine, gefangen in dem schwarzen Nebel.
Sie schaute ihn an, mit ihren wunderschönen violetten Augen, die roten Haare wogten um ihr Gesicht im Einklang mit dem Nebel. Das weiße Kleid ließ sie zart und zerbrechlich aussehen, fast wie ein Engel, schön und unerreichbar fern. Sie streckte eine Hand aus, als wolle sie, dass er ihr helfe, doch die schwarze Wand zwischen ihnen stellte eine unüberwindliche Barriere dar. Schlieren wanden sich um ihren Körper um sie zu fesseln, und ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, doch kein Laut kam heraus. Eine einsame Träne rollte ihre Wange herab, funkelte kurz und verschwand dann in der Schwärze.
"RIKA!", schrie Ryo verzweifelt, denn er wollte ihr helfen, doch die Wand hielt ihn zurück und er konnte nur hilflos zusehen, wie sie immer mehr von der Schwärze aufgesaugt wurde. "RIKAAAAAAAA!!"
Das Zwitschern der Vögel weckte sie schließlich vollends. Rika blinzelte
müde und streckte sich. Verschlafen kratzte sie sich am Kopf und schaute
im Raum umher, noch nicht ganz wach und erst so langsam zu Sinnen kommend. Sie
fühlte sich blendend, seltsamerweise, ausgeschlafen und total fit. Selbst
als sie sich an gestern und die Sache mit ihrer Mutter erinnerte, tat das ihrer
positiven Einstellung keinen Abbruch. Was Schlaf doch für ein Wunder bewirken
konnte!
Sie schüttelte das Haar aus ihrem Gesicht und bemerkte, dass sie in dem Kleid geschlafen hatte. Das schwarze Teil war total verknittert und verrunzelt. Ihr erster Gang am Morgen würde wohl der Kleiderschrank in ihrem Zimmer sein. Also stand sie auf und trottete barfuß durch das Wohnzimmern. Leider kam sie dabei auch an dem (noch immer schlafendem) Ryo vorbei. Sofort fiel ihr die Szene in der Nacht und vom vorigem Abend wieder ein und sie grummelte verärgert vor sich hin.
Ryo's Augenbrauen zuckten im Schlaf und sein Gesicht zeigte einen seltsam gequälten Ausdruck. Er hatte wohl einen Alptraum...unsicher trat Rika von einem Fuß auf den anderen, als ihr einfiel, in was für einer Situation sie war. Sie war alleine zu Hause und hatte im selben Zimmer wie Ryo geschlafen, wobei er ihr höchstwahrscheinlich die Schuhe ausgezogen und sie zugedeckt hatte! Das erforderte Rache!
Aber andererseits war ihr auch bewusst, dass er nur hatte helfen wollen. So früh am Morgen wusste sie noch nicht mit diesem Problem umzugehen und entschied sich deshalb für die einfachere Lösung: erst mal umziehen und dann frühstücken! Gestern hatte sie nämlich nichts gegessen, und ihr Magen machte sich so langsam bemerkbar.
Sie ließ Ryo wie er war und zog sich schnell um - eine dunkelblaue Jeans und ein rotes T-shirt mit einem Yin-Yang Symbol darauf. Dann wanderte sie in die Küche und öffnete den Kühlschrank auf der Suche nach etwas Essbarem. Sie war selbst überrascht, wie locker sie sich fühlte, obwohl doch ihr ganzes Leben gerade aus der Bahn geriet, aber sie schob es auf den erholsamen Schlaf, den sie gehabt hatte.
Es war ein seltsames Gefühl, so alleine in der Küche. Normalerweise herrschte des Morgens immer eine Hektik bei den Makino's, mit ihrer Großmutter als den ruhenden Pol in der Mitte, doch heute war alles still und friedlich. Durch das gekippte Fenster konnte sie den Gesang der Vögel hören, die Sonnenstrahlen spiegelten sich auf dem Küchentisch wieder und die Luft war warm und angenehm.
Rika strich sich langsam ein Brot und nippte an ihrem Kakao. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es schon halb neun war - was war denn heute für ein Tag? War denn nicht Schule? Selbst wenn - sie wäre sowieso nicht gegangen. Es war ihr auch total egal. Und wenn Ryo die Schule verpasste, naja, das war sein Problem.
Sie spielte mit dem Gedanken im Krankenhaus anzurufen, bis ihr einfiel dass sie die Nummer nicht hatte. Mit finsterem Blick starrte sie das Telefon an. Großmutter könnte sich wirklich langsam zu Wort melden - oder sollte sie zum Krankenhaus gehen? Der Gedanke an das graue Gebäude ließ sie frösteln. Nein, definitiv nicht. Sie fürchetet sich davor und verdrängte den Gedanken aus ihrem Gehirn.
Ohne dass es ihr bewusst war wanderte ihr Blick immer wieder zum Wohnzimmer. Durch die Küchentüre konnte sie die Rückenlehne des Sessels mit Ryo darin erkennen. Vielleicht sollte sie ihn mal so langsam aufwecken...
Ach nein...ich lass ihn schlafen.
Sie biss herzhaft in ihr Brot und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Heute fühlte sie - seltsamerweise - nichts mehr von ihrer Wut oder von dieser erschütternden Trauer. Nein, es war komisch...sie fühlte sich ganz normal, etwas trübselig vielleicht, aber eigentlich ganz locker.
Er war total verzweifelt! Rika verschwand in dieser Schwärze und er konnte nichts tun! Der flehende Blick des Mädchens schnitt ihm ins Herz. "Verdammt!", fluchte er und versuchte mit Tränen in den Augen einen Durchgang zu finden, doch vergebens.
Rika schrie, und diesmal konnte er den Schrei hören. Voller Angst, Panik und Entsetzen hallte er wieder, ging ihm durch Mark und Bein. Tränen liefen ihre Wangen hinunter, als die schwarzen Schlieren langsam nach ihrem Mund, ihrer Nase, ihren Augen griffen und sie einhüllten. Ryo wurde schmerzhaft zurückgeschleudert, als er wieder einmal versuchte zu ihr durchzudringen. Es blieb ihm nichts anderes übrig als fassungslos zuzusehen, wie nur noch Rikas Hand aus der Schwärze hervorragte - und endlich auch die verschwand.
"RIIKAAAAAAAAAAAAA!!!!", schrie er verzweifelt und fiel auf die Knie. Voller Schmerz und Zorn heulte er auf, verfluchte sich und die Welt, verfluchte die Schwärze und spürte die heiße Trauer in seiner Kehle, die ihn nicht mehr loslassen wollte...
"WAAAAHH!", schrie Ryo und fiel aus dem Sessel. Entsetzt schaute er
sich um und atmete schwer. Was...was war passiert? Erst so langsam wurde ihm
bewusst, dass er sich nicht mehr in der schwarzen Einöde, sondern in dem
Wohnzimmer von Rika's Familie befand. Was zum Teufel...
Als sie den Schrei hörte, ließ sie vor lauter Schreck ihr Brot fallen. "Was...?", machte sie und sprang vom Stuhl auf. Gerade hatte sie sich so schön entspannt, und dann das!! Empört stapfte Rika in Richtung Wohnzimmer, um dem Verursacher dieses Szenario gehörig den Marsch zu blasen.
Die Szene, die sie erwartete, war durchaus skurril. Der zuvor friedlich schlafende
Ryo lag nun ausgebreitet auf dem Boden mit einem gehetzten Ausdruck im Gesicht.
Er sah total verängstigt und verschreckt aus, ein Gefühlszustand,
den sie bei dem beherrschten Sunnyboy noch nie zuvor erlebt hatte - und der
sie irgendwie faszinierte. Hektisch schaute er um sich und Schweiß glitzerte
auf seiner Stirn. Sein Atem schien regelrecht zu rasen!
Rika lehnte sich lässig gegen den Türrahmen. "Bist du jetzt vollkommen
durchgeknallt?", fragte sie kalt und zog eine Augenbraue hoch.
"Rika?", Ryo drehte sich langsam um und starrte sie an wie das achte Weltwunder. "Ich...du....", stotterte er, unfähig einen vollständigen Satz zu formulieren.
"Ja.", dieses 'Ja' von Rika schien alles zum Ausdruck zu bringen
- absolute Genervtheit, aufkeimender Zorn und unterdrückte Wut.
Ryo schluckte und fuhr sich über die heiße Stirn. "Ach...nichts...nur
ein Alptraum...", sein Blick irrte immer wieder zu dem Mädchen im
Türrahmen, als wolle er sich davon überzeugen, dass auch wirklich
alles in Ordnung war. So langsam kam er wieder zu Sinnen.
"Ähm...Guten Morgen.", sagte er dann, als ihm einfiel, wo er war und warum. Er fühlte sich seltsam fehl am Platz, vor allem da Rika so gelassen im Raum stand, als ob nie etwas passiert wäre.
"Morgen.", erwiderte das Mädchen und betrachtete den Tamer mit einem abschätzenden Blick. Der Alptraum musste wirklich übel gewesen sein, und sie hätte zu gern gewusst, worüber er gehandelt hatte - was konnte eine 'perfekte' Person wie Ryo so erschrecken? - aber sie verbot es sich strengstens, irgendeine Form von Neugierde zu zeigen.
"Dann kann ich ja wieder frühstücken gehen.", meinte sie trocken und drehte ihm den Rücken zu.
"Äh...ja.", antwortete Ryo perplex.
Ryo trottete hinter Rika in die Küche. Er konnte seinen Blick einfach nicht von dem Mädchen abwenden. Er war so froh, sie sicher und gesund zu sehen! Doch was hatte dieser Traum zu bedeuten? Und warum hatte er ihn geträumt? Er fühlte sich verwirrt und sein Kopf schmerzte.
Rika hatte sich inzwischen wieder an den Küchentisch gesetzt und mümmelte an ihrem Brot. Sie schien Ryo gar nicht mehr zu beachten, worüber er ganz froh war. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu ihr.
"Darf ich mir was nehmen?", fragte er beinahe schüchtern und starrte hungrig auf das ausgebreitet Essen. Rika zuckte nur mit den Schultern, was er als Zustimmung deutete. Er nahm sich das Brot und schnitt sich eine Scheibe herunter.
"Gibt's schon was Neues?", wollte er dann wissen, während er sein Brot bestrich. "Ich meine, wegen deiner Mutter....", er äugte unter seinem braunen Haarschopf hervor und sah gerade noch, wie Rika sich versteifte. ~Oh-Oh. Falsches Thema.~
"Das geht dich nichts an!", sagte sie abweisend. Ryo seufzte. Waren sie wieder dort gelandet, wo sie gestern angefangen hatten? Er konnte - und wollte - es nicht glauben.
"Natürlich geht es mich etwas an, auch wenn du das immer zu bezweifeln
scheinst. Kapier es endlich, mich wirst du nicht so schnell los indem du mich
anbrüllst!"
Rika funkelte ihn an. "Ach was. Und wer hat dir erlaubt, sich in das Leben
von anderen Leuten einzumischen??"
"Ich.", erwiderte er ruhig.
"Selbst wenn die anderen Leute es nicht wollen?", sie schnaubte verächtlich. "Warum muss es immer nach deinem Kopf gehen, Ryo Akiyama? Warum glaubst du, dass jeder nach dir verlangt und deine Hilfe will? Zufälligerweise gibt es Personen, die auch ohne deine geschätzte Gegenwart sehr gut klarkommen!"
"So wie gestern abend?"
"Das war ein Ausrutscher. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle.", die violetten Augen funkelten böse.
Ryo biss gemächlich von seinem Brot ab. "Nun ja, mag ja sein. Aber,
meine werte Rika Makino, warum muss immer alles nach deinem Kopf gehen? Warum
beschuldigst du mich immer, obwohl diese Beschuldigungen keinerlei Berechtigung
haben? Warum beschimpfst du mich, obwohl du mich nicht kennst, gar nicht kennen
kannst, und somit keine Ahnung hast ob es stimmt was du da sagst?"
Er schaute sie an, und auch in seinen blauen Augen begann der Zorn zu glimmen.
"Du hast mich einmal getroffen - und hast mich gleich in die Schublade
mit dem Aufkleber 'Sunnyboy' gesteckt. Auf die Idee, dass ich vielleicht anders
sein könnte, bist du gar nicht erst gekommen! Nein, du hast mich gleich
behandelt wie das letzte Stück Dreck, ohne einen triftigen Grund!"
Er beugte sich vor und schaute ihr tief in die Augen. "Auch mein Leben hat seine Schattenseiten, Rika. Auch ich habe Angst, obwohl es vielleicht anders scheint. Ich zeige es nur nicht - und ich kenne da eine andere Person, die genau das gleiche macht!"
Rika drehte den Kopf zur Seite. "Trotzdem hat sich ein Vorurteil bestätigt: du bist arrogant!"
"Was?", Ryo war verblüfft. "Wieso das denn jetzt?"
"Weil du glaubst, dass ich deine Hilfe brauche. Du glaubst, dass ich ohne dich nicht klarkomme und Selbstmord begehe! HA! Ryo der große Held, was? Die Mädels rennen immer zu ihm. Nennst du das etwa BESCHEIDEN?"
"Ich...ich will dir nur helfen weil ich dich mag!", protestierte
Ryo.
