Die Gedanken sind frei

by Kaeera

Kapitel 6: Erkenntnisse

Die Zeit verging, floß wie ein zäher Strom, unaufhaltsam. Nur die Uhr zeigte mit leisem Ticken ihre Stetigkeit an. Ansonsten schien der Raum den Atem anzuhalten, schwieg, drückend, ließ die beiden jungen Menschen in eine seltsame, depressive Stimmung verfallen. Ryo fühlte sich unbehaglich, wollte aus dem Raum hinaus, ein Wunsch, der mit jeder verstreichenden Sekunde größer wurde. Er zwang sich selbst zur Vernunft, sagte sich, dass er Rika nicht alleine lassen konnte, und doch...seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

Dann öffnete sich die Tür, leise, und Rika's Großmutter trat ein. Ein Ausdruck der Verwunderung zeigte sich auf ihrem Gesicht, und dann ein Lächeln..."Hallo Rika.", sagte sie in ihrer gewohnten sanften Stimme, worauf sich ihre Enkelin umdrehte.

"Hallo Ryo.", begrüßte sie auch den Jungen und nickte ihm lächelnd zu. Doch trotz ihres Lächelns konnte er die feinen Sorgenfalten sehen, die sich in ihre Wangen eingegraben hatten. Es musste sie sehr mitnehmen...

Er lächelte schwach als Antwort, ein weiteres Zeichen dafür, dass er sich eigentlich fehl am Platze fühlte.

"Was sagt der Arzt?", wollte Rika wissen, brachte - wie immer - sofort das unangenehme Thema zur Sprache.

"Das Gleiche wie immer.", ihre Großmutter zuckte mit den Schultern. "Ihr Zustand hat sich nicht verbessert und auch nicht verschlechtert. Das einzige, was uns bleibt, ist zu warten."

"Wie lange?"

"Ich habe keine Ahnung."

"Warum wacht sie nicht auf? Will sie nicht zurückkommen?"

"....Das ist vielleicht gar nicht so einfach, das Zurückkommen..."

"Ich hab sie angeschrien. Vielleicht will sie ja deshalb nicht mehr kommen...vielleicht hasst sie mich ja jetzt....", Rika spürte, wie ihre Augen heiß wurden, als sie diesen Satz aussprach. Es stimmte, verdammt, und wie es stimmte! Ihre letzten Worte zu ihrer Mutter waren im Zorn gesprochen, sie hatte sie beleidigt...was, wenn sie deshalb nicht zurückkam? Was, wenn sie einfach wegging, weil sie solch eine Rabentochter hatte, die sie immer nur anschrie und sich benahm wie...wie...sie spürte eine warme Hand auf ihrer Schulter.
Ihre Großmutter war neben sie getreten. "Gib niemals dir die Schuld, Rika. Deine Mutter liebt dich, und sie würde dich nie im Stich lassen. Behalte dies immer im Hinterkopf!"

Rika drehte den Kopf zur Seite, konnte den Worten ihrer Oma keinen rechten Glauben schenken. Wenn ihre Mutter sie wirklich liebte...dann würde sie doch zurückkommen, oder? Sie würde...nicht....so daliegen und....wie tot sein....

Sie sank immer tiefer, in die strudelnde Leere, die drückende Dunkelheit. Es wirbelte um sie herum, es war kalt, leer, einsam, verlassen...sie, in der Mitte, verloren, traurig...eine einzelne Träne rollte ihre Backe hinunter, doch es folgten mehrere und bald konnte sie sie nicht mehr zurückhalten. Sie wollte nicht weinen, denn weinen tat weh, sie wollte nicht die Hitze im Gesicht spüren, wollte keine nassen Wangen haben, doch was sie auch tat, es half nichts...sie biss sich auf die Unterlippe, schloss die Augen und hielt die Hand vor den Mund, doch ihr schmaler Körper wurde unerbittlich von den Schluchzern geschüttelt.

Sie fiel in ein Loch, ein riesiges Loch, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Nur weinen...nur weinen konnte sie noch. Schreien, dazu hatte sie keine Kraft mehr. Nur die Tränen, die rollten immer noch aus ihren Augen, bitter und salzig.

Und die Schwärze....verschluckte sie.


Rika stand verloren in dem Krankenzimmer und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie spürte das plötzliche Bedürfnis loszuheulen, wollte aber nicht vor Ryo und ihrer Oma zusammenbrechen.

"Entschuldigt mich kurz, ja?", sie öffnete die Tür und hastete den Gang hinab in Richtung der Toiletten. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, weil sie sie nicht mehr länger zurückhalten konnte. Im Klo angekommen schloss sie sich in eine der Kabinen ein und begann zu weinen.

Ryo wollte dem weinendem Mädchen nachlaufen und war schon halb aus dem Zimmer, als die energische Stimme Frau Makinos ihn zurückhielt.
"Warte noch!"

Verwirrt drehte er sich um. "Aber....Rika...."

Die Frau schüttelte sanft den Kopf und lächelte wieder dieses wissende Lächeln. "Sie muss auch mal alleine sein, damit sie erkennt, dass sie es nicht alleine schaffen kann. Warte ein paar Minuten, und folge ihr dann."

Ryo schaute zur Tür, blickte dann in die tiefschürfenden Augen von Rika's Großmutter, und zuckte mit den Schultern. "Wenn sie meinen...", sagte er, nicht so ganz überzeugt von ihren Ansichten.

"Vertrau mir. Ich kenne Rika schon seit 15 Jahren. Da lernt man sowas."

~~~~~~~~~~~~~~~~

Sie weinte. Wieder einmal. Oder immer noch? Es schien ihr, als ob zwischen ihrem Zusammenbruch gestern und heute überhaupt keine Zeit vergangen sei. Als ob sie die ganze Zeit geweint hätte...dabei war sie doch heute morgen so normal, fast glücklich gewesen! Und nun....saß sie im Klo und heulte Rotz und Wasser.
Doch was sie auch tat, sie konnte sich nicht beruhigen.

Und gerade dann

wenn du glaubst, dass alles gut wirst

wenn du schon den Lichtstrahl sehen kannst

dann kommt die Schwärze

dann trifft dich der Schwarze Pfeil in den Rücken

verletzt dich

lässt dich aufschreien

du weinst

denn das Licht verblasst

verzweifelst suchst du nach einem Ausweg

doch du kannst deine Augen nicht mehr öffnen

Und der Schmerz wird unerträglich....


Es war ihr egal, was die anderen Leute von ihr dachten. Es war ihr egal, dass andere Frauen in das Klo kamen und beunruhigt an der Türe rüttelten. Sie wollte...sie wollte einfach verschwinden, wollte, dass dies alles ein Ende hatte. Sie ertrug das alles nicht mehr, diesen Schmerz, diese Tränen...
Rika schniefte und wischte sich das Gesicht ab, obwohl es keinen Sinn machte - immer mehr Tränen rollten aus ihren geröteten Augen. In ihrem Kopf tauchten immer wieder Bilder von ihrer Mutter auf, wie sie lachte, schimpfte oder einfach nur dastand....

Sollte das alles vorbei sein? Aber warum? Sie liebte ihre Mutter doch...obwohl sie es nie zeigte, und obwohl sie es selbst nie geglaubt hatte. Es war ungerecht, sie durfte einfach nicht sterben! Mama durfte sie nicht im Stich lassen, nachdem Papa schon gegangen war...Ach, Papa....wenn er jetzt hier wäre...

Vergessen waren alle guten Vorsätze, vergessen war der Wille, Gefühlskälte zu bewahren. In diesem Moment war Rika Makino nicht die unnahbare Digimonqueen, die eiskalte Tamerin, nein, sie war bloß ein kleines Mädchen....verängstigt, einsam, verloren.

Ryo trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. War es nicht schon Zeit? Er schaute verzweifelt zu Rika's Großmutter, doch diese schüttelte nur verneinend den Kopf. Verdammt! Am liebsten hätte er an den Nägeln gekaut...allein der Gedanke, dass sie wieder weinte, so wie gestern, und er nicht da war um sie zu trösten, trieb ihn in den Wahnsinn. Er wollte ihr helfen, wollte sie in den Armen halten, wollte, dass diese schönen Augen wieder lachen konnten...

Seufzend stellte er fest, dass es immer noch nicht an der Zeit war. Konnte es denn nicht schneller gehen? Musste er denn solang warten?


Alleine in der Dunkelheit

fallen deine Tränen

in ein endloses Loch

und keiner fängt dich auf....


Warum musste sie so fühlen? Warum hatte der Mensch überhaupt Gefühle, wenn es ihm doch nur Leid brachte? Es war doch reine Selbstzerstörung, es war....einfach sinnlos. Bis jetzt hatte sie nur die negative Seite der Gefühlswelt erlebt, wie konnte sie da an eine positive glauben? Existierte überhaupt so etwas wie eine positive Seite?

Gab es ein Phänomen names Liebe?

Rika liebte ihre Mutter. Aber auch diese Liebe hatte ihr nur Schmerzen gebracht, vor allem im Moment. Also - warum lieben? Was war mit 'auf Wolke sieben schweben'? Alles Lüge? Sie hatte jedenfalls noch nichts davon mitbekommen. Alles wird gut, oder was? Pah, von wegen. Illusionen, Lügen und Betrug das ganze, nichts weiter. Man belog sich selbst, um vor der Wirklichkeit zu flüchten...ein realistischer und rationaler Mensch kam ohne den ganzen Gefühlskram besser zurecht.

Und doch....irgendwo in Rika gab es einen kleinen Teil, welcher sich vorstellte, wie es wohl wäre, jemanden zu lieben und von diesem jemand geliebt zu werden. Jemand, auf den man sich verlassen konnte, der einen umarmte, wenn man weinte...

So wie Ryo...

Sie vertrieb diesen Gedanken schnell wieder aus ihrem Kopf. Nein. Wenn man sich auf jemanden verließ, wurde man von dieser Person abhängig. Verletzlich. So wie bei ihrem Vater. Und falls diese Person weg ging...dann gab es Wunden, die niemals wieder heilten. Man konnte sich auf niemanden verlassen. Nur auf sich selbst.

* * *

"Du kannst nun gehen."

Er schreckte auf, als er diese Worte hörte und warf einen unsicheren Blick zu der älteren Dame. Dann flog ein Lächeln über sein Gesicht und er lief aus dem Raum, in die Richtung, wohin Rika abgehauen war. Länger hätte er es wirklich nicht ausgehalten!

Besorgt durchsuchte Ryo die Gänge und landete schließlich vor den Toiletten. Nun war das Mädchenklo ein Ort, wo er wirklich nichts zu suchen hatte. Zögernd stand er davor - reingehen oder nicht reingehen? War sie überhaupt da drin?

Die Frage wurde ihm abgenommen, als eine korpulente Frau die Toilette verließ und ihm einen missbilligenden Blick zuwarf. "Weint die Kleene da drin etwa wegen dir?"

Ryo horchte auf. "Dort weint ein Mädchen? Ich suche nach ihr!"

Die Frau zuckte mit den Schultern. "Also, in einer Kabine heult jemand zum Herzerbarmen, vielleicht ist das ja deine Freundin."

"Danke!", er strahlte sie an und betrat den kleinen Raum. Tatsächlich, man konnte das Schluchzen hören, erstickt, verzweifelt, traurig. Er schaute vorsichtig in die leerstehenden Kabinen, bis er schließlich zu der letzten, verschlossenen kam. "Rika?", fragte er leise. "Bist du da drin?"

Das Schluchzen erstarb und erschrockene Stille breitete sich aus. Dann...."Geh weg!"

Das war Rika. Kein Zweifel. "Kommt dir diese Szene nicht irgendwie bekannt vor?", sagte er leise. "Gestern war es doch genau dasselbe, und du weißt, dass ich nicht so leicht aufgebe. Also hör auf dich zu sträuben und komm raus, es hat doch keinen Sinn!"

Stille war die einzige Antwort und er lehnte verzweifelt den Kopf gegen die Wand. Warum nur? Warum musste er sich ausgerechnet die schwierigste Person aussuchen? Warum musste er sich ausgerechnet in sie verlieben?

Moment mal...was hatte er da gedacht? Er war doch nicht...

Sieh der Realität ins Auge, Ryo Akiyama. Du bist bis über beide Ohren verknallt.

* * *

Dieser...dieser Idiot! Warum war er gekommen? Wieder einmal? Warum konnte er sie, verdammt noch mal, nicht einfach in Ruhe lassen? Musste er sich immer einmischen? Rika's Tränen mischten sich mit Zorn. Sie wollte einfach nur, dass es aufhörte, doch Ryo brachte jedesmal schmerzhafte Erinnerungen mit zurück...

Und doch war sie froh über seine Nähe, fühlte sich sicherer, obwohl sie doch durch eine dicke Holztür voneinander getrennt waren. Sie starrte die schmuddelige Seite der Tür an. Verschiedene Leute hatten Namen und Schriftzüge in das Material geritzt - oder einen Edding benutzt. "Ich war hier! Daniela!" konnte man da lesen, oder seltsame Sprüche wie: "Paulus schrieb an die Korinther: Haar am Arsch hält warm im Winter."

Sie schüttelte den Kopf. Was trieb den Menschen nur dazu, an jedem Ort seine Signatur zu hinterlassen?

"Geh weg.", wiederholte sie mit erstickter Stimme, während sich ihr Blick auf die Inschriften fixierte. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, flossen zusammen und formten komplexe Muster. Alles war egal. Sie wollte nur weg, weit weg, und all dies hinter sich lassen, all ihre Probleme, all ihre Sorgen....

"Rika, bitte mach die Tür auf.", Ryo's Stimme klang beinahe flehend. Sie fühlte eine plötzliche Welle der Macht - nun war sie die Stärkere, und er war ausgesperrt und wusste nicht was tun - doch sie verebbte schnell, als ihr einfiel, dass das auch nur eine Illusion war.

Mein ganzes Leben besteht aus Illusionen....ich hab mir auch nur vorgegaukelt, dass ich meine Gefühle unter Kontrolle hätte, aber ich schätze, so einfach geht das nicht...

Denn Gedanken und Gefühle sind frei und folgen keinen festen Bahnen...sie lassen sich nicht lenken, sondern scheinen einen eigenen Willen zu haben, obwohl sie doch unsere Gedanken und Gefühle sind!

"Was soll ich nur tun?", Rika murmelte diese Frage immer und immer wieder vor sich hin, wiegte sich sanft vor und zurück, während die Tränen ihre Backen herunterliefen. "Was soll ich nur tun?" Ihr Kopf tat weh, und ihr war heiß und kalt zugleich. Ja - was sollte sie nur tun?

* * *

Als er diese gemurmelten Worte hörte und die Verzweiflung in ihrer Stimme spürte, zerbrach es ihm regelrecht das Herz. Er verfluchte diese Türe, verfluchte das Schicksal und verfluchte schließlich sich selbst, weil er sich in dieses störrische Mädchen verliebt hatte - ausgerechnet in die Person, die ihn an meisten hasste!

"Komm raus, Rika, oder ich komm rein.", meinte er verzweifelt. "Das hat doch keinen Sinn, es bringt keinem was wenn du dich einschließt. Ich verstehe ja, dass du traurig bist, und ich weiß, dass ich es eigentlich nicht verstehen kann...", Ryo brach ab, weil er bemerkte, dass sein Gestammel eigentlich keinen Sinn ergab.

Wieder einmal kam er sich so furchtbar hilflos vor, und er wusste nicht was tun. Seltsam....dieses Gefühl verspürte er nur in der Nähe dieses Mädchen. Ansonsten wusste er immer einen Ausweg, oder es lastete ganz einfach die Verantwortung auf ihm, so dass er gar nicht hilflos sein durfte! Nur hier...nur hier war alles anders. Eigentlich war mit Rika alles anders....sie behandelte ihn wie Dreck, aber er ließ es sich gefallen....normalerweise hätte er solch eine Person total ignoriert!

Wo die Liebe hinfällt....

Plötzlich öffnete sich die Tür. Ryo blinzelte. Damit hatte er nun gar nicht gerechnet...Rika stand vor ihm und warf ihm einen undurchdringlichen Blick zu. Ihr langes Haar war zerzaust und ihre Wangen glitzerten von Tränen.

"Du hast recht, Ryo. Du verstehst es nicht.", sie ergriff ihn hart am Arm und zog ihn hinter sich her, als sie aus der Toilette rausmarschierte. "Komm mit." war ihre einzige Antwort auf Ryo's Frage, wohin sie denn wolle.

Er schüttelte nur den Kopf, total überrascht und ließ sich von dem Mädchen durch die Gänge zerren. Was hatte sie denn nur wieder vor?

Krankenschwestern und Ärzte mussten ihnen ausweichen, als Rika sich so forsch ihren Weg durch die Gänge des Krankenhaus suchte. Ryo kam nicht einmal dazu, es zu genießen, sie an der Hand zu halten. Sie zerrte ihn durch die Haupteingangstüre und steuerte zielstrebig den krankenhauseigenen Park an. Dann, in einer entlegenen Ecke, wo keine Menschenseele zu sehen war, hielt sie endlich an.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sagte in einem gefährlichen Ton: "Und jetzt, Ryo Akiyama, können wir ungestört miteinander reden."
Ryo wich nach hinten zurück. Dieser Ton verhieß nichts Gutes...

Aber weder explodierte das Mädchen, noch versuchte sie ihn zu erwürgen. Sie stand nur da und schaute ihn aus diesen tiefgründigen Augen an. "Ich möchte eins wissen.", begann sie, und dieses Mal war ihre Stimme fast sanft. "Warum?"

Ryo verstand nicht. "Warum was?"

Sie breitete die Arme aus. "Warum tust du das? Warum bin ich so? Warum? Verdammt noch Mal, in den letzten beiden Tagen hat sich meine Welt aufgelöst, und du scheinst ganz gehörig darin verwickelt zu sein....", sie zögerte und man merkte ihr an, welche Überwindung es sie kostete, weiterzusprechen.

"Du kommst her und folgst mir. Du sagst seltsame Dinge, behauptest, dass du mich magst. Ich hasse dich aus tiefster Seele, ertappe mich aber dabei, wie ich mir....", sie errötete und führte den Satz nicht weiter fort.
"Ich weiß es nicht, ich hab doch echt keine Ahnung...ich will einfach, dass du mich in Ruhe lässt, denn jedes Mal, wenn du versuchst in mein Leben einzugreifen, geht alles drunter und drüber...ich weiß nicht mal mehr was ich denken soll!"

Ryo ließ stumm ihren Vortrag über sich ergehen. "Ich kann dich aber nicht in Ruhe lassen.", sagte er dann ruhig. "Es geht einfach nicht. Und ehrlich gesagt, ich glaube auch nicht, dass du es wirklich willst!

Rika schaute zu Boden, und er konnte erkennen, wie eine einzelne Träne heruntertropfte. "Warum musste es nur soweit kommen?", flüsterte sie ratlos.

Ryo betrachtete das verzweifelte Mädchen und legte vorsichtig seine Hände auf ihre Schultern. Sie zuckte zusammen, doch machte keine Anstalten, sich dagegen zu wehren. "Rika...", sagte er mit sanfter Stimme. "Warum das mit deiner Mutter passiert ist, kann ich nicht sagen. Aber ich weiß, warum deine Gefühle so drunter und drüber gehen und deine Welt zu zerfließen scheint."

Er zögerte kurz und suchte nach den richtigen Worten. "Du hast dich - bis jetzt - immer versteckt. Du hast nie deine Gefühle gezeigt, hast dir nicht erlaubt, sie zu zeigen. Du hast eine unsichtbare Mauer um dein Herz aufgebaut, damit du nicht verletzt wirst. Aber Rika...dadurch verletzt du dich selbst mehr, als wenn du ganz normal und offen deine Gefühle zeigen würdest, glaub mir!"

"Ach was!", Rika's Antwort kam schnell und vollkommen unerwartet. "Wenn du Gefühle zeigst...wenn du beginnst, jemanden zu mögen...dann gibst du dieser Person die Macht, dich zu verletzen. Und du kannst dich nicht dagegen wehren! Du musst es einfach hinnehmen, wie vom Schicksal gegeben, stehst du bedröppelt da, während dein Herz zerbricht. Was soll daran nicht verletzend sein?"

"Aber das gehört dazu, Rika. Du kannst nicht erwarten, dass dein ganzes Leben lang nur eitel Sonnenschein herrscht. Zum Leben gehören auch die Schattenseiten, und zu jedem Lachen eine Träne. Du musst beide Seiten kennen, musst die Höhen und die Tiefen erleben, um das Leben schätzen zu lernen. Wenn du nichts empfindest, dann kannst du dich gleich die Brücke hinunterstürzen - weil du nichts vom Leben hast. Weil du gar nicht richtig lebst!", Ryo hatte sich in Rage geredet und war immer lauter geworden.

Rika schwieg für einen Augenblick. "Für dich mag das leicht sein, Akiyama, aber ich...kann das einfach nicht. Ich hab nicht so ein schönes Leben wie du..."

"Halt!", unterbrach der Junge sie. "Wir sind wieder beim alten Thema gelandet: Ich als derjenige, der das perfekte Leben hat. Das ist sowas von falsch, Rika, echt wahr! Auch mir ging es beschissen, auch ich hab geweint, auch ich habe Erinnerungen, die ich lieber verdrängen würde. Deshalb werf endlich mal dieses Sunnyboy image aus deinem Kopf, ja? Es ist nämlich schlichtweg falsch!"

Sie starrte ihn an und wollte ihm nicht glauben. Ryo und Probleme? Ryo, der weint? Nein, dieses Bild konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Dieser Typ wusste doch gar nicht, was Kummer war! Wie sonst konnte er immer nur mit diesem fröhlichen Grinsen rumlaufen?
Rika drehte den Kopf zur Seite. Sie wollte nicht länger in diese tiefblauen Augen schauen, denn irgendetwas tief drinnen zog sie an.

Dann kamen ihr wieder seine Worte in den Sinn, und sie dachte näher darüber nach. Vielleicht....vielleicht hatte sie ja wirklich das Falsche angenommen. Es konnte ja sein, dass er ein so starker Charakter war, dass er seine Probleme bewältigen konnte und trotzdem seine Gefühle beherrschen konnte....beherrschen, ja, das war das richtige Wort.

"Dann hast du eben das geschafft, was ich nicht fertiggebracht hab.", murmelte sie leise. "Du hast deine Gefühle unter Kontrolle. Ganz und Gar. Im Gegensatz zur mir..."

Ryo schaute sie entsetzt an. "Wie bitte? Rika, was erzählst du da für einen Unsinn? Man kann seine Gefühle nicht kontrollieren, ebensowenig wie Gedanken. Denn die Gedanken sind frei..."

Sie wollte etwas sagen, doch er legte ihr nur den Zeigefinger über den Mund. Seltsamerweise wehrte sie sich nicht gegen die Berührung..."Wir werden es niemals schaffen, unsere Gefühle zu bestimmen. Du kannst nicht deinem Herz sagen, in wen es sich verlieben soll - das geht einfach nicht. Glaub mir - ich habe selber schmerzhafte Erfahrungen damit gemacht.", er verzog das Gesicht, als er daran denken musste, dass er sich natürlich in die einzige Person verliebt hatte, die ihn hasste. "Und wenn du deshalb versuchst, deine Gefühle zu unterdrücken, stauen die sich auf, bis es irgendwann zu einer Explosion kommt...und ich glaube, du warst kurz davor."

Rika schaute wieder in seine Augen und fand nichts außer Ehrlichkeit und etwas anderes, was sie nicht recht deuten konnte. Sie wollte ihm fast glauben....aber alles aufgeben? Ihren Gefühlen freien Lauf lassen? Wie sollte sie das tun??

"Wenn man einmal einen bestimmten Punkt erreicht hat....", sagte sie langsam mit abwesendem Blick, "Dann gibt es kein Zurück mehr."
Sie schaute ihn an, aus diesen so verloren wirkenden Augen, und zum ersten Mal sah Ryo einen fast flehenden Ausdruck in ihnen. Hilf mir!

Was ist Liebe? Was ist Freundschaft? Ich habe nie richtig den Sinn verstanden. Ich habe nicht verstanden, weil ich nicht verstehen wollte. Vertrauen...es heißt vertrauen, oder? Jemandem soweit vertrauen, dass man nicht verletzt wird. Jemand so sehr mögen, dass man demjenigen seine tiefsten Gefühle mitteilen. Mit dieser Person lachen und weinen.

Niemand hat jemals mit mir geweint. Niemand. Aber in Ryo's Augen sehe ich Tränen....

Ich verstehe nicht, was mit mir passiert. Ich verstehe gar nichts mehr. Ich werde vor Sorge fast noch verrückt, ich vermisse meine Mutter, und auf einmal vermisse ich Dinge, die ich nie gehabt hatte...eine Umarmung, ein ermunterndes Schulterklopfen, ein ehrliches Lächeln.

Ich hasse dich, Ryo Akiyama. Ich will dich nicht mögen. Ich will es um nichts in der Welt. Aber mein Herz...auf einmal spüre ich mein Herz. Auf einmal weiß ich nicht mehr weiter, bin verwirrt, stehe im Regen...warte, warte, warte, bis jemand mit dem Schirm kommt, und dieser jemand bist du....


It's the light, the shining light in the darkness
welches den schwarzen Schatten vertreibt.
You can hold it in your hands, it illuminates your heart
Und du spürst diese Wärme, wie sie dich umhüllt
The black arrow starts to disappear
Aber ein Rest wird immer bleiben
A deep cut in your heart, filled with darkness
Nur dieses Licht, dieses warme, strahlende Licht
has the power to heal this cut
Vielleicht auch für immer

"Danke.", wisperte sie leise und trat einen Schritt zurück. Ryo ließ enttäuscht die Hände sinken. Er hatte beinahe geglaubt, dass....aber das war Unsinn. Nein, er sollte gar nicht an sowas denken!

"Ich hoffe, du nimmst dir meinen Rat zu Herzen.", meinte er etwas unbeholfen. Plötzlich hatte er keine Ahnung mehr, was er sagen oder tun sollte.

"Ich werde es versuchen.", sie lächelte leicht, eine verzerrte Grimasse, aber immerhin ein Lächeln. "Aber ich kann das...nicht so schnell. Ich bin einfach etwas überfordert...", sie umarmte ihren Oberkörper, als ob sie sich selbst Trost geben wollte. "Danke....für alles.", mit diesen Worten drehte sie sich um und rannte davon, durch den weiten Park und ließ einen enttäuschten Ryo zurück. Er ließ betrübt den Kopf sinken. Verdammt!

* * *


Sie rannte, so schnell sie konnte. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken nur so herum, sie wusste keinen Ausweg. Mehr denn je wünschte sie, dass Renamon bei ihr wäre, ihr treuer Freund und Partner. Das gelbe Fuchsdigimon hätte ihr bestimm Klarheit verschafft, denn seltsamerweise wusste es immer die richtigen Worte, um zu Rika durchzudringen.

Plötzlich stolperte sie über ein Loch und fiel der Länge nach ins Gras. Anstatt aufzustehen, blieb sie einfach liegen und atmete den frischen Duft des Bodens ein. Sie schloss die Augen. Am liebsten...am liebsten die Augen schließen und sie nie mehr öffnen, damit man nicht mehr mit diesem Durcheinander namens Leben konfrontiert wird. Aber...das war kein Ausweg. Sie musste kämpfen...

Kämpfen?

Ihr Augen öffneten sich ruckartig und Rika richtete sich auf ihre Ellenbogen auf. Na klar! Wenn sie eins konnte, dann das! Sie würde kämpfen! Sie würde um alles kämpfen, um eine Ordnung in ihrem Gefühlschaos, um die Heilung ihrer Mutter und einen Funken Klarheit.

* * *

"Mist!", fluchte Ryo und kickte einen Stein weg. "Mist, Mist, Mist!" Er war nahe dran, sich die Haare zu raufen. Es war doch wirklich...dieses Mädchen machte ihn fertig! Da glaubte man, dass sie es verstanden hatte und dann...rannte sie weg! Einfach so!
Er schüttelte verzweifelt den Kopf und ließ sich ins Gras fallen. Die Frau als mysteriöses Geschöpf? Auf Rika traf das definitiv zu - er konnte sie weder einschätzen, noch wusste er, wie er sie behandeln sollte.

Er war in sie verliebt, okay. Er wollte, dass sie ihn auch liebte. Ein Ding der Unmöglichkeit! Allein der Gedanke, dass er mit Rika flirtete, so wie er es mit einigen anderen Mädchen getan hatten, war absurd. Sie würde 1.) niemals darauf hereinfallen, ihm 2.) eine Ohrfeige verpassen und 3.) nie mehr ein Wort mit ihm reden.

Ryo war ratlos. Er dachte an die Zeit, die er in der Digiwelt verbracht hatte. Wie einfach war dort alles gewesen! Sicher, man kämpfte um das Überleben, aber es gab immer nur ein Ziel, und man tat alles um dieses zu erreichen. Und nun...hatte er sich in dieses störrische Mädchen verliebt, und verstand gar nichts mehr.

Sie war ihm schon damals aufgefallen, der widerspenstige Rotschopf. Sie hatte sich kindisch benommen, ihn unfreundlich behandelt und doch...er hatte ihr niemals böse sein können. Seltsam...

Ob es allen Leuten so geht? Dann frag ich mich wirklich, warum Liebe so toll sein soll...bis jetzt hatte ich auch nur Kummer damit. Das nennt man dann wohl 'unglücklich verliebt!'

Ryo wusste nicht recht, ob er wieder zum Krankenhaus zurück gehen sollte. Einerseits war Rika vor ihm weggerannt, und andererseits...tja, andererseits wollte er ihr helfen. Das alte Spiel! Endete es denn nie? Es sollte aufhören, schnell, sofort, in diesem Moment. Er hasste es!

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Um sie herum war...nichts. Keine Gegenstände, kein Licht, keine Farben, nicht einmal Dunkelheit. Nur sie selbst, körperlos, schwebte durch den Raum, den nichtvorhandenen Raum. Was war passiert? Rumiko wusste es nicht. Vage Erinnerungen huschten durch ihren Kopf; Schreie, ein Auto und dieser plötzliche Schmerz, aber sie konnte keine Verbindung sehen, konnte sich ihren Zustand nicht erklären.

Angestrengt dachte sie nach, versuchte die Bilder miteinander zu verknüpfen, versuchte in den Sumpf der Verwirrung einzutauchen, der sich in ihrem Kopf gebildet hatte.

Ihr Auto, sie am Steuer, auf der Straße, auf dem Weg...

Das andere Auto, von rechts, Erschrecken, weitgeöffnete Augen...

Die eine Sekunde, die ewig zu sein schien, als ihr tausende von sinnlosen Gedanken durch den Kopf gingen: "Und ich habe noch keine Milch eingekauft..." - "Jetzt komm ich zu spät, mein Manager wird mich umbringen"

Und der Lärm. Ein ekelerregendes Geräusch, Metall krachte auf Metall, rieb aneinander, knirschte, quietschte, sie konnte regelrecht hören wie sich die Struktur ihres Autos verbog. Die plötzliche Wucht, mit der sie nach vorne geworfen wurde. Ihr stummer Aufschrei und dieser Schmerz...und dann? Nichts...

Wie lange? Wie lange war es her? Wie lange trudelte sie schon in diesem zeitlosen Nichts herum? Sie wusste es nicht. Minuten, Stunden, Tage, alles war bedeutungslos in diesem Zustand. Und doch...sie wollte nicht hier sein. Hier war nicht ihr Platz. Es gab etwas, was sie zurück zog...Bilder in ihrem Kopf, Schemen, die sie nicht recht greifen konnte. Wer?

Der verschwommene Schatten eines jungen Mädchens mit struppigen Haaren und einem wilden Blick. Dieser Blick, so voller Verachtung für das, was ihre Mutter war und wie sie sie behandelte. Und ihre Körperhaltung, die mit jeder Bewegung deutlich zum Ausdruck brachte: "Ich werde einmal nicht so wie du sein, also lass mich in Ruhe!"

Rumiko hätte gerne geweint, doch sie war nur nichts, ohne Körper. Das war ihre Tochter, Rika, ihre jungenhafte, störrische Tochter, jähzornig, unberechenbar, unhöflich, und doch ein Lichtstrahl in ihrem Leben. Wo war sie? Sie wollte zurück....sie wollte nach Hause!

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Rika legte sich auf den Rücken und starrte in den Himmel. Blau. Ein strahlendes Tiefblau, welches sie seltsamerweise an Ryo denken ließ...seine Augen waren genauso, blau, unergründlich und strahlend schön. Sie bemerkte, dass sie ins Schwärmen geriet und schalt sich dafür. Aber diese Augen...wenn er lachte, dann funkelten sie ein bisschen, wenn er besorgt war, dann schienen sie sich zu bewölken, wie der Himmel bei Regen; und wenn Ryo wütend wurde, dann waren sie wie zwei Hurrikane....

Stop, stop, stop!!!! Hör auf, daran zu denken. Du wirst doch nicht etwa so blöd sein und dich verlieben, Rika? Deine Chance sind praktisch bei null, und du hast dir geschworen, dich niemals zu verlieben, also lass diese dumme Schwärmerei!

Sie seufzte und starrte lieber in die Bäume. Bei diesem Grün konnte sie wenigstens ihren Gedanken freien Lauf lassen. Auf einem der Zweige saß ein Amsel und schaute sie an. Für einen kurzen Moment überlegte sie, ob es vielleicht dieselbe Amsel von ihrem Garten sein könnte. Aber das Mädchen verwarf diesen Gedanken sofort; es gab viele Amseln, und diese hier war bestimmt eine andere. Und doch....verträumt beobachtete sie den Vogel, der sein Köpfchen drehte und aufmerksam die Umgebung beäugte.

Die Amsel hatte gar kein so schwarzes Gefieder, wie man sich immer erzählte, bemerkte Rika milde überrascht. Im Gegenteil, braune Flecken mischten sich in das Schwarz. Das einzige wirklich tiefschwarze waren die Augen. Sie begann zu singen, leise Tonfolgen von Trillern und Tönen, die kein Instrument nachahmen konnte.

Rika hatte noch nie zuvor Vögel beobachtet, aber nun stellte sie fest, wie beruhigend das doch war...seltsam einschläfernd, und sehr friedlich. Fast erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht.

* * *


Ryo entschied sich, dass er vielleicht doch wieder zum Krankenhaus zurücklaufen sollte. Ein leises Seufzen entschlüpfte seinen Lippen, als er daran dachte, wie oft er in den letzten Tagen schon hiergewesen war; naja, eigentlich war es ja gar nicht so oft gewesen, aber er hatte seit Jahren kein Krankenhaus mehr von innen gesehen und verabscheute es dementsprechend.

Diese Geruch von Krankheit und all diese hoffnungslosen und deprimierten Leute...am schlimmsten war ja die Kinderstation, fand er. Bunt gestrichene Wände und Kuscheltiere, alles auf pseudo-fröhlich, aber in den Zimmer kleine Kinder, die an Beatmungsgeräten hingen, die im Koma lagen oder an sonstigen schlimmen Verletzungen und Krankheiten litten.

Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und wanderte gedankenverloren durch den Park. Das Wetter war beinahe noch schöner geworden, die Sonne schien warm vom Himmel, die Blätter der Bäume schimmerten grün und wogten leise im Wind. Und mitten drin in diesem Paradies der graue Koloss namens Krankenhaus. Bäh.


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Angst. Sie verspürte Angst. War sie etwa...tot? War das vielleicht der Zustand nach dem Leben, eine reine Existenz als Seele, nicht an das sterbliche Fleisch gebunden?

Panik ergriff Rumiko. Sie wollte nicht tot sein! Sie liebte ihr Leben...liebte ihren Beruf als Model, liebte ihr Haus mit dem schönen Garten, liebte ihre Tochter, obwohl sie sich immer nur stritten. Nicht jetzt! Nicht heute!

Sterben, ja, irgendwann in der Zukunft, aber hier, jetzt, in diesem Moment? Nein! Sie wollte weinen, wollte schreien, wollte um sich schlagen, aber sie war nichts, bestand nur aus Gedanken und Gefühlen. Übermächtige Verzweiflung befiel sie. Wie konnte sie sich nur wehren, wenn sie nicht einmal wusste, was mit ihr los war?

"Hallo Mama.", echote eine geheimnisvolle Stimme durch das Nichts. War das nicht....? "Rika?", wollte Rumiko flüstern, doch keine Worte kamen aus ihrem Mund. War das ihre Kleine? Ihr Mädchen? Das Herz tat der Frau weh, als sie den unterdrückten Schmerz in der Stimme ihrer Tochter hörte.

Meine arme Rika...

Ich möchte bei dir sein....

Ich weiß, dass wir uns oft streiten. Und ich weiß, dass ich mich ungerecht benehme, genauso wie du dich ungerecht benimmst. Ich kann meine Gefühle nie so ausdrücken, wie ich es will...und es tut mir leid, Rika!
Aber ich hab dich lieb...du bist meine Tochter und ich liebe dich mehr als alles andere....bitte, lass mich zurückkommen!

.......

Und plötzlich...war da etwas anderes. Plötzlich fühlte sie etwas, deutlich, und ihr kam in den Sinn, dass sie bis eben noch überhaupt keine Gefühle gehabt hatte. Rumiko versuchte angestrengt, Ordnung in das Chaos zu bringen. Was war das? Ein...Geräusch...

Ein stetiges Geräusch, immer wiederkehrend, ein seltsames Biepen...

Biep...Biep...biep...

Noch konnte sie es nicht identifizieren, aber es gehörte definitiv zur Welt der Lebenden, also dem Ort, wo sie hinwollte. Sie konzentrierte sich darauf, wollte einen Ausweg finden, wollte weg...wie ein seidener Faden, der sie leitete, zeigte ihr dieses Geräusch einen Weg durch die Dunkelheit.

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Rika stand auf und wischte sich den Staub von der Hose. Sie wollte ins Krankenhaus zurück und endlich ihrer Mutter beistehen...es war ihre Pflicht, verdammt noch mal, als ihre Tochter! Sie konnte nicht immer das schwache Mädchen spielen, immer war sie eine Queen, und nicht gerade eine zimperliche. Entschlossen marschierte sie wieder zurück zum Krankenhaus, mit gemischten Gefühlen...

Fest hatte sie den Blick geradeaus gerichtet, bis sie in jemanden reinlief. Beide Personen stürzten zu Boden. "Aua!", machte Rika und rieb sich die Stirn. Dann: "Entschuldigung!" Ohne die andere Person auch nur anzuschauen, stand sie wieder auf und eilte dem Krankenhaus zu.

Ryo saß perplex auf dem Boden und schaute ihrem kleiner werdenden Rücken hinterher. "Und jetzt erkennt sie mich nicht einmal mehr...", murmelte er verdrossen, und fügte dann hinzu: "Sieht aber nicht so schlecht aus, von hinten!", und meinte damit Rika's Rückseite. Ein verschmitztes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Er wusste sehr wohl, dass sie ihn umgebracht hätte, wenn sie von dem Kompliment wüsste.

Rika rannte indessen den Gang entlang und stürmte (wieder einmal) in das Zimmer ihrer Mutter. Einige Krankenschwestern schauten ihr böse hinterher. "Hallo Oma!", sagte sie leicht keuchend, bemerkte dann aber, dass das Zimmer leer war. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es schon Mittagszeit war, wahrscheinlich war ihre Großmutter beim Essen in der Kantine. Das Mädchen setzte sich ans Bett und ergriff die Hand ihrer Mutter.

"Mama...", sagte sie dann und holte tief Luft. "Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, aber ich werde einfach mal so tun, denn diese Dinge müssen gesagt werden, und ich weiß nicht, ob ich nochmal den Mut dazu finde." Sie drückte kurz die schlaffe Hand und ließ ihren Blick durch das Zimmer gleiten.

"Ich...möchte mich entschuldigen. Und eigentlich ist es ganz gut, dass du mir nicht antworten kannst, denn mir fällt das wirklich unheimlich schwer.", sie zögerte und suchte nach den richtigen Worten. "Ich weiß, dass ich dich nicht immer nett behandelt habe, und du hast mich wirklich oft in den Wahnsinn getrieben. Trotzdem...hab ich dich gerne, sehr gerne sogar. Du bist meine Mutter, und auch wenn wir uns total unterscheiden, du hast immer einen Platz in meinem Herzen gehabt, das hab ich erst jetzt bemerkt. Und deshalb bitte ich dich...", eine einzelne Träne rollte ihre Wange hinunter und sie fuhr mit bebender Stimme fort. "Deshalb bitte ich dich, zurückzukehren. Ich weiß nicht, was ich ohne dich anfangen würde. Ich brauche dich, Mama. Bitte...du darfst nicht sterben!", Rika schniefte leise und wischte sich mit der Hand über die Augen.


Jetzt konnte sie etwas anderes hören...eine Stimme, seltsam verloren, tränenerstickt. Sie konnte die Worte nicht erkenne, konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, aber ein mentales Bild formte sich in ihrem Gedächtnis; das Bild eines jungen Mädchen mit roten Haaren und violetten Augen. Rika? Ihre Tochter Rika? Sie sprach mit ihr und...weinte?
Rumiko konzentrierte sich noch mehr, wollte die Worte verstehen, wollte wissen, warum ihre Tochter weinte, wollte zurückkehren und sie trösten..
.


Sie öffnete die Augen und bemerkte, dass sie sich in einem Wald befand. Unsicher schaute Rumiko sich um und realisierte verstört, dass die Bäume keine Farbe hatten. Sie waren grau. Auch der Himmel erstreckte sich über ihr in der gleichen, trostlosen Farbe, ebenso wie das Gras, die Blumen, die Erde....alles.

Sie schaute auf ihre Hände hinab und stellte fest, dass diese ebenso gräulich gefärbt waren. Eine Welle der Angst schwappte über sie. Sie erinnerte sich noch sehr gut an das Nichts, in dem sie sich bis eben noch befunden hatte...und an die Geräusche....

Vorsichtig machte sie einen Schritt und hielt den Atem an. Kein Laut durchdrang die der drückenden Stille, kein Ast knackte, kein Vogel sang. Rumiko's langes Haar wogte in einem unsichtbaren, lautlosen Wind. Sie drehte sich um sich selbst, erfasste die geisterhafte Szenerie in ihrem vollen Ausmaß.

"Wo bin ich?", flüsterte sie verloren. Ein Weg schlängelte sich durch den Wald, schmal, ausgetreten, und an beiden Enden ein unheimlicher wogender Nebel, weiß und dick, fast wie eine feste Substanz.

"Wohin soll ich gehen?", fragte sie den stillen Wald, doch keine Antwort ertönte. Rumiko hatte Angst.

Sie sah an sich hinunter, betrachtete ihr graues Kleid, ihre grauen Füße, ihren ganzen Körper, der so seltsam leblos und...tot aussah. Der Wind trieb ihr Tränen in die Augen; deshalb drehte sie sich um und ging einige Schritte in Richtung des Nebels, der sich hinter ihr befunden hatte. Die wogenden Schwaden bildeten Forme, Fratzen, Gesichter, und gelegentlich zuckte ein helles Aufleuchten durch die weiße Massen, wie ein Blitz, eine plötzliche Entladung. Zögernd streckte sie ihre Hand aus - und zuckte sofort zurück, als sie heißen Schmerz verspürte. Nein, durch diesen Nebel wollte sie nicht gehen, das bedeutete Schmerzen.

Wieder drehte sie sich um und steuerte das andere Ende des Weges an, wo der Nebel freundlich glühte und angenehm warm zu sein schien. Schon hatte sie die Hälfte der Strecke überwunden, als plötzlich Stimmen hinter ihr ertönten.

"Ich....möchte mich bei dir entschuldigen....", klangen die verzerrten Worte durch die Stille. Rumiko's Augen weiteten sich. Sie kannte diese Stimme, aber wie war das möglich? Unschlüssig drehte sie ihren Kopf. Einerseits wollte sie sich der Stimme nähern, aber andererseits fürchtete sie die Schmerzen....

Dann begann sich auf einmal eine Form in dem Nebel zu bilden. Ein durchsichtiger Schemen erschien, wabernd, mit verschwommenen Umrissen, aber doch als Mensch erkennbar. Wieder einmal blickte Rumiko in die violetten Augen ihrer Tochter.

"Rika....?", sie wagte es beinahe nicht, ihrer Hoffnung Ausdruck zu geben. Doch Rika schaute sie nicht an, sondern hatte ihren Blick auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet. Ihr sonst gebändigtes Haar hing ihr offen über die Schultern, ein Farbklecks in dem einseitigen Grau des Waldes.

"Ich...hab dich gern. Sehr gern sogar." Tränen traten in Rumiko's Augen, als sie diese Worte hörte. Wie sehr hatte sie es sich gewünscht, dass ihre verschlossene Rika sie als Mutter anerkannte, sie akzeptierte, sie mochte....wehmütig lächelnd wischte sie sich das Nass auf ihrer Wange ab.

"Deshalb bitte ich dich, zurückzukehren. Ich weiß nicht, was ich ohne dich anfangen würde. Ich brauche dich, Mama. Bitte...du darfst nicht sterben!"

Sterben....wer? Warum? Nein, sie wollte nicht sterben, auf keinen Fall...aber sie wollte auch nicht durch diesen Nebel gehen, denn Rumiko verabscheute Schmerzen. Und doch...auf der anderen Seite befand sich Rika, ihre Rika, die sie gebeten hatte, zurückzukommen. Es war das erste Mal, dass ihre Tochter so etwas sagte, seit ihr Mann gegangen war und....

"Ich komme.", sagte Rumiko ruhig. Sie hatte ihre Entscheidung gefällt. Mit energischem Schritt trat sie in die Wolke und schloss die Augen, als der Schmerz begann.

Das Zimmer beantwortete ihre Rede mit drückendem Schweigen. Rika betrachtete traurig die leblose Person auf dem Bett und stellte überrascht fest, wie leicht sie sich auf einmal fühlte. Es war schwer gewesen, diese Worte auszusprechen, aber nun fühlte sie sich....gut. Noch fehlten ihr die Worte, um diesen Zustand zu beschreiben. Noch wagte sie nicht, sich ganz ihrer Erleichterung hinzugeben. Aber sie fühlte - nein, sie wusste - dass sie es alleine niemals geschafft hätte.

Wenn das alles vorbei ist...dann muss ich wohl oder übel Ryo danken...

Sie lächelte wehmütig und schaute in das Gesicht ihrer Mutter. Ihre blonden Locken rahmten die blasse, weißliche Haut ein und fielen ihr lose über die Augen. Schön sah sie aus. Wie Dornröschen. Im ewigen Schlaf....

Schmerz.....es tat weh....so weh.....gleißend, brennend, in ihrem Kopf, ein dumpfes Hämmern, Pochen, stetig, unaufhörlich....

Ein seltsamer Geruch in der Luft....steril....krank....das weiche Laken unter ihren Fingern, ihrem Rücken, sie fühlte es, rauher Stoff, und doch angenehm...

Der Schmerz.....

Geräusche....viele Geräusche....das Surren von Geräten.....der Gesang eines Vogels, leise, gedämpft...eine Amsel?....ein monotones Piepen....und die Präsenz einer anderen Person, die neben ihr stand...

Es tut weh!

Öffne die Augen

Warum tut es so weh?

Mach die Augen auf....

Grelles Licht, als sie langsam ihre Augenlider hob. Verschwommene Schemen, unklare Massen, die erst langsam an Kontur gewannen...einePerson.....eine Person, die im Zimmer stand. Im Krankenhauszimmer.....

Das Auto....der Unfall....der Schmerz....der Traum....

Rika hielt den Atem an und konnte nicht glauben, was sie dort sah. Die klaren Augen ihrer Mutter schauten sie an, schauten ihr direkt ins Gesicht, wach, aufmerksam, lebendig....Sie blinzelte, konnte es nicht fassen, als die Freude langsam in ihr hochstieg, unglaubliche Freude und ihr ein riesiger Stein vom Herzen fiel....

"Mama....", flüsterte sie bloß. Rumiko lächelte. Mehr brauchte nicht gesagt werden. Ein kleines Lächeln zeigte sich auf Rika's Gesicht. "Danke."

Als das Licht dich umhüllt
shining in the darkness, warming your face
Siehst du dich um und lächelst
Because the black arrow starts to disappear
Deine Hände tasten nach dem Licht
and feel the love of it, entering your heart
Es ist warm, so warm
You close your eyes and smile
Plötzliche Fröhlichkeit überkommt dich
as the black arrow stays in the darkness, while you start flying
während du der Sonne entgegenfliegst
No words can describe the feelings
Aber jeder, der in deine Augen sieht
will understand.
Weil du verstanden hast
What feelings are for

Als Ryo das Krankenzimmer betreten wollte, blieb er erstaunt in der Türe stehen und beobachtete eine seltsame und ungewohnte Szene. Rika saß auf dem Bett ihrer Mutter und lachte. Und ihre Mutter....lag nicht mehr leblos da, sondern schien wach zu sein, sie scherzte fröhlich mit ihrer Tochter, obwohl tiefe Ringe unter ihren Augen von den durchgestandenen Strapazen deuteten. Der Junge lächelte leicht, als er Rika's Gesichtsausdruck bemerkte. Der harte Zug um ihren Mund schien verschwunden und ihre Augen strahlten nur so. In dem warmen Licht der Sonne glänzte ihr offenes Haar, und Ryo versank in der Betrachtung. Er fand sie einfach unglaublich schön, ihm fehlten die Worte....Nach ein paar Minuten blinzelte er und merkte, dass er gerade voll am Schwärmen war.

Er wollte sich schon wieder zurück ziehen, denn er wusste, dass seine Hilfe nun nicht mehr gebraucht wurde, da drehte Rika sich um. Für einen Moment verschwand die Fröhlichkeit von ihrem Gesicht und machte absoluter Verwirrung platz. Dann lächelte sie wieder und winkte ihn zu sich. Zögernd trat der Tamer ein.

Rumiko machte ein verdutztes Gesicht. "Wer ist denn das? Einer von deinen Freunden?"

"Ja, Mama, das ist Ryo - Ryo Akiyama." Ihm fiel auf, dass sie nicht widersprochen hatte, als ihre Mutter ihn als ihren Freund bezeichnet hatte. Gab es etwa....Chancen? Sein Herz begann zu pochen und sein Mund war plötzlich trocken.

"Hallo.", sagte er einfallslos.

"Er sieht gut aus!", meinte Rumiko fachmännisch, woraufhin die beiden Jugendlichen erröteten.

"Mama!", Rika warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. "Er hat mir...sehr geholfen.", bei diesen Worten schaute sie ihn nicht an, aber Ryo wusste auch so, was für eine große Überwindung es für sie gewesen war, diese Worte auszusprechen. Seine Rika machte sich....

Wieso denn meine Rika? Hör auf zu träumen, alter Junge!

Dann schaute sie ihn an. Violette Augen trafen auf tiefblaue, und für einen Moment schien wieder die Zeit stillzustehen. "Ich muss dir noch danken...", flüsterte sie dann leise. "Nein...ich will dir danken...."

Verwirrt neigte er den Kopf, hatte keine Ahnung, was er darauf erwidern sollte. Rika stand auf und drehte sich zu ihrer Mutter um. "Wir gehen kurz raus, ja?" Rumiko nickte nur lächelnd, und Ryo hatte das seltsame Gefühl, dass sie mehr wusste, als er selber. Rika schob ihn zur Türe hinaus und schloss diese. Der Gang war leer und still. Rika stand vor ihm, seltsam schüchtern, und verknotete ihre Hände. "Wie gesagt...ich schulde dir was. Ohne deine Hilfe....hätte ich es nicht so geschafft. Ich weiß das jetzt. Und ich danke dir dafür, dass du dich nicht von meinem Verhalten hast abschrecken lassen. Obwohl ich es ja eigentlich nicht verdient habe..."

"Ich hab es gern gemacht.", sagte er simpel. "Und ich habe dir den Grund auch schon mehrmals genannt."

Unsicher blickte sie ihn an. "Weil du mich magst?" Ein Nicken war die Antwort. Rika lächelte. "Ich verstehe dich nicht, Akiyama."

"Ich auch nicht."

Sie schauten sich beide an und prusteten los. Es war ein befreiendes Lachen, und beide genossen es. Zum ersten Mal fühlten sie sich vollkommen frei in der Gegenwart des anderen, obwohl beiden etwas....seltsam zu Mute war.

Rika wusste nicht, warum sie sich so fühlte...aber sie wünschte...sie wünschte fast, dass es öfters so sein könnte. Sich mit Ryo zu unterhalten. Mit ihm zu lachen. Dieser Wunsch weckte in ihr Verwunderung. Hatte sie ihn nicht verabscheut? War er nicht ihr Erzfeind? Doch als nun in ihr Herz hineinschaute, entdeckte sie keinerlei Hass mehr. Eher etwas anderes....

Als sie so in Gedanken verloren vor ihm stand, kam Ryo ein Gedanke. "Ich hab eine Idee, wie du mir danken könntest.", meinte er grinsend. Rika horchte auf. "Und was wäre das?"

"Geh mit mir aus."
Sie blinzelte. "WAS???" Das konnte er nicht ernst meinen, oder? Hatte er etwa ihre Gedanken gelesen?

Ryo zuckte mit den Schultern und errötete verlegen. "Naja...wir könnten ja mal zusammen essen gehen...oder ins Kino...natürlich nur, wenn du willst.", fügte er eilig hinzu und schien unter ihrem Blick zu schrumpfen. Er fing an zu stottern und verlor schließlich vollständig den Faden.
Rika betrachtete ihn fasziniert. Irgendwie liebte sie es, diese Seite von Ryo zum Vorschein zu bringen. Sie genoss es regelrecht, den perfekten' Sunnyboy aus dem Konzept zu bringen! Vor allem, weil er so unglaublich...süß....aussah, wenn seine Wangen sich röteten.

"Okay.", sagte sie und lächelte ihn an.

Ryo, der schon geglaubt hatte, dass sie ihn gleich ohrfeigen würde, starrte sie ungläubig an. Dann breitete sich ein weites Grinsen auf seinem Gesicht aus. "Wow." Er hatte sie um ein Date gebeten, sie hatte zugestimmt und schien sich auch noch darüber zu freuen....das muss das Paradies auf Erden sein...."Bald?", fragte er hoffnungsvoll.

"Meinetwegen.", nun errötete auch Rika.

"Ich...freu mich drauf."

"Ja. Ich auch."