Teil 3 - Hochmut

Sie waren zwei Tage durchgeritten, immer auf der Hut vor möglichen Angreifern. Sie hatten bei jedem Knacken eines Astes zu den Waffen gegriffen und jeden auffliegenden Vogel argwöhnisch beobachtet. Doch es war ruhig geblieben.

Nun ritten sie in ein sacht abfallendes, grünes Tal herab. Gegen Morgen hatte es zum Glück aufgehört zu reden und nun brannte eine warme Sonne, die den Zenit schon weit überschritten hatte, freundlich auf die drei Reisenden herab. Die Pferde waren erschöpft, aber aufgrund von Aragorns guter Wahl bei ihrem Kauf hatten sie die Strapazen des Rittes ohne Verletzungen überstanden. Einige Stunden Ruhe würden ihnen gut tun, ebenso wie den Reitern.

Legolas erblickte das Dorf als Erster. Es lag am Rand des Tals, hineingekauert in die Steigung hin zu einem breiten Waldgebiet. Es war keine große Ansiedlung, wirkte aber trutzig und wehrhaft durch seine hohen Holzpalisaden. Bebaute Felder erstreckten sich um den Ort, goldenes Korn wehte im Wind, vereinzelte Bauern bewegten sich darin, winzig klein im Angesicht der Natur und des Himmels. Es wurde Herbst in diesem Teil von Mittelerde.

"Das ist Heyd. Es mag zwar nicht so aussehen, aber dort kann man beruhigte seinen Kopf auf ein Kissen betten!" Alann brach ihr Schweigen nach einer langen Zeit. Ein Leuchten hatte sich über ihr Gesicht gelegt, das sich Legolas nicht recht erklären konnte. Die junge Frau schien alle Strapazen der Reise mit einem Mal von sich geworfen zu haben. "Im Gasthaus "Hahnentritt" gibt es einige gemütliche Zimmer."

"Woher kennt Ihr Heyd?", erkundigte sich Aragorn. "Ich kann von mir nicht behaupten, dass dieser Ort lange in meinem Gedächtnis verbleiben würde."

"Jedem sein persönliches Gebiet", lachte sie. "Die blauen Berge sind mir seit meiner Kindheit eine Heimat. Ich habe nicht immer in der Stadt gelebt."

Mit neuem Elan trieben sie ihre Pferde an. Legolas beobachtete den Horizont und lauschte in den Wind, so wie er es immer tat, wenn eine Auseinandersetzung zu erwarten war. Doch er nahm nichts wahr und als sie schließlich, nach einem Weg von einer weiteren halben Stunde durch die Felder, das Stadttor erreichten, gab er es auf. In Städten fühlte er sich nicht unbedingt wohl. Er überließ es Aragorns hervorragenden Instinkten - obwohl der Waldläufer auch eher ein Kind der Freiheit war -, sich zu orientieren.

Am Tor standen zwei bis unter die Zähne bewaffnete Stadtwachen, die lange, gefährlich aussehende Hellebarden in den Händen trugen. Sie musterten die Neuankömmlinge mit routinierter Berufserfahrung. Einer von ihnen nickte unmerklich und gemeinsam traten sie vor und verstellte den Weg.

"Euer Begehr?", erkundigte sich der Größere von ihnen unfreundlich und entblößte verfaulte Zahnstummel. Legolas verzog leicht das Gesicht. Menschen nahmen es mit der Hygiene oftmals nicht so ernst, als dass er sie, metaphorisch gesehen, riechen konnte. Er hatte schon im Wald seine Kapuze aufgesetzt, obwohl es darunter sehr warm wurde. Wie verdächtig er wirkte, war ihm sehr wohl bewusst, aber er hatte keine Lust, sich angaffen zu lassen. Das Dorf war weit von jeder elbischen Siedlung entfernt und er würde höchstwahrscheinlich auffallen wie ein bunter Hund, wie es die Menschen so schön formulierten.

Alann drängte ihre Stute nach vorn.

"Terek", rief sie in derselben, breiten Mundart, in der die Wache gesprochen hatte. "Seit wann behandelt man seine Freunde so grob? Und vor allem die Freunde seiner Freunde!"

Der Wächter starrte sie einen Moment verdutzt an, dann schenkte er ihr ein breites Lächeln.

"Schau an, das Vögelchen kommt in sein Nest geflattert! Was gibt es Neues aus der Stadt, Alann?"

"Dies und das. Viel Gemurmel über verstärkte Orkaktivitäten im Südosten. Also das Übliche!" Als die Wachen das Tor freigaben, warf sie ihnen jeweils eine Münze zu. "Ich danke Euch, Jungs. Man sieht sich!"

Das Dorf war, im Vergleich zu anderen Menschenbehausungen, klein und relativ sauber. Kleine, strohgedeckte Hütten wechselten ab mit größeren Steinhäusern. Die Menschen, die ihnen entgegenkamen, wirkten glücklich und wohlgenährt. Kinder spielten mitten auf der Strasse und wichen ehrfurchtsvoll zurück, als sie der Fremden gewahr wurden. Ungefähr in der Mitte der Hauptstrasse lag der "Hahnentritt", ein doppelstöckiges, gepflegtes Gebäude, aus dem nun, zu Beginn des Abends, die ersten fröhlichen Stimmen erklangen.

Der Wirt bemerkte ihre Ankunft und eilte sofort aus dem Haus, sich die schwieligen Hände an einer leidlich sauberen Schürze abwischend. Sein ehrliches, rotes Gesicht strahlte vor Freude.

"Oh, Gäste haben wir nicht allzu oft!", rief er und zu Legolas Verwunderung begrüßte auch er Alann mit ausgesuchter Höflichkeit. "Herrin, es ist schön, Euch einmal wieder hier zu sehen. Ihr werdet sehnsüchtig erwartet, denke ich!"

"Wir brauchen zwei Zimmer, Herr Wirt, für eine Nacht. Für uns Herren und die Dame. Habt Ihr einen guten Stall, in dem man für unsere Pferde sorgen kann?" Aragorn nahm das Heft in die Hand. Der Wirt winkte einen schlaksigen Burschen herbei, der ihnen die Pferde abnahm. Während der Gastwirt ins Haus zurückging, um alles vorzubereiten, folgten sie dem Jungen in den Stall, wo sie absattelten.

Legolas fragte sich, während er sein Pferd striegelte und es abhalfterte, woher alle Welt in diesem Dorf die kleine Diebin kannte. Und wer erwartete sie? Komplizen? Ein Ehemann? Er nahm sich vor, sie im Auge zu behalten. Sollte in diesem verschlafenen Ort die Falle zuschnappen, die sie ihnen stellte? Für Geld würde sie vermutliches alles tun, wenn sie schon zu Waffengewalt dafür griff. Man durfte ihr nicht trauen und Legolas vermutete stark, dass Aragorn auf dem besten Weg war, auf die Betrügerin hereinzufallen. Das würde er nicht zulassen.

***

Er hatte Recht gehabt. Es musste gegen Mitternacht sein, als Legolas im Nebenraum leise Geräusche hörte. Schritte huschten durch das Zimmer, dann klappte die Tür und die Bodendielen des Flurs knarrten leise. Leise erhob sich Legolas von dem Bett, auf dem er für einige Stunden geruht hatte, ohne wirklich zu schlafen. Aragorn neben ihm lag in tiefem Schlaf. Ihn als Mensch nahm eine anstrengende Reise eher mit, auch wenn der Waldläufer außergewöhnlich zäh und ausdauernd war. Deswegen nutzte er jede Gelegenheit, Kräfte zusammeln. Legolas hatte das nicht nötig. Und deswegen machte er sich an die Verfolgung von Alann.

In der Schankstube war noch eine Menge los und die Szene, die sich ihm bot, erinnerte ihn prekär an seine erste, unangenehme Begegnung mit der Diebin, die sich gerade den Weg zum Ausgang freikämpfte. Er folgte ihr mit einigem Abstand und trat hinaus die die kühle Nacht, die von einem bleiche Mond beschienen wurde. Sie lief die Strasse hinunter in Richtung des Tors, ein Bündel geschultert, das er schon auf dem Rücken ihres Pferdes beobachtet hatte. Ihre vorsichtigen Bewegungen und die Tatsche, dass sie sich im Schatten der Häuser hielt, ließen erkennen, dass sie nicht gesehen werden wollte. Das verstärkte seinen Verdacht gegen sie.

Das Tor war natürlich verschlossen, aber aus dem Häuschen, in dem die Wächter lebten, drang lautes Schnarchen. Es sah ganz so aus, als hätten Terek und sein Freund das erhaltene Geld bereits in wirksamen Alkohol umgesetzt. Keiner der beiden erwachte, als Alann die kleine Tür innerhalb des Tores öffnete und hinausschlüpfte. Legolas folgte, doch er ließ einen großen Abstand zwischen ihnen, da er nicht wusste, wie gut ihre elbischen Instinkte ausgeprägt waren. Sie umrundete das Dorf und bewegte sich in Richtung des Waldes, der dahinter lag, ein dunkler, dichter Forst. Legolas hielt die Hand an seinem Schwert, denn er wusste nicht, was sich darin verbarg, welches Geheimnis die junge Frau hineintrieb.

Ihre Spur in der Düsternis zu verfolgen, die von dem bleichen Mond zu unvollständig beschienen wurde, war nicht einfach. Sie huschte mit flinkem Schritt zwischen Bäumen und Büschen hindurch und machte dabei nicht den geringsten Lärm. Sie war wohl eine außergewöhnlich geschickte Diebin. Minuten vergingen, in denen Legolas, ergriffen von höchster Anspannung, Alanns Spur folgte. Irgendwann lichtete sich der Wald und in Erwartung, eine Lichtung vorzufinden, eilte der Elb vorwärts. Doch es war keine Lichtung, die sich vor seinen Augen im Herzen des Waldes auftat, sondern ein kleiner Teich.

Er war nicht groß und zum Teil mit Seerosen bedeckt, aber er musste tief sein. Denn in der Mitte des Gewässers schwamm eine Gestalt, deren weißer Körper unter der Wasseroberfläche nur verschwommen zu erkennen war. Es dauerte einige Momente, bis Legolas begriff, wen er da wie hypnotisiert anstarrte. Und er war nicht gerade begeistert über diesen Umstand. Alann schwamm einige Runden und kehrte dann zum Ufer zurück. Legolas versuchte den Blick abzuwenden. Es gelang nicht ganz. Halb bestürzt, halb fasziniert beobachtete er, wie sie sich ein sauberes Untergewand anzog und ihm dabei ihren Rücken zuwandte. Die zarte Haut war von einem Geflecht wirrer Narben entstellt, die Zeugnis von den Strafen lieferte, die sie für ihre Verbrechen hatte erdulden müssen.

Das unwillkommene Mitgefühl verdrängend, das sich seiner bemächtigte, beobachtete er, wie sich Alann von einem Dieb in eine Frau verwandelte. Mit Hilfe eines Dolches schnitt sie ihr frisch gewaschenes Haar auf Schulterlänge und flocht es in einen ordentlichen Zopf. In ihrem Bündel hatten sich ein helles Leinenkleid und feiner Umhang befunden, die sie anzog. Nach einer kleinen Weile war Alann nicht mehr von einer gewöhnlichen Bürgersfrau zu unterscheiden. Legolas Vermutung, dass sie einen Mann besuchen würde, schien sich zu bewahrheiten.

"Kommt heraus aus Eurem Versteck!", rief Alann plötzlich. Legolas erstarrte, doch er verharrte an seinem Platz. Vielleicht war es nicht er, den sie entdeckt hatte. Doch ihr nächster Satz zerstörte diese Hoffnung. "Herr Legolas, ich weiß, das Ihr es seid!" Elben stieg selten oder nie die Schamröte ins Gesicht, aber er war trotzdem heilfroh, dass er von Schatten umgeben war, als er seinen Beobachtungsposten hinter einem alten Baum verließ und zum Ufer hinunterging. Alann wartete mit verschränkten Armen und einem Gesichtsausdruck, der nichts Gutes verhieß. Legolas richtete sich zu seiner vollen Größe auf und blickte streng auf sie hinunter. Er hatte ein Recht hier zu sein. Schließlich plante sie - wahrscheinlich - ein Verbrechen. Nun ja, das hatte er zumindest gedacht, als sie das Dorf verließ. "Ich dachte nicht, dass es Eure Art ist, indiskret zu sein!", eröffnete Alann die Unterhaltung und Legolas musste sich eingestehen, dass er sie nun, da sie wirklich wütend war, ungern als seine Gegnerin wissen würde.

Ihre dunklen Augen blitzten angriffslustig und ihr Fuß tappte auf dem Boden. Er kam sich vor wie ein Kind, das man beim Griff in den Honigtopf in flagranti erwischt hatte. Zwar war es ein Jahrtausend und ein paar Jahrhundert her, dass er wirklich ein Kind gewesen war, aber das Gefühl war sehr vertraut.

"Wenn man eine solche Profession ausübt wie Ihr, müsst Ihr Euch nicht wundern, wenn man Euch beschattet", gab er ihr abweisend zur Antwort. "Dass Ihr Euch fortgeschlichen habt, musste nicht unbedingt bedeuten, dass Ihr Euer seit langem überfälliges Bad nachholen wolltet."

"Ihr hättet mich fragen können!", fauchte sie. "Oder war das ebenso unter Eurer Würde wie meine bloße Gesellschaft?"

"Ich denke nicht, dass ich mich vor Euch rechtfertigen muss!", entgegnete er. Alann fuhr mit einem frustrierten Seufzer herum und ging davon, weiter in den Wald hinein. Ihr Umhang blähte hinter ihr wie eine helle Schwinge eines Vogels in den Schatten. Legolas wusste für eine Sekunde nicht, was er tun sollte, dann machte er sich wieder an die Verfolgung. Dieses Mal beschloss er, nachzufragen. "Wo wollt Ihr hin?"

"Ich wüsste nicht, warum ich mich vor Euch rechtfertigen sollte!" Sie legte eine besondere Betonung in jedes einzelne Wort, während sie mit festen Schritten ihren Weg fand, mit einer Sicherheit, die erahnen ließ, dass sie ihn schon sehr oft gegangen war. "Aber gut, sei es drum. Dieses Kleid habe ich gestohlen, den Mantel ebenso. Oh, ja, und den Inhalt meines Beutels sowieso, den habe ich reichen Städtern abgeknöpft, die es sowieso nicht gebrauchen konnten." Nun war sie wirklich in Rage und stürzte sich in einen Monolog, den er in dieser Länge noch nie von ihr gehört hatte. "Seit wir aufgebrochen sind, werft Ihr mir Steine in den Weg. Ich könnte verstehen, dass es geschieht, weil Ihr mir Eure Verwundung ankreidet! Aber in Wirklichkeit bin ich Euch nicht nobel und gut genug! Ja, ich bin ein Bastard und eine Diebin, kein strahlender Elb oder ein edelmütiger Mensch. Ich bin ganz gewöhnlich, aber ich habe meinen Stolz. Ihr kränkt mich mit allem, was Ihr tut und kommt gar nicht auf den Gedanken, das, was ich tue, ohne Vorurteile zu betrachten. Das ist das Problem der Elben. Ihre Zeit ist vorüber. Arroganz hat sie verblendet gegen die Notwendigkeiten des Lebens, nämlich Vertrauen, Mitgefühl und Toleranz! Ihr wollt mir weismachen, dass es der Mensch in mir ist, den es zu verachten gilt. Aber es ist der Elb, für den ich mich schämen sollte."

***

Kleine Lichter glommen in der Mitte des Waldes und als sie näher kamen, entpuppten sie sich als die Fenster eines kleinen Hauses. Das Ziel, das einladend in der Herbstnacht lag. Legolas starrte schon eine ganze Zeit lang in Alanns Nacken und fragte sich, was sie gerade dachte. Nach ihrem heftigen Ausbruch schwieg sie, wie es auch sonst ihre Art war. Er hatte sie nie als Frau der vielen Worte erlebt und dass sie so gegen ihre Natur verstoßen hatte, überzeugte ihn von dem Aufruhr, der in ihr herrschen musste. Trotz ihres Zorns hatte er mit der Begründung, sie nicht unbewaffnet den Wald durchqueren lassen zu wollen, darauf bestanden, sie zu begleiten. Das unangenehme Schweigen störte ihn nicht weiter, denn er war selbst nachdenklich.

Er war sich nicht sicher, was er von den Ereignissen halten sollte, und das beunruhigte ihn. In all ihren beleidigenden Worten über seine Rasse hatte er einen Funken Wahrheit erkannt. Sie hatte Recht, die Zeit der Elben war vorüber. Sie waren der schneller und brutaler werdenden Welt nicht mehr gewachsen, versteckte sich in einem ätherischen Kosmos, ohne sich jemals der Realität vollkommen zu öffnen. Äonen liefen an ihnen vorbei, das Leben und Sterben von Königen, das Aufsteigen und Fallen von Herrschern, Kriege und Perioden des Friedens. Sie lebten Tausende von Jahren, ohne wirklich zu leben. Ärgerlich war, dass er sich diese Gedanken von einer nichtsnutzigen Diebin bestätigen lassen musste.

Um das Haus herum gab es Spuren von Leben, gestapeltes Holz unter einem kleinen Verschlag, ein Gatter mit Hühnern, die nun in tiefem Schlaf lagen, ein kleines Beet, in dem Gemüse spross. Hinter den hell erleuchteten Fenstern waren die Schatten von zwei Personen auszumachen, die sich gegenüber saßen. Alann blieb vor der Tür stehen, klopfte aber nicht. Sie drehte sich zu Legolas um, ihre Gesicht verschlossen, undeutbar.

"Ich denke, es ist schwer für Euch, mir zu trauen, da Ihr meine Motive nicht kennt. Hier findet Ihr Antworten. Eigentlich gehen sie Euch nichts an, aber im Dienste unserer Zusammenarbeit - ." Sie beendete den Satz nicht, sondern hob die Hand. Ihre Fingerknöchel schlugen auf das grobe Holz. Im Inneren der Hütte verstummte ein leises Gespräch, dann wurden Schritte laut.

"Wer ist dort?", krächzte eine Frauenstimme. "Wenn Ihr Obdach sucht, seid Ihr umsonst hergekommen."

"Talya, ich bin es, Alann! Ich habe einen Freund mitgebracht."

Die Tür öffnete sich mit einem Quietschen, das nach Öl schrie und Legolas blickte in das mit von einem harten Leben sprechenden Runzeln durchfurchte Gesicht einer alten Frau, die ihn ihrerseits misstrauisch musterte. Mit einem unverständlichen Murmeln, das wohl einen Einladung einzutreten darstellte, zog sie sich von der Tür zurück und Alann trat mit der Selbstverständlichkeit einer Frau, die nach Hause kam, ein. Legolas folgte ihr mit mehr Zurückhaltung. Das Innere der Hütte war sparsam eingerichtet, ein großer Ofen, einige Schränke und ein Tisch, an dem ein alter Mann saß und eine Tasse Tee trank. Er blickte kurz auf, versank dann aber wieder in lethargischem Schweigen. Eine Leiter führte in die erste Etage, wo sich vermutlich die Betten des Ehepaars befanden. Eine weitere Tür führte nach hinten. Sie war verschlossen.

"Habt Euch lang nicht blicken lassen", murmelte die alte Frau und schleppte einen Kessel mit heißem Wasser zum Tisch, wo sie ungefragt zwei weitere Tassen mit einem süß duftenden Tee füllte. "Sie hat schon nach Euch gefragt. Schwierig, Ihr weiszumachen, dass Ihr eine verheiratete Frau seid. Dann hättet Ihr ja ein Haus und könntet sie dort wohnen lassen." Während die alte Frau so dahinplauderte, versenkte sich Alann in ihren Tee. Legolas musste kein Gedankenleser sein, um zu erkennen, dass ihr die Schelte unangenehm war. "Na ja, ich frage ja nicht, wie Ihr Euer Geld verdient." Talya nahm jetzt ihn unter die Lupe. "Und das ist garantiert nicht Euer Ehemann, oder? Dafür ist er zu aalglatt." Alann verschluckte sich fast und stellte ihre Tasse hastig beiseite. Legolas schwankte zwischen Empörung für die offenkundige Beleidigung seiner Person und der Tatsache, dass seine Begleiterin gegen ein Lachen kämpfte. Sie nestelte an ihrem Gürtel herum und holte die Börse hervor. Mit einem Klimpern landete der Lederbeutel in der runzligen Hand Talyas, deren Finger sich sofort um den Schatz schlossen. Nun lächelte sie, kein verächtliches oder habgieriges Lächeln. Sie war keine bösartige Frau, nur alt und vielleicht verbittert. "Aber die alten Götter mögen Euch segnen, Kind, dass Ihr so gut für uns sorgt. Es fehlt hier an nichts."

Die Tür zum Hinterzimmer öffnete sich. Herein trat eine wunderschöne, große Frau, deren langes, dunkelbraunes Haar bis zu ihren Hüften herabfiel. Sie war einfach gekleidet, doch die königliche Ruhe, die sie ausstrahlte, war dadurch nicht zu verbergen. Legolas erkannte sie sofort und die Ahnung, die ihn einige Tage zuvor befallen hatte, bestätigte sich nun. Aber diese Frau, die er für viele Jahre seines Lebens gekannt hatte, war nicht mehr dieselbe. Ihre Augen, von derselben Farbe wie die ihrer Tochter, blickten trübe und verwirrt und ihr schönes Gesicht spiegelte namenlose Verwirrung.

"Ich meine, Stimmen gehört zu haben", sagte die Elbe träumerisch. Ihr unsteter Blick irrte herum und ruhte schließlich auf Alann, die zu ihr trat und ihre Hand nahm. Da lächelte die Elbin strahlend. "Oh, das ist mein kleines Mädchen. Du hast mich lange alleingelassen."

"Es tut mir leid, Mutter", sagte Alann und schenkte ihr ein gequältes Lächeln. "Ich war mit meinem Mann auf Reisen in die Nähe des Nebelgebirges. Das hat einige Zeit gedauert." Legolas begriff. Alles deutete darauf hin, dass die Elbin ihren Verstand verloren hatte und nun bei dem Ehepaar in Pflege lebte. Ihre Tochter verdiente unterdes ihrer aller Lebensunterhalt durch ihre Diebstähle, gaukelte dem verwirrten Geist der Mutter jedoch ein glückliches Leben vor. Alann blieb einige sprachlose Momente vor ihrer Mutter stehen und sagte dann leise zu ihr: "Mutter, ich habe einen Freund mitgebracht. Es ist Legolas, Sohn Thranduils. Du erinnerst Dich an ihn?" Und zu Legolas: "Das ist meine Mutter, Tylandriel von den Nordwäldern."

"Ich weiß", sagte Legolas leise und trat näher. Ihm war ein wenig unwohl zumute, als Alanns Mutter ihn musterte. Es dauert eine geraume Weile, bis sich ihre Augen auf ihn fokussierten. Er erwartete, dass sie sich an all das erinnerte, was sie Jahrhunderte lang mit seiner Familie verbunden hatte, doch das verschwommene Bild, das sie von ihrem Leben hatte, ließ es nicht zu.

"Ich kenne Euch, ja, das glaube ich zumindest." Tylandriel runzelte die Stirn. Äußerlich wirkte sie wie eine menschliche Frau Mitte 30, doch in Wirklichkeit war sie uralt. Irgendein Ereignis ihres langen Lebens musste sie derart aus der Bahn geworfen haben, dass sie ihre geistige Gesundheit verlor und Legolas konnte sich auch vorstellen, was es war. Doch auch darauf konnte sie sich nicht besinnen. In kindlich wirkender Geste legte sie den Kopf auf die Seite und drehte sich dann um. "Ich bin müde", sagte sie und lächelte Alann abwesend an. "Komm einmal wieder zu Besuch, mein Kind."

Die Tür klappte und sie war fort. Der Raum hatte mit einem Mal viel seiner Ausstrahlung verloren. Zurück blieb bedrücktes Schweigen. Talya fand als erste wieder Worte.

"Macht Euch nichts draus, Kind, für sie ist Euer letzter Besuch nicht so lange her, wie er wirklich war." Geschäftig huschte sie umher, ordnete hier und dort einen Gegenstand. Doch ihr Blick war aufmerksam. "Ich nehme an, Ihr werdet jetzt wieder gehen?"

"Ja." Alann blieb einsilbig. "Ich denke, dass ich in drei oder vier Wochen wieder vorbeikommen werde. Das Geld reicht bis dahin, nehme ich an?"

"Aber ja, natürlich. Um das Geld macht Euch keine Sorgen." Talya wuselte zur Tür und öffnete sie. Legolas war froh, wieder ins Freie zu kommen. Das merkwürdige Gefühl der Beklemmung, das sich in Tylandriels Gegenwart in ihm breit gemacht hatte, ließ sich einfach nicht abschütteln. Ebenso wenig wie die Erinnerungen an die Frau, die sie früher gewesen war. Alann trat neben ihm heraus und als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, seufzte sie leise.

"Ihr wolltet mich unbedingt begleiten", sagte sie, doch in ihrer Stimme klang kein Vorwurf mit. Im Gegenteil, sie wirkte bemerkenswert ruhig. "Mir hätte klar sein müssen, dass Ihr Euch an sie erinnert."

"Ich hätte sogar erahnen müssen, dass Ihr ihre Tochter seid. Es besteht eine große Ähnlichkeit zwischen Euch. Auch ihren Kampfstil habe ich bei Euch wiedergesehen." Er blieb an ihrer Seite, während sie sich in Richtung des Dorfes aufmachten. Dieses Mal würde er sich nicht durch ihr Schweigen abspeisen lassen. "Sie war die Anführerin der Leibgarde meiner Mutter. Bis vor 25 Jahren. Dann kam es zu einem Zwischenfall."

"Falls Ihr ein uneheliches Kind von einem Menschen einen Zwischenfall nennt, dann muss es wohl so gewesen sein." Alann wollte kein Mitleid erregen. Sie erzählte einfach, von den Erinnerungen gefangen. "Ich stand an ihrer Seite, als man sie vor Euren Vater brachte. Der Mann, den ich als meinen Elbenvater kannte, hatte sich einige Jahre nach meiner Geburt endgültig von meiner Mutter abgewandt und forderte ihre Verstoßung. Ich war noch sehr klein und hatte keine Angst, weil ich noch nicht verstand, worum es ging. Euer Vater sprach das Urteil über Tylandriel. Und Ihr standet die ganze Zeit bewegungslos an seiner Seite. Damals schon verunsicherte mich Eure Kälte und das ist bis heute so geblieben. Zu diesem Zeitpunkt verstand ich wohl zu ersten Mal, das ich nicht so bin wie sie - wie Ihr." Sie lächelte wieder dieses Lächeln, das für einen Moment ihr Innerstes nach außen kehrte und von ihren wahren Empfindungen sprach. "Wir gingen fort, weit fort, lebten überall und nirgends. Sie brachte mir bei zu kämpfen und sorgte für mich, so gut es ging. Einige Zeit lebten wir in einer Elbenkolonie, doch dort hielt es sie nicht länger. Ihre Wut auf ihr eigenes Volk war zu groß. Eines Tages vernebelte sich ihr Verstand und plötzlich ich diejenige, die sich sorgen musste. Zum Glück fand sie bei Talya und ihrem Mann ein Zuhause. Ich kümmere mich seitdem um sie. Nicht auf die beste Art, aber sie garantiert ihr Überleben."

Legolas schwieg. Er wusste wenig zu sagen über jene tragische, aber nüchtern vorgetragene Geschichte, deren tragischer Mittelpunkt eine Episode in seinem Leben bildete, die er als wenig bedeutsam betrachtet hatte.

"In der Stadt habt Ihr mich erkannt und habt mir dennoch das Leben gerettet. Wart Ihr nicht wütend?", erkundigte er sich aus der Notwendigkeit, einfach etwas zu sagen. Alann lachte leise.

"Ich pflege niemanden für das zu bestrafen, was er ist. Nur dafür, was er tut. Ich hege keinen Groll gegen die Elben im Allgemeinen. Vielleicht gegen meinen Vater, aber auch er ist nur Kind seiner Erziehung." Sie schüttelte den Kopf, so als ginge sie diese Argumentation im Geiste noch einmal durch und wundere sich selbst darüber. Dann hob sie das Kinn und blickte ihn durchdringend an. "Nun wisst Ihr mehr über mich als ich jemals über Euch in Erfahrung bringen werde. Nutzt es weise."

***

Der Morgen versprach einen herrlichen, klaren Herbsttag. Es schien, als wäre mit den Blättern der Bäume über Nacht eine wunderbare Verwandlung geschehen. Leuchtend präsentierten sie ihre Farben und schienen damit Mutter Erde in höchsten Tönen zu loben.

Legolas war merkwürdig leicht ums Herz. Sie waren im Morgengrauen in östlicher Richtung aufgebrochen, mit den guten Wünschen des Wirts des "Hahnentritt" und frischen Proviant versehen. Vor ihnen lag eine sanft gewellte Hügellandschaft, leicht bewaldet und vor Seitenarmen des Flusses überzogen, den sie auf einer alte Steinbrücke überquert hatten. Die Berge am Horizont wirkten noch zu fern, um mit ihrer grauen Einöde den Zauber der blühenden Natur vertreiben zu können. Alann hatte einen Ritt von vier Tagen vorausgesagt, dann noch einmal zwei über den Pass, der ins Tal des Eisfelsens führte.

Die Halbelbin ritt an der Spitze, wieder in ihre Alltagskleidung gewandet. Nur ihr frisch gewaschenes Haar sprach noch von den Vorfällen der vergangenen Nacht. Sie wirkte nicht müde, obwohl sie wenig geschlafen hatte, im Gegenteil. Sie sah so befreit aus wie Legolas sich fühlte. Ihren Grund konnte er sich vorstellen, der seine war ihm schleierhaft. Im Licht der Sonne bemerkte er, dass ihr Haar denselben kastanienfarbenen Ton hatte wie das ihrer Mutter, doch es waren auch dunklere und weizenblonde Strähnen zu erkennen. Der Vergleich zum Laub der Bäume lag auf der Hand, doch Legolas verscheuchte den Gedanken. Wie sentimental.

Aragorn trieb sein Pferd an Legolas Seite. Die Eigenart der Menschen war ihre Neugierde und der Waldläufer wurde dieser wieder einmal gerecht, als er sich leise erkundigte:

"Und? Hast Du neue Erkenntnisse gewonnen?"

"Ich weiß nicht, was Du meinst." Legolas beschloss, Stillschweigen über die Dinge zu bewahren, die er erfahren hatte.

Aragorn schmunzelte.

"Wie lange kennen wir uns? Drei Jahre? Und in dieser Zeit ist es Dir nie gelungen, mir etwas vorzumachen." Er blickte zu ihrer Führerin hinüber. "Du bist ihr gestern Nacht gefolgt."

"Und habe erkannt, dass ich mich in gewissen Punkten vielleicht geirrt habe. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe." Sich diese Worte abzuringen, kostete Legolas einige Überwindung. Er gab nicht gerne zu, einen Fehler begangen zu haben. Aber man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben. Vielleicht gab es noch einiges mehr, das sie verbarg. Sein Blick fiel auf die in den Himmel strebenden Berge. Dort wartete eine neue Bewährungsprobe für sie alle.

Ja, liebe Leser, ich weiß, diese Episode war ein bisschen gefühlslastig, aber für die Kommenden verspreche ich Euch Zwerge, Dunkelelfen, Blut, Krieg und dunkle Geheimnisse! Bleibt dabei! Und reviewt mir, bitte! Eure Demetra