Teil 2 - Der Scout

In der Dämmerung des nächsten Morgens brachen sie auf. Ein leichter, stetiger Regen fiel, dessen Kühle auf die Nähe des Herbstes deutete. Die kleine Reisengesellschaft hatte sich eng in ihre Umhänge gehüllt und bestiegen im Schlamm vor der Taverne die Pferde, die der freundliche Wirt für sie besorgt hatte. Dieser und seine Frau hatten sich im Hof eingefunden und reichten ihnen Beutel mit Proviant, die sie auf ihrer mehr als zwei Wochen dauernden Reise benötigen würden. Dafür ließ Legolas, wieder verborgen unter seiner Kapuze, einige Geldstücke in ihre Hand fallen. Alles sah so aus, als wäre ihr Aufenthalt in der Stadt weitgehend unbemerkt geblieben. Eine Chance, die Person, der etwas daran liegen könnte, dass sie ihr Ziel nicht erreichten - Gorans Mörder - abzuhängen.

Die große Frage, die es zu beantworten galt, war, warum jemand verhindern wollte, dass sie Gorans Dorf erreichten. Aragorn ging dieser Gedanke schon seit Stunden im Kopf herum, denn er hatte in dieser Nacht wenig Schlaf gefunden, wie auch seine anderen Gefährten, die beide ruhig auf ihren Pferden warteten, während er den Bauchgurt seines Sattels noch einmal fest nachzog. Die Distanz, die zwischen Legolas und Alann lag, war deutlich zu erkennen. Der hochgewachsene Elb, der mit der Selbstverständlichkeit des Überlegenen auf dem Pferd saß, strafte die junge Frau, die einen Teil desselben Bluts besaß wie er, mit Nichtbeachtung. Aragorn kannte die Vorurteile des hochmütigen Volkes über die "Verschmutzung" ihres Bluts und musste sich nun mit einem Paradebeispiel dieser besonderen Beziehung herumschlagen. Legolas konnte manchmal wirklich dickköpig sein, wenn er sich eine vorgefasste Meinung gebildet hatte.

Alann ließ sich von den Spannungen nichts anmerken. In ihren Lumpen sah sie aus wie ein zerrupfter Vogel, der just eben von Himmel gefallen war. Entsprechend ihres einfachen Lebenswandels trug sie kein Schwert oder einen Bogen. An ihrem Gürtel hing ein langer Dolch und in einer Halterung am Sattel ihres Pferdes ein langer, mit sorgfältigen Schnitzereien versehener Kampfstab, der schon einige Gebrauchsspuren aufwies. Aragorn nahm sich fest vor, ihr während der Reise Unterricht an Hieb - und Schusswaffen zu geben. Nachdenklich beobachtete er ihr Gesicht, das trotz seines Makels nicht verleugnen konnte, wie schön und edel ihre Züge waren. Er vermutet stark, dass sie sich nur derart schlampig kleidete, damit es niemandem anderen auffiel. Menschen wie Elben konnten Halbblüter nicht ausstehen und in der Stadt war das Überleben für einen Abkömmlinge dieser Mischrasse mehr als schwierig. Die meisten weiblichen Halbelben endeten als Huren oder zogen sich in die Isolation zurück. Im Stillen lobte er Alanns Voraussicht. Zwar konnte er nicht gutheißen, dass sie als Diebin ihren Lebensunterhalt bestritten hatte, doch es war besser, als mit hochgeschobenen Röcken in einer schmierigen Spelunke zu landen.

Was sie mit Legolas verband, wusste er indes nicht. In jener Nacht, als sein Freund verwundet darniederlag und er es nicht gewagt hatte, einen menschlichen Kurpfuscher zu holen, war sie in der Taverne aufgetaucht. Sie musste sich am Wirt vorbeigeschlichen haben und war so in die obere Etage gelangt, wo sie kurzentschlossen das Zimmer betrat und verlangte, Legolas sehen zu dürfen. Aragorn hätte sie beinahe mit Waffengewalt vertrieben, da ihn der Anblick seines Freundes, der durch ihre Mittäterschaft so schwer verletzt worden war, tief getroffen hatte. Doch etwas in ihrer entschlossenen Art und dem ehrlichen Ausdruck ihrer tiefgrünen Augen hatten ihn davon überzeugt, dass sie die einzige Chance war, die Legolas hatte.

Die Zeremonie der Heilung zu sehen war etwas Neues für ihn. Zwar hatte Elrond ihm bereits auf diese Art das Leben gerettet, doch er hatte den Vorgang noch nie von außen beobachtet. In einer Wolke von Licht hatte er gesehen, wie sich Alann in ein ätherisches Geistwesen verwandelte, das einen Teil seiner Lebensenergie gab, um den Kranken ins Leben zurückzuholen. Sie hatte ihm unbekannte, elbische Worte gemurmelt, Teil eines Ritus, den er nicht verstand und der ihm als Menschen wohl ewig verborgen bleiben würde.

Das Ergebnis war verblüffend. Als er sich Legolas Wunde nach Ende der Zeremonie betrachtete, war die schwarze Spur des Gifts unter der hellen Haut des Freundes verschwunden und die Wundränder heilten bereits. Welchen Preis Alann für ihr Handeln bezahlt hatte, war noch nach einem Tag zu sehen. Die Erschöpfung stand ihr ins Gesicht geschrieben, ihre Augen waren umschattet und ihre Hände zitterten hin und wieder. Aragorn wusste, dass er ihr die selbstlose Hilfe niemals vergessen würde. Zwar trug sie einen Teil der Schuld am Legolas Verwundung, aber sie war zurückgekommen und hatte sich Zorn und Strafe gestellt. Sie besaß Ehrgefühl - auch wenn es die Ehre einer Diebin war.

Und dies war der Grund, weswegen er ihr als Führerin vertraute. Sie würde nicht das in eine Falle treiben, das sie selbst unter so großer Mühe gerettet hatte. Aragorn beendete seine Überlegungen und schwang sich auf sein Pferd. Gemeinsam mit seinen Gefährten trabten sie vom Platz vor der Schenke und durch die engen, schmutzigen Gassen. Ein trüber Morgen versprach einen unangenehmen Tag.

***

Zur Mittagsstunde hatte sich der dicke Wolkenteppich noch nicht aufgelöst und die breite, vielbefahrene Strasse verwandelte sich aufgrund des stetig fallenden Regens in eine Sumpflandschaft. Die wenigen Reisenden, denen sie begegneten, passierten sie mit müden, leeren Gesichtern, in Hoffnung auf ein behagliches Kaminfeuer in der nahen Stadt.

Alann zügelte ihr Pferd. Aragorn hatte für sie eine kleine, drahtige Stute erstanden, die ziemlich eigensinnig zu sein schien, doch die Halbelbin schien keine Probleme zu haben, das tierische Temperament zu zügeln.

"Wir müssen hier die Strasse verlassen, da sie Richtung Westen abzweigt. Es gibt einen Pfad, der am Fluss vorbeiläuft. Drei Tagesritte südlich gibt es ein Dorf, in dem wir Rast machen können." Sie wies auf eine Kette von Hügeln und Wäldern im Osten, die sich am Horizont zu einem bedrohlichen Gebirge auftürmten. "In einer Stunde dürften wir die Bergfurt erreichen. Das Ufer ist flach und steinig. Dort werden die Pferde besser vorankommen als auf der Strasse. Und der Wald ist dicht genug, um uns eventuell Schutz bieten zu können."

Sie berichtete alles in einer knappen, kompetenten Art, die Aragorn wieder einmal davon überzeugte, dass sie zu wissen schien, was sie tat. Er winkte Legolas und sie bogen in den Wald hinein ab. Sofort wurde der Regen weniger, abgehalten von dem Grün der Baumkronen, doch die Feuchtigkeit der Luft drang Aragorn noch immer durch Mark und Bein. Die Hufe der Pferde machten kaum ein Geräusch auf dem durchweichten, blätterübersäten Waldboden. Außer dem Geräusch der Regentropfen war es absolut still. Seltsam still.

"Seid Ihr Euch sicher, dass in diesen Wäldern keine unangenehmen Überraschungen warten?", erkundigte sich Legolas arrogant und Aragorn musste sich trotz der bedrückenden Umgebung beherrschen, um nicht zu lachen. Natürlich gefiel es niemandem, Kompetenzen abzugeben. Er selbst und sein Elbenfreund waren versierte Reisende, die sich auf jedem Pfad zurechtfinden konnten und viel gemeinsame Abenteuer bestanden hatten. Doch im Gegensatz zu ihm selbst kam Legolas überhaupt nicht damit klar, sich einmal auf andere zu verlassen und zuzugeben, dass er eine Gegend nicht kannte. Und dass es Alann war, die nun Verantwortung übernahm, verkomplizierte die Sache noch um einiges.

"Je nachdem, was Ihr als "unangenehm" definiert", gab Alann ungewohnt kühl zurück und wischte sich mit dem Ärmel ihres Mantels ihr Gesicht trocken. "Falls Euch Straßenräuber, wilde Bestien und hin und wieder ein paar betrunkene Zwerge stören, solltet Ihr umdrehen."

"Zwerge?" Aragorn entschied sich, dass es am besten wäre, jegliche Diskussion zwischen den beiden Elben im vornherein zu unterbinden. Er trieb sein Pferd neben Alanns Stute und ließ Legolas dabei in seinem Rücken. "Ich dachte, in diesem Teil Mittelerdes gäbe es keine."

"Das Tal, in das wir reisen und in dem sich auch die Heimat Eures ermordeten Freundes befinden muss, wurde vor Jahrtausenden in den Fels des Gebirges geschlagen. Es ist ein riesiges Areal voller Höhlen und Grotten, lebensfeindlich und karg. Dennoch leben dort Hunderte Menschen in drei winzigen Dörfern und auch eine Ansiedlung von Zwergen befindet sich in einer der Höhlen. Eine kleine Gruppe nur, aber sie stiften stets Unruhe. Ihr Bestreben gilt der Vertreibung der Menschen aus ihrem Hoheitsgebiet. Bislang ohne Erfolg."

"Und eine solche Information verschweigt Ihr bisher?" Legolas steuerte sein Pferd mit dem festen Druck seiner Schenkel zwischen die geschlossene Front. Sein makelloses Gesicht war von Misstrauen gezeichnet. "Liegt es nicht klar auf der Hand, dass die Zwerge der Grund für den Hilferuf aus Gorans Dorf waren?"

"Nein, das glaube ich nicht!", widersprach Alann heftig und funkelte Legolas ungehalten an. Die ganze Zeit über war sie seiner abweisenden Art mit Ruhe begegnet, doch nun schien sie langsam die Fassung zu verlieren. "Wenn Ihr einmal von Euren Vorurteilen absehen könntet, würdet Ihr erkennen, dass es einfach nicht die Art der Zwerge ist, einen gedungenen Mörder hinter Goran herzuschicken. Und vor allem nicht über eine derart große Strecke. Zwerge bleiben meist unter sich und wenn sich ihnen ein Problem in den Weg stellt, benutzen sie ihre Äxte und machen Kleinholz. Ein Stich zwischen die Schulterblätter. Das ist die Tat eines feigen Assassinen. Nicht die eines Zwerges."

Der Blick, der Alann traf, hätte nicht abwertender sein können. Wortlos löste sich Legolas wieder aus der kleinen Gruppe und trieb sein Pferd, einen weißen Hengst, nach vorn. Zwischen den eng stehenden Stämmen und aufgrund des Nebels, der langsam aus dem Boden stieg, war er nach kurzer Zeit nur noch als heller Schemen zu erkennen.

Aragorn seufzte. Seine Vermutung für den Tag trat ein. Er hätte es gern verhindert.

***

Ein kleines Feuer prasselte unter dem Felsvorsprung nahe des Flusses, unter dem die drei Reisenden Unterschlupf gefunden hatten. Sie waren ein Stück in den Wald hinein gegangen, um nicht völlig ungeschützt zu sein. Legolas saß etwas abseits auf einem großen Stein und bespannte seinen Bogen neu. Zu seinen Füßen lag sein Köcher, gefüllt mit den Pfeilen, mit deren Kontrolle er sich die Zeit seit Sonnenuntergang vertrieben hatte. Er sprach kein Wort, sondern blickte nur ab und zu auf, um in den Wald hinaus zu lauschen. Der Strom plätscherte in der Nähe, doch noch immer war kein Tier zu hören oder zu sehen.

Aragorn beobachtete jede Regung seines Freundes und konzentrierte sich gleichzeitig darauf, den Schlägen von Alanns Kampfstab zu entgehen. Er hatte sie im Lauf des Tages gebeten, mit ihm in einer ruhigen Minute die Klinge zu kreuzen, damit er einschätzen konnte, wie gut sie war. Ohne durch sein mangelndes Vertrauen in ihre Fähigkeiten beleidigt zu sein, hatte sie zugestimmt und so befanden sie sich in der dritten Runde ihres Übungskampfes. Der Umgang mit dem Schwert und dem Bogen war noch zu ungewohnt für sie und sie hatten zu wenig Zeit, um ihre Kenntnisse zu vervollkommnen, weshalb sie sich doch auf Dolch und Kampfstab geeinigt hatten.

Tatsächlich trug die klein gewachsene Elbin den Stab nicht zur Zier. Durch ihre Gelenkigkeit und Schnelligkeit, bedingt durch ihre Gestalt und ihre mangelndes Rüstung, war sie ihm ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Ihre Schläge waren hart und zielgenau und der Stab, den Aragorn sich aus dem Wald gesucht hatte, erzitterte bedenklich. In Alanns Gesicht lag absolute Konzentration, während sie ihn attackierte. Sie schien zu wissen, dass jede Übung, die jetzt in Freundschaft ausgetragen wurde, ihr später das Leben retten konnte. Mit der Verbissenheit einer Person, die ihr ganzes Leben nur gekämpft hatte, führte sie ihre Waffe.

Zu seiner Verwunderung bemerkte Aragorn, dass Legolas seine Aufmerksamkeit auf die junge Frau gerichtet hatte und tatsächlich lag diesmal keine Verachtung in seinem Blick, sondern Interesse. Das war nach einem ganzen Tag voller Anfeindungen derart unglaublich, dass Aragorn für eine Sekunde seine Deckung vernachlässigte und Alanns Schlag mit voller Kraft seine linke Hand traf. Trotz des Lederhandschuhs tat es scheußlich weh und zu allem Überfluss entglitt ihm der Stock und fiel mit einem dumpfen Poltern zu Boden. Alann starrte ihn entgeistert an und warf ihre Waffe ebenfalls zu Seite.

"Das tut mir so leid", rief sie leise. "Ich hoffe, es ist nicht schlimm!"

"Ich würde wohl meine Integrität verlieren, wenn ich es zugeben würde!" Aragorn ballte seine pochende Hand zur Faust und musste über ihre Besorgnis lächeln. Die verunsicherte Frau, die vor ihm stand, war nicht jene kleine, verschlagene und vor allem misstrauische Diebin, die er in der Stadt kennengelernt hatte. "Aber es ist tatsächlich nicht schlimm. Zum Glück war das nicht meine Schwerthand."

"Während Ihr Euch mit Euren Bauernwaffen die Schädel einschlagt, werde ich eine Runde auf Wache gehen!" Legolas hatte sich mit der Grazie einer Raubkatze erhoben und hatte sich ihnen unbemerkt genähert. Das Feuer brannte in seinem Rücken und seine hohe, elegante Gestalt hob sich davor ab. Auf Alanns Gesicht erschien ein seltsamer Ausdruck, nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch er genügte Aragorn schon, um zu begreifen, aus welcher Richtung der Wind wehte. Sie blickten dem Elben nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war, dann erkundigte er sich:

"Wo seid Ihr Legolas schon einmal begegnet?"

Alann blickte ihn betroffen an.

"Woher wisst Ihr das, Streicher?"

"Menschenkenntnis, wenn Ihr mir den Begriff verzeiht!" Er lud sie mit einer Handbewegung ein, sich ans Feuer zu setzen. Dem kam sie nach und hielt ihre sichtlich klammen Hände in Richtung der Flammen. Ihr feuchter Umhang fing an zu dampfen, als die Wärme die Feuchtigkeit, die sich den ganzen Tag dort gesammelt hatte, zu vertreiben begann. "Also, seid so gut, erzählt es mir. Als Waldläufer lebe ich von den Informationen, die man mir gibt."

"Falls Ihr damit verbergen wolltet, dass Ihr neugierig seid, dann gelingt es Euch schlecht!", konterte sie und lachte dann leise, ein angenehmes Geräusch, das ihn überraschte. Dann wurde sie wieder ernst und ein Schatten huschte über ihre Züge, die vorher so weich erschienen waren. "Ihr müsst mir versprechen, es ihm nicht zu erzählen. Es ist mir unangenehm." Auf sein Nicken hin fasste sie sich ein Herz und erklärte: "Meine Familie stammt aus Düsterwald, doch sie wurde von dort verstoßen. Legolas Grünblatt ist mein Herr, der Sohn meines Königs. Auch wenn die Elben nichts mit mir verbindet, fühle ich mich als eine von ihnen. Ich erkannte Legolas an jenem Abend in der Gasse und wollte ihm das Leben retten. Niemals wollte ich, dass ihm etwas geschieht." Sie blickte ihn voll an. "Er verachtet mich, und das kann ich akzeptieren. Aber wenn er wüsste, dass wir das Blut derselben Familie teilen, dann -." Sie brach ab und starrte für einige Momente stumm ins Feuer.

Aragorn blickte sie sinnend an. Er ahnte, wie sie empfand. Legolas war für sie das Sinnbild der Dinge, die sie hätte kennen und ihr Eigen nennen können. Er besaß eine Familie, einen Namen, einen Ort, den er Heimat nennen konnte, deren Prinz er sogar war. Soviel Glück besaßen nicht alle Menschen auf der Erde.

"Nehmt es Euch nicht zu Herzen!", riet er ihr und reichte ihr einen Trinkschlauch, aus dem sie einen tiefen Schluck nahm. "Das Blut, das durch Eure Venen fließt, sagt nichts darüber aus, was oder wer ihr seid. Eure Taten sprechen für Euch, mehr als es ein klangvoller Titel es jemals könnte."

Alann blickte auf, ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln.

"Ich kenne Euch nicht lang, Herr Streicher, und doch ahne ich, dass diese Worte auch für Euch Bedeutung haben. Ich danke für Euren Rat." Sie stand auf. "Bereit für eine weitere Runde?"

***

Es war Legolas, die ihn am nächsten Morgen weckte. Der Elb hockte neben ihm und bedeutete ihm, sich still zu verhalten. In der Zeichensprache, die sie sich während ihrer gemeinsamen Reisen zu Eigen gemacht hatten, berichtete ihm der Freund, dass sich eine Gruppe von mindestens sechs Wesen in den Wälder befänden, die sich näherten. Unauffällig, da sie wahrscheinlich beobachtet wurden, griff Aragorn seinen Bogen und erhob sich langsam. Er tat, als würde er die Asche des Feuers überprüfen und warf dabei wachsame Blicke in den Forst, in dem noch der Morgennebel stand. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch einige blasse Strahlen krochen bereits über den Horizont.

Legolas weckte auch Alann, die anscheinend die elbische Gabe, auf Schlaf verzichten zu können, nicht besaß. Sie schien seine Zeichen sofort zu verstehen, denn sie erhob sich ebenfalls, streckte sich gähnend und schlenderte zu ihrem Kampfstab herüber. Spielerisch nahm sie ihn zur Hand und kehrte dann zu Legolas zurück, der ihr anwies, zurückzubleiben. Natürlich schüttelte sie den Kopf und funkelte ihn wortlos an.

Wäre Aragorn nicht so angespannt gewesen, dann hätte er diese Szene erheiternd gefunden. Das leise Krachen eines dünnen Zweiges ganz in der Nähe kündigte die Probleme an. Wie auf eine geheime Absprache hin rückten Legolas und Alann zu ihm, bildete mit ihm zusammen einen kleinen, wenn auch wehrhaften Kreis. Aragorn spürte die Bedrohung, die in der Luft lag. Wie schon am Tag zuvor war es im Wald absolut ruhig, kein Vogel, kein kleines Tier zog zu Luft und am Boden seine Kreise. Nur das Rauschen des Flusses war zu vernehmen und das nervöse Scharren der an einem Baum angebundenen Pferde, die den Feind wittern konnten.

Ein Hagel von Pfeilen regnete aus dem Wald auf sie herab, doch da sie vorbereitet waren, gelang es ihnen problemlos, den Geschossen auszuweichen.

"Weiter in den Wald!", zischte Aragorn. "Sie haben dort ein schlechteres Schussfeld."

Wortlos folgten seine Begleiter dem Befehl. Noch immer schwirrten ihn Pfeile hinterher, einer schlug direkt neben seinem Kopf in einen Stamm ein, wo er zitternd stecken blieb. Ein Stückchen weiter verharrten sie, im Schutz des Unterholzes, das dichter war als in der Umgebung des Felsens. Legolas zog sein Schwert, das mit einem leisen Sirren aus der Scheide glitt und Aragorn tat es seinem Freund nach. Alann atmete schwer, sie schien große Gefechte nicht gewöhnt zu sein. Doch ihre Hände umklammerten ihren Kampfstab in einer Art und Weise, die einem potentiellen Gegner nichts Gutes versprach.

Schemen erschienen zwischen den Bäumen, Metall blitzte auf. Es waren sieben Gestalten, eingehüllt in schwarze Umhänge, die mit seltsam anmutender Eleganz näher kamen. Ihre Schwerter, allesamt auf die zahlenmäßig unterlegene Gruppe gerichtet, waren furchterregende Waffen, mit Widerhaken und breiten, schartigen Klingen. Die Angreifer kamen aus jeder Richtung, erschreckend still. Sie schienen auf ein geheimes Signal zum Losschlagen zu warten.

Darauf wollte Aragorn nicht warten. Ein Blick zu seinen Begleitern überzeugte ihn davon, dass es an der Zeit war, in die Offensive zu gehen. Den Namen Arwen Abendsterns auf den Lippen stürmte er vorwärts, seinen Blick auf den Gegner gerichtet. Drei der Gestalten attackierten ihn gleichzeitig. Ihre Klingen schlugen aufeinander, Funken sprühend. Er stieß sie zurück, nahm sich den Ersten vor, der eine miserable Deckung besaß. Sie tauschten zwei, drei Schläge aus, dann erkannte Aragorn die Schwäche des Gegners und innerhalb von Sekunden sank dieser tot zu Boden, eine klaffenden Wunde zwischen seinen Rippen.

Der zweite anstürmende Angreifer war geschickter, wenn nicht ein Meister. Er war ein Stück größer und muskelbepackt, so weit es unter seinem Mantel zu erkennen war. Sein Gesicht war beschattet, doch zwei fluoreszierende Augen blickten ihm kalt strahlend entgegen. Mit Heftigkeit schlug er auf Aragorn ein, der ein Stück zurückweichen musste und dabei beinahe mit Alann zusammenstieß, die sich neben ihm verbissen gegen ihren Widersacher wehrte. Für einen Moment fürchtete Aragorn um ihr Leben, doch dann bemerkte er, dass sie sehr gut zurechtkam - und dass Legolas ebenfalls ein Auge auf sie hatte.

Das genügte dem Waldläufer an Information. Er konnte sich wieder seinem Gegner zuwenden, der keine Zeichen von Ermüdung zeigte. Mit neuem Elan ging er in den Angriff über, wich den Attacken aus, schlug wieder und wieder zu. Die Klingen verhakten sich und für einen kleinen Moment erstarrten sie, Auge in Augen. Aragorn war schneller und gewandter. Er sprang zurück, riss sein Schwert hinter den Kopf und ließ es auf den Hals seines Gegners wiedersausen. Wie ein Stück Holz auf einem Hackblock wurde dessen Körper gespalten. Dann war es auf einmal vorbei. Zwei Schemen flohen in den Wald und waren aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse Sekunden später nicht mehr auszumachen. Legolas riss seinen Bogen hoch und sandte ihnen noch zwei Pfeile hinterher, doch umsonst.

Die Stille kehrte zurück und nach dem Lärm des Kampfes wirkte sie noch unheilverkündender als zuvor. Vier Leichen lagen am Boden, verkrümmt, in Lachen von Blut. Legolas reinigte sein elegantes Schwert gerade am Mantel einer Leiche und besah sich dann das Gesicht seines Gegners.

"Dunkelelben!" Verblüffung zeigte sich in seinen schönen Zügen, die von Dreck und Blut besudelt waren. Aragorn teilte seine Verwunderung. Nach und nach zog er die Kapuzen von den Köpfen der Toten, insgesamt zwei Frauen und zwei Männer. Alle Gesichter wiesen dieselben Eigenschaften auf, eine fahle, ungesund aussehende Haut, dunkle Augen und nachtschwarzes Haar. "Ich bin schon lange Zeit keinen mehr von ihnen begegnet."

"Und vor allem nicht in Wälder wie diesen!" Legolas durchsuchte die Taschen der Gefallenen, förderte aber nichts Brauchbares zutage außer noch mehr Waffen und einige Münze und persönliche Gegenstände. "So nahe habe ich sie noch nie in der Nähe einer menschlichen Behausung gesehen."

"Und ich vermute, wenn sie es bis hierhin geschafft haben, dann ist es sehr gut möglich, dass einer von ihnen in die Stadt vorgedrungen ist und Goran getötet hat!", stellte Aragorn grimmig fest. "Nur fehlt uns immer noch das Motiv, das sie haben könnten, um uns und das fragliche Dorf zu überfallen, denn ich habe keine Zweifel, dass sie auch dahinter stecken." Er seufzte. "Sie werden wiederkommen. Wir müssen uns auf den Weg machen. Das Dorf, von dem Alann sprach, liegt noch zwei Tagesreisen entfernt. Ich schlage vor, wir verzichten ab jetzt auf Pausen." Bei der Erwähnung des Namens fiel ihm siedend heiß auf, dass die Halbelbin nirgends zu sehen war. Und dass es sieben Angreifer gewesen waren und von diesen zwei geflohen, vier tot und einer ebenfalls verschwunden war. "Legolas, wo ist sie?"

"Eben war sie noch -." Der Elbe stutzte und wies dann in die Richtung einiger übereinandergestürzten Baumstümpfe. Kaum hatte er das letzte Wort gesprochen, eilte er auch schon dorthin. Aragorn folgte ihm, besorgt. Mit behänder Eile sprang er seinem Freund hinterher. Hinter den Stämmen bot sich ein Bild, das ihn zunächst das Schlimmste ahnen ließ. Zwei Personen lagen auf dem feuchten Waldboden und es ließ sich nur schwerlich erkennen, dass auch Blut ins Erdreich hinabsickerte. Alann lag auf dem Rücken, begraben von der massigen Gestalt ihres Gegners. Sie war blass und ihr Gesicht war blutverschmierte. Weder sie noch der Dunkelelb rührten sich. Mit aller gebotenen Vorsicht zog ihn Legolas vor Alann herunter auf den Rücken. In Herzhöhe des Toten stak ein Dolch, hineingetrieben mit großer Wucht. Aragorn kniete neben der Diebin nieder und suchte einen Puls an ihrem Hals. Überall war Blut, doch er konnte an ihr keine größere Wunde entdecken als einen Schnitt an ihrem Oberam und eine kleine Platzwunde über ihrer Augenbraue. "Ist sie tot?", erkundigte sich Legolas in gleichgültigem Ton. "Wenn ja, sollten wir sie hier liegen lassen und schnellstmöglich aufbrechen."

"Nein", gab Aragorn zurück und die feindselige Art seines Freundes versetzte ihm einen kleinen Stich ins Herz. Wenn es ihm eines Tages vergönnt sein würde, mit Arwen Kinder zu haben, würden diese dann auch mit derart kalter Herablassung von den Elben behandelt werden? Er schob den Gedanken beiseite. Im selben Moment, als er den Puls beruhigend unter seinen Finger schlagen spürte, flatterten Alanns Augenlider. Es dauerte einige Sekunden, bis sie wieder zu sich kam. Mit einem Schrei fuhr sie hoch, tastete gehetzt an sich herum.

"Ich lebe noch." Mit Aragorns Hilfe rappelte sie sich auf die Beine und starrte auf ihren toten Gegner hinunter. "Er war zu stark für mich. Ich muss wohl mit dem Kopf aufgeschlagen sein und im letzten Moment, bevor ich ohnmächtig wurde, habe ich-." Legolas riss ihren Dolch aus dem Herz des Elben und hielt ihn ihr entgegen. Mit dem Blick, mit der ein Kaninchen eine Schlange betrachtete, sah sie die Waffe an und ergriff sie schließlich nur zögerlich. "Wir müssen hier weg. Oh, bei den Göttern, ich meine - ." Ihre Stimme erstarb zu einem Murmeln und sie begann in Richtung des Lagers zu gehen, mit einer seltsamen, schlafwandlerischen Sicherheit. "Ich habe schon gekämpft, aber noch nie so. Soviel Blut. So viele Gegner."

Aragorn und Legolas tauschten einen Blick und beeilten sich dann, ihr zu folgen. Sie stand eindeutig unter Schock, aber alles in allem hatte sie es gut überstanden. Es blieb zu erwarten, was noch geschehen konnte.



So, liebe Leser, ich hoffe, dieser zweite Teil hat Euch gefallen! Teil 3 verspricht einige Enthüllungen, auch eindeutiger Art! ;-) Seid so lieb und reviewt mir, ja? Eure Demetra