Die Gedanken sind frei
by Kaeera
EPILOG: Amselgesang
Zwei Wochen später....
Er stand an der Brücke, ihrem vereinbarten Treffpunkt und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Die Sonne schien und ein leichter Wind wehte durch die Straßen, bewegte sein braunes Haar und ließ herumliegende Blätter aufwirbeln. Ryo steckte die Hände in die Hosentaschen und versuchte seine Ungeduld zu verbergen. Er wusste, dass er zu früh war, und trotzdem...wenn sie sich jetzt anders entschieden hatte? Immerhin hatte sie ihn ja gehasst, und er wusste immer noch nicht recht, was dieses verschlossene Mädchen von ihm dachte. Der Junge seufzte tief. Warum war er nur so nervös? Es war doch nicht sein erstes Date, er war schon öfters mit Mädchen aus gewesen.
Aber keine von ihnen war Rika gewesen....
Er musste lächeln bei dem Gedanken. Es stimmte schon, Rika war wirklich
etwas besonderes! Rika und ihre seltsame Großmutter....er musste daran
denken, wie sie ihm erzählt hatte, dass er in sie verliebt sei, und er
es nicht glauben hatte wollen. Tja....nun wusste er es besser.
Seine blauen Augen blickten verträumt durch den Park, als er seinen Blick schweifen ließ. Dann bemerkte er sie. Rika lief mit langsamen, unsicheren Schritten in Richtung Brücke. Sie hatte ihr Haar wieder zusammengebunden und trug ein schwarzes T-Shirt, dazu eine rote Capri-Hose, die ihre Figur betonte. Aber am atemberaubendsten war ihr Gesicht. Sie wirkte weder verstimmt noch wütend, noch hatte sie diesen versteinerten, verschlossenen Gesichtsausdruck. Im Gegenteil, sie schien fröhlich zu sein und regelrecht von innen her zu strahlen! Ryo's Herz pochte schneller bei dem Gedanken, dass vielleicht er der Grund für dieses Strahlen sein könnte.....
"Hallo Rika!", sein Lächeln wurde weiter und seine Augen strahlten,
als er das Mädchen begrüßte.
"Hi.", war die kurze Antwort, aber sie lächelte zurück,
und das zeigte mehr als tausend Worte. Für einen kurzen Moment herrschte
kurze Stille zwischen den beiden, dann griff Ryo das Gespräch wieder auf.
"Du siehst...ähm....sehr hübsch aus.", sagte er und wunderte
sich, warum er errötete. Es war nur ein Kompliment, und es war die Wahrheit,
verdammt, er war doch sonst nicht der schüchterne Typ!
Rika lächelte nur noch mehr und ein leichter Rotschimmer zeigte sich auf
ihren Wangen. "Danke!"
Ryo räusperte sich verlegen. "Nun, dann sollten wir besser gehen.
Was willst du tun? Kino? In ein Cafe? Spazierengehen?"
Das Mädchen kratzte sich verlegen am Kinn. "Ich weiß nicht
- es ist mein erstes Date. Aber ich möchte nicht an einen Ort, wo viele
Leute sind. Am liebsten....", sie grinste, "Am liebsten würde
ich einfach nur rumlaufen und reden."
"Du willst reden?", Ryo war überrascht. "Das hätte
ich jetzt nicht erwartet."
"Du brauchst dir auch nicht zuviel darauf einzubilden!", sie drehte
den Kopf zur Seite, und Ryo bemerkte, dass er sie beinahe wieder zurück
in ihre Schale gedrängt hatte. Mit Rika musste man vorsichtig und behutsam
umgehen.
"Nein, ich freue mich.", erwiderte er deshalb ehrlich. "Lass uns einfach durch den Park laufen, ja?"
Ein stummes Nicken war seine Antwort, und die beiden Jugendlichen gingen schweigend durch das blühende Grün des Stadtparks. Irgendwo sang eine Amsel, und Rika musste wieder zurück an diesen verhängnisvollen Moment von vor zwei Wochen denken, als ihre Großmutter ihr die schreckliche Nachricht gebracht hatte. Nun ging ihrer Mutter viel besser, zwar war sie noch immer im Krankenhaus, aber sie würde in den nächsten Tagen entlassen werden - Rika war froh darüber. Es war doch etwas zu still daheim, und sie hatte niemandem, mit dem sie sich streiten konnte.
Vielleicht war das auch ein Grund gewesen, weswegen sie sich so auf diesen Tag gefreut hatte. In diesen zwei Wochen hatte sie festgestellt, dass es irgendwie...erleichternd war, mit jemand anderem zu reden. Und mit Ryo konnte sie reden. Sie hatte keinen blassen Schimmer warum gerade er, aber es war nun mal so. Er schien das Innerste von ihr zu kennen, und mit der Zeit hatte auch sie andere Seiten an dem Sunnyboy gesehen, Seiten, die ihr gefielen. Zum Beispiel wenn er richtig wütend wurde...oder wenn er rot wurde. Seltsam....irgendwie wurde Ryo nur in ihrer Gegenwart rot. Rika lächelte triumphierend. Vielleicht hatte er Macht über sie, aber als Gegenleistung hatte sie auch etwas Macht über ihn!
Es war ihr erstes Date, und um ehrlich zu sein: sie hatte nie geglaubt, dass
sie jemals freiwillig auf eines gehen würde, oder dass es ihr gefallen
würde!
"Wie geht es denn deiner Mutter?", fragte Ryo förmlich.
"Gut. Viel besser."
Wieder herrschte Schweigen zwischen den beiden, bis Ryo sich schließlich
zu einer weiteren Frage aufraffte.
"Über was wolltest du denn reden?"
Rika strich sich unsicher eine Strähne aus dem Gesicht. "Ich...weiß
nicht. Einfach reden. Ich habe nicht viel Erfahrung in diesem Fach, ich war
immer schon der schweigsame Typ, aber bei dir ist das irgendwie anders...."
"Du verschluckst lieber alles, ich weiß.", nickte Ryo. "Und
du willst alles im Alleingang machen."
Ein böser Blick streifte ihn. "Da kenne ich noch jemanden."
"Was, ich?", er schaute etwas ratlos.
"Klar doch. Wer ist denn bitte schön alleine in die Digiwelt gewandert
und blieb dort für was weiß ich wie lange???"
Ryo protestierte. "Damals wusste ich noch nicht, dass es andere Tamer
gab!"
"Aber es war auch ein Alleingang!"
"Hmmm....", er brummelte irgendwas vor sich hin. Rika beobachtete,
wie er schmollend zur Seite schaute und grinste spitzbübisch. "Wir
haben wohl beide unsere Eigenarten."
"Das ist wohl wahr."
Die Amsel sang weiterhin, zwitscherte, jubilierte, und andere Vögel fielen in den Chorus ein. Das monotone Piepen von Spatzen ebenso wie der melodische Gesang einer Nachtigall, und ab und zu das störende Krächzen einer Krähe. Rika lauschte den Geräuschen und wunderte sich. Hatte sie das früher nie wahrgenommen? War sie blind und taub an den Büschen und Bäumen vorübergegangen? Sie fühlte sich so leicht und...glücklich. Flüchtig dachte sie daran, was die anderen wohl denken würden, wenn sie von diesem Rendezvous wüssten, doch sie stellte erstaunt fest, dass es ihr gar nichts ausmachte, was sie dachten und sagten.
"Was magst du am liebsten?", wollte das Mädchen wissen und drehte
ihren Kopf, um in seine blauen Augen zu schauen. Sie wollte mehr über ihn
wissen...
"Oje, das ist schwer....", Ryo tat so, als ob er angestrengt überlegen würde. "Ich mag...sonnige Tage, wenn man nach draußen gehen und Sport treiben kann. Ich mag es, auf einer Brücke zu sitzen, die Beine baumeln zu lassen und Eis zu essen. Ich mag es, daheim in meinem Zimmer Musik zu hören und dabei mit Digimon Karten zu üben. Ich mag es, wenn ich mit Leuten zusammen lachen kann. Ich liebe es, mit dem Rücken im Gras zu liegen und den Himmel zu beobachten...."
Rika schaute ihn großäugig an. "Das hätte ich nie von dir erwartet!", gestand sie. Ryo zwinkerte ihr zu. "Ich stecke eben voller Überraschungen!"
Er sprang vom Weg hinunter und ließ sich in das Gras fallen. Mit hinter
dem Kopf verschränkten Armen blinzelte Ryo zu Rika hoch und grinste. "Du
bist dran!"
Sie setzte sich neben in ins Gras und begann zu überlegen. "Hmmm....ich mag den Regen. Ich mag es, durch die Straßen zu laufen, wenn es regnet und sich alle in den Häusern verkriechen. Ich mag es, bei Digimon Kartenspielen zu gewinnen. Und seit neuestem mag ich es, dem Gesang einer Amsel zuzuhören.", sie zuckte mit den Schultern. "Komischerweise mag ich es auch, mit dir zu reden...", sie wusste selbst nicht, warum sie das gesagt hatte. Aber es stimmte. Es stimme wirklich! Gedankenverloren lehnte sie ihren Kopf in die Hände. "Das ist echt seltsam. Vor zwei Wochen hätte ich dich noch verprügelt, anstatt einfach zu....reden."
"Ich weiß.", Ryo musste lachen. "Ich hab niemals verstehen können, wieso du mich so sehr verabscheut hast, und ich bin froh, dass es sich wenigstens ein bisschen geändert hat!" Weil ich mich in dich verliebt habe und es nicht aushalten könnte, kein Wort mit dir wechseln zu dürfen!
Black arrow, disappearing in the sunlight
White arrow, flying towards your heart
Rika beobachtete, wie ein nachdenklicher Ausdruck auf Ryo's Gesicht erschien.
"An was denkst du?"
Langsam drehte er den Kopf und schaute ihr direkt in die Augen. Dann richtete er sich auf, bis ihre Köpfe nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Sie schauten sich beide in die Augen, und wieder einmal schien die Zeit stehen zu bleiben, schien alles andere unwichtig zu werden, nur noch diese Augen....
Was passiert mit mir? Rika konnte sich nicht losreissen. Was ist das für ein warmes Gefühl? Warum bin ich so nervös? Mein Herz pocht....
It happens.right then when you look into these eyes
Eyes, so deep
Eyes, so warm
so caring
Your heart starts to melt
And the white arrow strucks your heart
fills it with light
golden light
Verdammmt...ich kann sie nicht küssen. Sie wird mich hassen! Ryo versuchte seine herumwirbelnden Gedanken zu beruhigen. Aber....ich kann nicht dagegen ankämpfen. Warum sieht sie auch so hübsch aus? Ich bin ein verliebter Trottel....ach, was soll's!
Und bevor er noch so recht wusste, was er tat, hatte er sich auch schon vorgebeugt und seine Lippen auf ihre gepresst. Er bemerkte, wie sie erschrocken zurückzuckte, aber....aber....irgendwie schien der Moment ewig lang zu dauern, und war doch viel zu kurz. Mit einem halb erschreckten und halb enttäuschtem Seufzer taumelten beide Jugendlichen auseinander und starrten sich an.
Was hab ich bloß getan?, hämmerte es in Ryo's Kopf. Aber es war schön....
Rika dagegen saß da wie versteinert. Er hat mich geküsst! Dieser Idiot hat mich geküsst! Was fällt ihm eigentlich ein? Niemand küsst mich ungestraft, NIEMAND, ich will das nicht, warum hat er das getan, gerade war es doch so schön...ach, Ryo, verdammt, musste das sein?
Obwohl es irgendwie...schön war....
"Idiot!", fauchte sie dann nur, sprang auf und rannte quer über die Wiese, einen belämmerten Ryo zurücklassend. Sie konnte ihr Herz schlagen hören und vermeinte immer noch, den Geschmack seiner Lippen auf ihren zu spüren. Rika schloss die Augen und rannte. Einerseits hatte sie es gemocht, diese prickelnde Gefühl, andererseits hatte sie immer noch Angst, denn alte Gewohnheiten ließen sich nur schwer überwinden.
Ryo fluchte nur und sprang ebenfalls auf, um dem fliehendem Mädchen hinterher
zu eilen. Warum war es nur immer so verdammt schwer mit Rika?
"Rika!", rief er, "Rika, bitte warte!"
Sie wurde langsamer und drehte sich zu ihm um. Ryo konnte Zorn in ihren Augen
funkeln sehen, aber auch Unsicherheit und noch etwas anderes, was er nicht richtig
deuten konnte. "Rika, es tut mir leid...ich weiß nicht, was über
mich kam...."
Sie drehte ruckhaft den Kopf zur Seite. "Warum....warum musste du mich
immer so aus der Bahn werfen?"
"
Das ist doch gar nicht meine Absicht! Es passierte einfach!!", Ryo suchte nach den richtigen Worten. "Ich hatte niemals vor, dich zu küssen, naja, jedenfalls nicht heute, aber dann warst du vor mir, und irgendwie....konnte ich nicht anders."
"Aber warum?", ihre Frage klang verzweifelt.
"Warum?", Ryo warf die Arme in die Luft. "Aus einem absolut dummen und unlogischem Grund, etwas, was du wahrscheinlich niemals verstehen wirst, und was ich, ehrlich gesagt, selbst auch nicht verstehe. Ich habe keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist, oder warum, und mir wäre es anders lieber, denn ich hab ja absolut keine Hoffnung..."
"Komm zur Sache, Ryo.", sie klang ungeduldig. Ryo funkelte sie an
und trat näher, bis er dicht vor ihr stand. "Also gut.", er holte
tief Luft. "Weil ich mich in dich verliebt hab, okay?", er drehte
sich und starrte ins Leere. Hinter sich konnte er ein erschrecktes Seufzen hören,
und dann: "Wirklich?"
Er brachte es nicht fertig zu antworten, sondern nickte nur. Das war's. Jetzt
ist es aus., dachte er verzweifelt und versuchte, die Tränen zurückzuhalten,
die ihm unbedingt aus den Augen laufen wollten. Kein Laut war zu hören
außer dem Zwitschern der Vögel.
Und plötzlich spürte Ryo, wie sich zwei schlanke Arme um seine Brust
schlangen. Rika presste ihren Kopf in seinen Rücken und wisperte ein leises
Danke'. Dann begann sie zu weinen, hielt ihn fest umschlungen, Ryo, der
es nicht fassen konnte. Langsam drehte er sich um und nahm ihre Hände in
seine.
"Du bist nicht sauer?", brachte er schließlich heraus. Sie
schüttelte den Kopf und meinte unter Tränen: "Ich hab gedacht,
du hast mich nur geküsst weil...weil das zu einem Date gehört, nicht
weil du irgendetwas für mich empfinden könntest, weil du doch..."
"Weil ich so ein Sunnyboy bin?", er legte ihr den Finger auf die Lippen und erwiderte ernst: "Mag ja sein, aber ich habe mich in dich verliebt und in kein anderes Mädchen!"
Sie lächelte, als sie diese Worte hörte. Rika hätte nie geglaubt, dass jemand - irgendjemand - so etwas zu ihr sagen würde, und dann ausgerechnet Ryo, dem Dutzende von Mädchen zu Füßen hingen. Sie genoss seine Wärme, ein vollkommen neues Gefühl. Das letzte Mal, als sie jemanden umarmt hatte, war....war...war der Zeitpunkt gewesen, als ihr Vater sie verlassen hatte. Seitdem hatte sie sich geweigert, sich irgendwelchen Berührungen hinzugeben, aus Angst, verletzt zu werden. Und nun musste sie erkennen, dass sie gerade dadurch einen Dolch in ihren eigenes Herz getrieben hatte, denn der Mensch war nicht dazu geschaffen, alleine zu sein.
Vorsichtig nahm sie seine Hand und drückte diese sanft. Das Mädchen wusste nicht, was sie sagen sollte...aber Ryo erwartete und verdiente eine Antwort. Doch es würde noch lange dauern, bis sie diese Worte würde aussprechen können, sehr lange...
Aber es gab etwas, das sie tun konnte. Langsam schlang sie ihre Arme um Ryos Nacken, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn sanft auf die Lippen, aus eigenem Antrieb und ohne Zurückzuzucken. Seine Augen weiteten sich zuerst, doch dann schlang er auch seine Arme um sie und zog sie näher zu sich. Rika schloss die Augen und hörte im Hintergrund die Amsel singen. Die Sonne schien auf das Pärchen und ließ ihr rötliches Haar golden aufschimmern.
Die Gedanken sind frei. Man kann ihnen nichts befehlen, und man kann Gefühle nicht kontrollieren. Vielleicht ist es möglich, sie zu unterdrücken oder sich etwas vorzumachen, aber im Ende läuft es immer auf Selbstbetrug hinaus. Erst wenn wir akzeptieren, dass Gefühle wie Schmerz und Freude untrennbar miteinander verbunden sind, wenn wir sehen, dass es Höhen und Tiefen gibt, werden wir lernen, was echtes Glück ist.
Und manchmal...manchmal braucht es einen kleinen Anstoß. Manchmal schafft man es nicht alleine. Man braucht eine Hand, die einen aus der Dunkelheit zieht, und mit der man zusammen den Weg ins Licht beschreiten kann.
And when the white arrow flies through the darkness
einen weißen Schweif aus Sternen hinterlassend
You will see two laughing pairs of eyes
Eins blau und eines violett
They will shine with joy
Und du wirst ein Lächeln auf deinen Lippen spüren
Because they know what luck is
And because they want to share it with everybody
And because they smile at you
Und du spürst, wie glücklich sie sind.
White Arrow, shining in the sunlight.
Rika lachte. Sie lachte, weil sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie so glücklich
gefühlt hatte! Ihr Herz schien zu bersten vor Freude, und sie wollte weinen,
herumtollen und schreien, alles zur gleichen Zeit. Die Vögel sangen, am
lautesten ihre geliebte Amsel, die sie durch diese schreckliche und schöne
Zeit begleitet hatte. Amselgesang....
THE END
So, und wenn ihr das bis jetzt gelesen habt - Respekt! Ich nehme an, es hat euch gefallen, ansonsten hättet ihr es nicht so weit gelesen *g* (Welch Logik!) Nun, auf jeden Fall würde ich mich über Feedback freuen, auch über Kritik - mailt mir ruhig: kaeera@yahoo.de
