Teil 4 - Über den Pass
"Und noch einmal: eins, zwei, drei, Parade!" Zum hundertsten Mal sprach Aragorn den Satz, der ihn durch seine ganze Jugend verfolgt hatte, doch er wurde dessen nicht müde. Nun kannte er die Befriedigung des Lehrmeisters, der sich eines begabten Zöglings angenommen hatte. Alanns Arme und Hände zitterten, doch sie hielt den Schwertknauf umklammert, als hinge ihr Leben davon ab. Was wohl wahrscheinlich auch zutraf. Sie wiederholte die Bewegungsfolge, die Aragorn ihr an diesem Abend gezeigt hatte, mit eiserner Disziplin. Die Klingen prallten mit lautem Geräusch aufeinander. Das Schwert, das er in Heyd ohne ihr Wissen für sie erstanden hatte, leistete ihr gute Dienste. Es war vielleicht eine gebrauchte Waffe, aber in einwandfreiem Zustand. Eie gute Übung für einen Anfänger und eine wirksame Verteidigung im Fall der Fälle. "Gut. Das wird immer besser! Genug jetzt. Wir müssen gleich weiterreiten."
Außerdem dämmerte es bereits und der blaue Himmel verfärbte sich am Rand bereits in ein sattes Violett und dahinter, nahe dem Horizont, war bereits das Schwarz der Nacht zu erahnen. Sie hatten nur Halt gemacht, um etwas zu essen und ihre vom Reiten steifen Gelenke ein wenig auszuschütteln. Kein Feuer, kein Lager. Die Pausen, in denen sich Aragorn und Alan zum Schlafen legten, waren knapp gemessen. Seit drei Tagen wiederholte sich derselbe Ablauf und mit der Routine kam die Gewöhnung. Doch ein Feind schlich sich ein, ohne dass sie etwas dagegen tun konnten. Die Erschöpfung. Aragorn blickte zu Legolas hinüber.
Der Elb stand auf einem kleinen Hügel und blickte hinaus in das weite Land. Dies tat er schon eine geraume Weile und obwohl er keine Sorge erkennen ließ, ahnte Aragorn, dass er keine guten Nachrichten erfahren würde. In den vergangenen Tagen und vor allem in den Nächten hatten sie ein gutes Stück des Weges gemeistert und die Berge lagen nun fast zum Greifen nahe vor ihnen. Gräser und Bäume wurden seltener, ersetzt von halbhohem, borstigem Gras, das sich im Takt des Windes neigte. Die Hufe der Pferde trafen öfters auf bloßen Stein und es schien, als ob die Kälte des Winters von den schneebedeckten Kuppen der Berge mit langen, klammen Finger nach ihnen greifen würde.
"Sie sind uns schon seit Heyd auf der Spur. Aber sie halten einen großen Abstand. Vielleicht hat Ihnen ihre erste Niederlage gereicht", vermutete Alann und verstaute ihr Schwert in der Scheide am Sattel ihres Pferdes. Während sie der Stute über das seidenweiche Maul strich, blickte sie über die Schulter zu Aragorn herüber. "Sie sind garantiert in der Übermacht."
"Ich frage mich ebenfalls, warum sie derart vorsichtig sind. Vielleicht, weil dieser Landstrich für uns zu gut einsehbar ist. Aber eventuell haben sie auch ganz andere Gründe." Aragorn runzelte sorgenvoll die Stirn und strich sich durch den Kinnbart. "Wie, sagtet Ihr, ist dieses Tal beschaffen? Gibt es mehrere Ein - und Ausgänge?"
Alann schüttelte den Kopf.
"Lediglich den Pass der Witwen, über den auch wir gehen würden. Sein Name stammt aus den Zeiten, in denen es Brauch war, die Toten aus dem Tal hier in dieser Ebene zu begraben. Das ist aber schon ein Zeitalter her. Es gibt eine größere Stadt im Tal, sowie zwei kleiner Dörfer, die an Hochweiden gelegen sind und für die Lebensmittelversorgung zuständig sind. Sie liegen im südöstlichen Teil des Tals. Weiter im Norden, etwas einen halben Tagesritt entfernt, liegt die Höhle der Zwerge. Dort war ich bisher noch nicht. Und dann ist da noch der Eisfelsen."
"Lässt dieser Name vermuten, dass wir einen Wintereinbruch zu erwarten haben?" Insgeheim notierte sich der Waldläufer in Gedanken die taktisch wichtigen Einzelheiten. Zum Glück war seine Beobachterin durch ihren Lebenswandel aufmerksam genug, um ihnen den Vorteil der Information zu bescheren.
"Nein, obwohl die ganze Gegend äußerst karg ist und eine eher unfreundliche Witterung besitzt. Laut der Sagen, die im Tal erzählt werden, gab es ein Schloss dort, wo jetzt der Felsen ist. Es wurde jedoch vor tausend Jahren verlassen. Ein Gletscher und mehrere Lawinen begruben es unter sich. Heute gibt es dort nur noch Berge von Schutt und bizarre Steinfiguren, von denen niemand weiß, welche Bedeutung sie haben."
Aragorn schwieg eine ganze Weile. Er beobachtete, wie Legolas seinen Posten aufgab und sich auf den Rückweg machte. Er gab Alann ein Zeichen. Als der Elb bei ihnen war, saßen sie beide bereits auf den Pferden. Legolas ließ nicht lange auf sich warten und bald schon jagten sie in die aufkommende Nacht hinein. Sie blieben dicht beieinander, so dass sich die Leiber der Pferde fast berührten. So speicherten sie die Wärme, die von den Tieren aufstieg, denn die Nacht würde lang werden. Sternenerleuchtet und kalt. Es wurde wenig gesprochen, doch irgendwann brach Legolas sein langes Schweigen.
"Es sind zwei Dutzend Reiter, die uns im Abstand von acht Meilen folgen. Sie verringern diesen nicht, was bedeutet, dass wir das Tal sicher erreichen werden, wenn wir dieses Tempo beibehalten."
"Ihr dürft den Pass nicht vergessen", warf Alann an. "Je nachdem, in welchem Zustand er sich befindet, könnten wir dort wertvolle Zeit verlieren."
Aragorn blickte in die bedrückte Miene der jungen Frau. Sie schien wohl gerade zu begreifen, auf welches Wagnis sie sich eingelassen hatte. Mit zwei Abenteurern zu reisen war kein einfacher Auftrag. Er würde es voll und ganz verstehen, wenn sie ihn du seinen Freund ins Tal führte und dann umkehrte. Doch möglicherweise bekam sie dazu nicht mehr die Gelegenheit.
"Wir müssen davon ausgehen, dass sie, wenn wir den Pass überschritten haben, diesen Weg sperren und uns damit in der Falle haben. Was immer ihr Interesse an uns ist, es hängt mit Goran und seinem Dorf zusammen." Er sprach mehr zu sich als zu den anderen, doch er sah, dass Alann diesen Hinweis verstanden hatte. Mit der Empathie einer wahren Elbe lächelte sie ihm zu, doch hinter ihren selbstbewussten Worten verbarg sich ein leiser Unterton. Furcht. Grosse Furcht.
"Ich werde Euch zu Eurem Ziel führen, so wie wir es ausgemacht haben. Darauf mein Wort als ehrliche Diebin!"
Von Legolas kam ein Geräusch, das Aragorn fast als Lachen gedeutet hätte, wenn er nicht ganz genau gewusst hätte, dass der Elbenprinz so gut wie niemals lachte. Tief über den Sattel seines Hengstes gebeugt, stemmte sich Aragorn gegen den scharfen Wind, der von den Bergen zu ihnen herabwehte.
***
Die Nacht verging in einem Taumel von rasenden Hufen, vorbeifliegenden Schemen und der Monotonie des scharfen Windes. Die Präsenz ihres Gegners, der sie vorantrieb, war wie eine drohend erhobene Faust, die jeden Moment auf sie herniederfallen könnte. Sie konnten die Reiter weder hören noch sehen, doch allein ihre Anwesenheit genügte.
Der Morgen war grau, die Sonne schien sich nicht hinter den Wolken hervorzuwagen. Mit der Zeit wurde es drückend warm und als der Himmelskörper den Zenith erreichte, war Aragorn schweißgebadet. Alann schwankte hin und wieder bedenklich im Sattel, so dass sich Legolas mit seinem Pferd schließlich an ihre Seite setzte, um ein Auge auf sie zu haben. Auch die Pferde ließen sich nun, nach einem Gewaltritt von vier Tagen und Nächten, die Strapaze deutlich anmerken. Mit Schaum vor dem Mund und rollenden Augen folgten sie den führenden Bewegungen ihrer Reiter immer widerwilliger.
Mit dem Ärmel wischte sich Aragorn über die Stirn und kniff die Augen zusammen. Das seltsame Zwielicht erschien ihm wie ein böses Omen. Gemeinsam mit dem beißenden Wind schuf es eine Atmosphäre des Unwirklichen. Die Gefahr, in der sie schwebten, schien nun noch greibarer, präsenter als je zuvor. Er spähte zurück, doch alles, was er sah, war ein Streifen Grün in der Ferne. Sie hatten die letzten Büsche hinter sich gelassen und ritten über eine mit Steinen und niedrigen Bodenpflanzen bedeckte, merklich ansteigende Ebene. Erste Felsen schoben sich aus dem Untergrund, zwangen sie zu einem Slalom, der sie viel Zeit und Energie kostete.
Stunden dehnten sich zu Ewigkeiten. Doch irgendwann, ganz allmählich, verbreiterte sich der unsichtbare Pfad, dem sie unter Alanns Führung gefolgt hatten, zu einer breiten, ausgetretenen Lehmstrasse, die sich in Richtung der ersten steilen Hänge schlängelte. Aragorn schätzte, dass sie zu Pferd etwa zwei weitere Stunden benötigen würden, um in den Schutz der Berge zu gelangen. Die von Menschenhand geglättete Fläche - denn anders ließ sich die waagrechte Perfektion der Gegend um sie herum nicht erklären - war zunächst wenig auffällig, doch je weiter sie in vorstießen, desto häufiger ließen sich abseits des Weges runde, flache Gebilde ausmachen. Sie waren schwarz und irisierten im Licht.
Plötzlich scheute Alanns Stute, strauchelte und brach mit den Vorderbeinen ein. Mit für ihre Erschöpfung erstaunlicher Gewandtheit sprang die junge Frau ab, um nicht von dem fallenden Tierkörper erfasst zu werden. Sie traf auf dem Boden auf, rollte sich ab und kam dann taumelnd, aber unversehrt wieder auf die Füße. Aragorn saß ebenfalls ab und besah sich die Stute. Mit kundigen Händen tastete er die Vorderläufe ab, besah sich die Adern, die am Hals des Tieres dick hervortaten und den weiß schäumenden Schweiß, mit dem es über und über bedeckt war. Seine Entscheidung war eindeutig.
"Nicht mehr zu retten. Der rechte Vorderlauf ist gebrochen." Er verschwendete keine weiteren Worte, sondern zog sein Schwert. Mit einem Stoßgebet an die Mächte der Natur bat er um Vergebung für seine Tat. Er ehrte alles, das lebte. Und zu einem würdigen Leben gehörte ein ebensolches Sterben. Mit einem vielgeübten Stoss rammte er sein Schwert zwischen die Rippen der Stute und durchbohrte ihr Herz. Es dauerte nur noch Sekunden, dann wurde das Pferd ruhig. Sein rasselnder Atem verklang. Stille folgte. Aragorn blickte zu Alann, die geschockt aussah. Seltsam, dass Menschen in solcher kurzer Zeit eine derartig intensive Beziehung zu einem Tier aufbauen konnten. Er half, die wichtigsten von Alanns Besitztümern zu bergen und auf die verbleibenden Pferde zu schnallen. "Lasst Euren Proviant zurück. Dafür haben wir keinen Platz. Nehmt nur die Waffen, den Wasserschlauch und Euren Mantel."
"Aragorn!" Legolas warnende Stimme erklang. Der Elb wies auf eine Staubwolke hinter ihnen, die sich rasch näherte. "Sie holen auf." Er hielt Alann die Hand hin und mit seiner Hilfe schwang sie sich hinter ihm aufs Pferd. Da Elben sehr leicht waren, würde wohl Legolas Pferd eine doppelte Belastung eher verkraften als das Aragorns. Sie schien nicht gerade begeistert, sich an dem Elben festhalten zu müssen und auch dieser zeigte eine stoische Miene, die nichts als pure Duldung zeigte.
Sie ritten wieder los und ließen den toten Tierkörper zurück, ein weißer Fleck inmitten all der schwarzen. Es dauerte eine Weile, bis Aragorn erkannte, dass es sich bei den dunklen Platten, die auf den Feldern um sie herum lagen, um Grabsteine handelte. Alanns Geschichte von dem Pass der Witwen fiel ihm ein. Alles begann, einen Sinn zu machen. Sie durchquerten einen Ort der Toten. Eine bedrückende Erkenntnis. Von Minute zu Minute wurden ihre Pferde langsamer und die Staubwolke hinter ihnen größer. Grimmig überprüfte Aragorn seine Bewaffnung.
"Tut das nicht!", rief ihm Alann zu. "Keine Waffen an diesem Ort. Es ist uralte Tradition. Die Geistern dürfen nicht gestört werden."
"Die Ruhe der Toten in Ehre, aber ich werde mich verteidigen!" Er wollte erneut nach seinem Bogen greifen, doch da mischte sich Legolas ein. Der Elb wirkte nun sehr besorgt.
"Dies ist ein geheiligter Platz. Ich denke, dass wir Alanns Rat folgen sollten." Legolas blaue Augen suchten über dem Gräberfeld nach etwas, das nur er und Alann wahrnehmen konnten. "Uns wird nichts geschehen, wenn wir die Regeln dieses Ortes beachten."
Aragorn versuchte, sich seine Frustration nicht anmerken zu lassen. Was diese Elben immer zu wissen und zu erkennen glaubten, war für ihn als Menschen nicht selten absolut unbegreifbar. Zu allem Überfluss weigerte sich sein Pferd in diesem Moment, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Es stampfte, schnaubte und buckelte, was das ganze Können des Reiters abverlangte. Legolas blieb an seiner Seite. Gemeinsam blickten sie der Bedrohung entgegen, die näher und näher kam und die Grenzen des Friedhofs längst überschritten hatte. Schrille Stimmen stiegen in die laue Luft, Namen und Schlachtrufe erklangen. Die vermummten Reiter waren nahe. Schon konnte man ihre Umrisse in all dem Staub klar erkennen.
Dann, im Streicheln der Luft, hörte Aragorn etwas Seltsames. Ein Flüstern, ein Kichern, leise und sanft. Zuerst nur eine Stimme, die in einer Sprache zu reden begann, die er nicht verstand und die ihm doch seltsam vertraut schien. Dann ertönte eine neue Stimme, noch eine. Und noch eine. Der Chor der Stimmen schwoll an, glitt um ihn herum, schien ihn zu betasten und zu prüfen. Er sah an der Erstarrung, die seine Begleiter befallen hatte, dass sie dasselbe erlebten wie er. Er glaube nicht an Geister, hatte es nie getan. Das, was er fassen konnte, war für ihn von Wert. Doch das sanfte Streicheln der körperlosen Stimmen, die ihn einlullten, war verflucht real. Die ganze Situation hätte ihm eigentlich unheimlich sein sollen, doch er spürte nur freundliches Fragen und Neugierde. Hier drohte ihnen keine Gefahr.
Er sah, wie sich Legolas Lippen lautlos bewegten, so als halte dieser eine unhörbare Zwiesprache mit der unbekannten Macht. Ein seltenes Lächeln lag auf dem schönen Gesicht des Elben, der mit geschlossenen Augen im Sattel saß. Alanns Kopf war an Legolas Schulter gesunken, ein Bild, das in einer anderen Situation arg befremdend gewesen wäre. Doch nicht in diesem Moment. Da Pferd unter Aragorn beruhigte sich, seine hektische Atemfrequenz sank und fast war es, als hätte man dem Ross neue Kraft eingeimpft.
Mit einem Mal, veränderte sich der Ton der Stimmen, sie schwollen an, wie ein Schwarm Bienen, der einen Störenfried entdeckt hatte. Der Wind frischte auf und änderte seine Richtung, nahm auf dem Weg Staub und Steine mit sich, heulte bedrohlich. Fassungslos beobachtete Aragorn, wie eine Wand aus Schutt auf die schwarzen Reiter zuwehte und sie zudeckte. Einem Leichentuch gleich, nahm die Wolke ihm die Sicht auf das, was dahinter geschah. Doch die Schreie, die erst laut, doch dann immer dumpfer erklangen, erzählten ihm genug.
Dann war wieder Stille und dieses Mal sprach sie von Tod. Aragorn schüttelte sich den Widerhall der Stimmen aus dem Kopf. Sie waren verschwunden, hinterließen jedoch tief in ihm ein Gefühl der Verbrüderung. Sie hatten sie gerettet. Dort, wo noch kurz zuvor eine anstürmende Gruppe von Gegnern gewesen war, war rein gar nichts mehr. Keine Pferde, keine Kleidung oder Waffen. Nichts.
Legolas und Alann fuhren unterdessen auseinander wie von der Tarantel gestochen und blickten sich verwirrt an. Ihnen war nicht bewusst, in welchem Zustand sie sich befunden hatten und musterten sich so abschätzend wie immer. Alann tätschelte Legolas Pferd, das frisch und erholt zu tänzeln begann, geistesabwesend an der Flanke. Keiner sagte etwas, denn es war nicht nötig.
***
Zu Beginn der Dämmerung ritten sie in das Gebirge ein. Ein schmaler Pfad, gerade breit genug, dass ein schmaler Karren ihn hätte passieren können, schlängelte sich zwischen spitzen, schartigen Felsen hindurch, die zu beiden Seiten der Reisenden mehrere Meter aufragten. Es war kühl geworden und die Luft so klar, dass sie beim Atmen in den Lungen schmerzte. Der frische Mut, der sie nach dem Erscheinen der Geister befallen hatte, wich von Minute zu Minute. Eine dumpfe Lethargie machte sich breit, geschwängert von der Müdigkeit, die Aragorn empfand und die auch die beiden Elben zu beeinflussen. Legolas wirkt reizbar, und obwohl er nicht zu schlafen brauchte, musste er doch ihre Reise und die damit verbundenen Schwierigkeiten als drückende Bürde empfinden. Nur sprach er nicht über so etwas. Mit stoischer Ruhe ritt er voran.
Ab und zu hob er den Kopf, weil er etwas gehört haben mochte, doch es war nur der Schrei einer vereinzelten Krähe, die hoch über ihren Köpfen ihre letzte Runde vor der Nacht drehte. Immer wieder traten die Pferde kleine Haufen von Geröll los, das den Pfad hinunterfiel. Alanns Kopf fiel immer wieder nach vorn, doch mit Beharrlichkeit hielt sie sich wach und klammerte sich an Legolas Sattel fest. Aragorn fand es amüsant, mit welcher offenkundigen Abneigung sich die beiden Elfen begegneten, aber dennoch meinte er, dass sie sich seit jener Nacht in Heyd nicht mehr ganz so feindlich gesonnen waren. Ein großer Teil ihres Betragens entstand wahrscheinlich aus reiner Gewöhnung, den anderen nicht leiden zu können.
"Alann!", rief er zu ihr nach vorn, als sie wieder einmal kurz davor zu sein schien, vom Pferd zu rutschen. "Gibt es Eures Wissens nach eine Stelle, an der uns Reiter überholen könnten?"
Die Elbin zuckte aus dem Halbschlaf hoch und drehte sich zu ihm um.
"Wenn unsere Verfolger die Begegnung mit den Toten überlebt haben, dann können sie uns nur auf diesem einen Weg folgen. Wenn wir großes Glück haben, erwarten unsere Gegner im Tal, dass wir bereits tot sind und schicken uns keine Abordnung entgegen." Sie fuhr sich in erschöpfter Geste über ihre vor Müdigkeit zugeschwollenen Augen. "Aber ich bin kein Hellseher. Wir müssen uns auf alles gefasst machen."
"Ist es ratsam, in der Nacht weiterzureiten?", fragte er weiter.
"Wir sollten es tun. Die Strasse ist nicht gut und es wird eine finstere Nacht werden, aber wenn Ihr dicht hinter uns bleibt, wird Prinz Legoals uns wohl kaum in einen Abgrund leiten." Ein wenig ihres alten Humors schien zurückgekehrt zu sein, obwohl aus ihrem Gesicht klar abzulesen war, wie sehr sie sich eine Pause wünschte. Sie war eine derartige Beschwerlichkeit nicht gewöhnt, obwohl sie ein hartes Leben geführt haben musste. Aragorn fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es klug gewesen war, sie mitzunehmen. Zu ihrem eigenen Wohl. Aber er hatte auch das Glänzen in ihren Augen gesehen, als sie aus der Stadt aufgebrochen waren und als er ihr das Schwert geschenkt hatte. Sie hatte das Sehnen des Schönen Volkes in sich, das Weite und Schönheit suchte, das man nicht hinter Mauern einsperren konnte. Sie war eine gute Kämpferin, sie benötigte natürlich noch Übung, aber ihr Talent war unverkennbar. Ihre Instinkte und ihre Menschlichkeit bildeten den Boden, auf dem ihre Persönlichkeit wachsen würde.
In gewissen Dingen waren sie sich gleich. Beide kämpften sie mit ihrem Schicksal, dessen Erfüllung sie herbeisehnten und doch fürchteten. Alann war unter Elben wie ein Rubin unter Diamanten, hübsch anzusehen, doch nicht rein genug. Dennoch etwas Besonderes. Und er? Unter den Menschen war er von Geburt aus ein Herrscher, das Blut, das durch seine Adern floss, bestimmte ihn zu Großem. Doch er konnte diese Bürde nicht tragen. Wie konnte ein Erbe auf seinen Schultern ruhen, dessen Fluch seit Jahrtausenden in Bildern und Schriften festgehalten worden war? Ein Bild drängte sich ihm auf. Wie die glänzenden Türme Gondors im Morgenlicht glänzten, wie er die hohen Türen zur großen Halle der Könige aufstieß und hineinschritt. Der Herrscher der Menschen. An seiner Seite Arwen, der Abendstern, glänzend und wunderschön wie jenes Gestirn, das an freundlichen Abenden über ihn wachte. Aragorn lächelte hart. Eine schöne Gesellschaft bildeten sie drei. Ein stolzer Prinz, ein zweifelnder König und eine ehrenvolle Diebin.
In bittere Gedanken getaucht verging die Nacht. Sie machten einmal Rast in einer kleinen Höhle abseits des Weges, um etwas zu essen. Der Hufschlag hinter ihnen, den sie minütlich wahrzunehmen erwarteten, erklang nicht. Das Warten auf die Dinge, die über sie hereinzubrechen drohten, war zermürbender als Kälte, Hunger und Erschöpfung. Auch der neue Morgen brachte wenig Trost. Ein feiner Regen fiel aus tief hängenden Wolken, die sich um die Spitze der Berge schlossen wie die Scheide um ein Schwert. Die Kapuzen hochgeschlagen, richtete sich die ganze Aufmerksamkeit der Reiter auf ihre Pferde, die auf dem immer steiler ansteigenden Weg unsicherer wurden. Schlüpfrige Tritte versuchten sie so gut wie möglich zu umgehen, doch hin und wieder strauchelten die Tiere. Schrecksekunden folgten, in denen ein Sturz unumgänglich schein. Doch sie hatten Glück, soviel wie man es in ihrer Situation nur haben konnten. Irgendwann gegen Mittag meldete sich Alann zu Wort, die, eingeschlossen in einen Mantel der Erschöpfung, wie ein Spielzeug hinter Legolas auf dem Pferd hing. Sie wies auf eine Felsformation vor ihnen, die sie wiederzuerkennen schien. Mit heiserer Stimme verkündete sie:
"Wenn wir in diesem Tempo weiterreiten, sind wir heute Nacht auf der Spitze des Berges. Dann brauchen wir noch einmal ein paar Stunden, um den Abstieg ins Tal zu schaffen. Am Mittag dürften wir das erste Dorf erreichen."
Die Nachricht löste so etwas wie gedämpfte Freude unter ihnen aus. Jeder schien sich ab diesem Moment an den Gedanken zu klammern, dass sie nur noch einen Tag und eine Nacht benötigen würden, um ein erstes Ziel zu erreichen. Aragorn wünschte sich sehnlicher als ein warmes Feuer, vor dem er seine langen Beine ausstrecken und eine Pfeife rauchen konnte. Die Wünsche seiner Gefährten meinte er an ihren Gesichtern ablesen zu können. Alann wollte nur noch schlafen. Und Legolas wolle Alann loswerden, die sich an ihn klammerte wie eine Ertrinkende an eine Rettungsleine. Auf derart engem Raum mit seiner Feindin in spe zusammen zu sein, schien ihn nicht kalt zulassen. Auf welche Weise, das konnte Aragorn nur erahnen. Sein schwerer Kopf mochte ihm zwar den einen oder anderen Streich spielen, doch als Legolas schließlich seinen warmen Elbenumhang abnahm und ihn Alann nach hinten reichte, lächelte Aragorn in sich hinein. Was auch immer diese beiden verband, es war nicht mehr nur Feindschaft.
Auch die Nacht verschonte sie nicht vor dem Unbill des Wetters. Der Regen begann an Gewalt zu gewinnen und bald sah man keine drei Fuß mehr weit. Nebel stiegen auf und rankten sich zwischen den Felsen wie lebendiges, geisterblasses Efeu.
"Wenn der Nebel aufsteigt, dann greifen die unterirdischen Mächte nach den Lebenden", sagte Legolas plötzlich. "Es wird kein guter Tag werden."
"Wie kommst Du darauf, alter Freund?", erkundigte sich Aragorn, plötzlich alarmiert, denn in diesem Tonfall sprach der Elb nur, wenn er Schwierigkeiten voraussah. "Hast Du irgendwelche Anzeichen für Probleme entdeckt?"
"Es ist ein Geruch in der Luft, der mir nicht gefällt. Vielleicht irre ich mich, aber ich habe das Gefühl, dass uns etwas erwartet." Nach dieser Eröffnung verfielen sie wieder in ihr dumpfes Brüten, doch dieses Mal versuchte Aragorn, die Ahnung seines Freundes nachzuempfinden. Noch konnte er nichts wahrnehmen außer dem Duft und den Geräuschen der Nacht. Irgendwann erreichten sie den Punkt, an dem die Strasse abzufallen begann und sich in Serpentinen bergab wand. Mit neuem Elan trabten die Pferde an, so als spürten sie, dass sich die Reise dem Ende näherte. Etwas mehr als zwei Stunden folgten sie dem Pfad hinab in das Herz des Tals. Irgendwann zügelte Legolas sein Pferd. In der Ferne war ein Lichtschimmer zu sehen, auf den er aufmerksam geworden war. Es war nichts das Morgengrauen. "Ich rieche Rauch. Was befindet sich in dieser Richtung, Alann?"
Sie streckte den Hals und ihr wich schlagartig der Rest ihrer Farbe aus dem Gesicht.
"Das ist das Dorf. Und das muss ein sehr großes Feuer sein, wenn man es bis hier sieht."
Aragorn fluchte. Er hatte sich ein Feuer gewünscht, aber keines, das Unheil versprach.
Hallo, Ihr Leser! Ich bin's, die Autorin! Puh, wieder ein Kapitel abgeschlossen. Und es wird spannend, denn die Vorgänge im Tal des Eisfelsens versprechen eine Menge Spannung, Action und einige Verwicklungen! Wer sind die dunklen Reiter und was haben sie vor? Welche Rolle spielen die Zwerge? Und wann bricht die erste Prügelei zwischen Alann und Legolas aus? Ich wünsche Euch noch viel Spaß! Wie immer gilt: bitte reviewt mir!
Lieber Gruß! Eure Demetra
"Und noch einmal: eins, zwei, drei, Parade!" Zum hundertsten Mal sprach Aragorn den Satz, der ihn durch seine ganze Jugend verfolgt hatte, doch er wurde dessen nicht müde. Nun kannte er die Befriedigung des Lehrmeisters, der sich eines begabten Zöglings angenommen hatte. Alanns Arme und Hände zitterten, doch sie hielt den Schwertknauf umklammert, als hinge ihr Leben davon ab. Was wohl wahrscheinlich auch zutraf. Sie wiederholte die Bewegungsfolge, die Aragorn ihr an diesem Abend gezeigt hatte, mit eiserner Disziplin. Die Klingen prallten mit lautem Geräusch aufeinander. Das Schwert, das er in Heyd ohne ihr Wissen für sie erstanden hatte, leistete ihr gute Dienste. Es war vielleicht eine gebrauchte Waffe, aber in einwandfreiem Zustand. Eie gute Übung für einen Anfänger und eine wirksame Verteidigung im Fall der Fälle. "Gut. Das wird immer besser! Genug jetzt. Wir müssen gleich weiterreiten."
Außerdem dämmerte es bereits und der blaue Himmel verfärbte sich am Rand bereits in ein sattes Violett und dahinter, nahe dem Horizont, war bereits das Schwarz der Nacht zu erahnen. Sie hatten nur Halt gemacht, um etwas zu essen und ihre vom Reiten steifen Gelenke ein wenig auszuschütteln. Kein Feuer, kein Lager. Die Pausen, in denen sich Aragorn und Alan zum Schlafen legten, waren knapp gemessen. Seit drei Tagen wiederholte sich derselbe Ablauf und mit der Routine kam die Gewöhnung. Doch ein Feind schlich sich ein, ohne dass sie etwas dagegen tun konnten. Die Erschöpfung. Aragorn blickte zu Legolas hinüber.
Der Elb stand auf einem kleinen Hügel und blickte hinaus in das weite Land. Dies tat er schon eine geraume Weile und obwohl er keine Sorge erkennen ließ, ahnte Aragorn, dass er keine guten Nachrichten erfahren würde. In den vergangenen Tagen und vor allem in den Nächten hatten sie ein gutes Stück des Weges gemeistert und die Berge lagen nun fast zum Greifen nahe vor ihnen. Gräser und Bäume wurden seltener, ersetzt von halbhohem, borstigem Gras, das sich im Takt des Windes neigte. Die Hufe der Pferde trafen öfters auf bloßen Stein und es schien, als ob die Kälte des Winters von den schneebedeckten Kuppen der Berge mit langen, klammen Finger nach ihnen greifen würde.
"Sie sind uns schon seit Heyd auf der Spur. Aber sie halten einen großen Abstand. Vielleicht hat Ihnen ihre erste Niederlage gereicht", vermutete Alann und verstaute ihr Schwert in der Scheide am Sattel ihres Pferdes. Während sie der Stute über das seidenweiche Maul strich, blickte sie über die Schulter zu Aragorn herüber. "Sie sind garantiert in der Übermacht."
"Ich frage mich ebenfalls, warum sie derart vorsichtig sind. Vielleicht, weil dieser Landstrich für uns zu gut einsehbar ist. Aber eventuell haben sie auch ganz andere Gründe." Aragorn runzelte sorgenvoll die Stirn und strich sich durch den Kinnbart. "Wie, sagtet Ihr, ist dieses Tal beschaffen? Gibt es mehrere Ein - und Ausgänge?"
Alann schüttelte den Kopf.
"Lediglich den Pass der Witwen, über den auch wir gehen würden. Sein Name stammt aus den Zeiten, in denen es Brauch war, die Toten aus dem Tal hier in dieser Ebene zu begraben. Das ist aber schon ein Zeitalter her. Es gibt eine größere Stadt im Tal, sowie zwei kleiner Dörfer, die an Hochweiden gelegen sind und für die Lebensmittelversorgung zuständig sind. Sie liegen im südöstlichen Teil des Tals. Weiter im Norden, etwas einen halben Tagesritt entfernt, liegt die Höhle der Zwerge. Dort war ich bisher noch nicht. Und dann ist da noch der Eisfelsen."
"Lässt dieser Name vermuten, dass wir einen Wintereinbruch zu erwarten haben?" Insgeheim notierte sich der Waldläufer in Gedanken die taktisch wichtigen Einzelheiten. Zum Glück war seine Beobachterin durch ihren Lebenswandel aufmerksam genug, um ihnen den Vorteil der Information zu bescheren.
"Nein, obwohl die ganze Gegend äußerst karg ist und eine eher unfreundliche Witterung besitzt. Laut der Sagen, die im Tal erzählt werden, gab es ein Schloss dort, wo jetzt der Felsen ist. Es wurde jedoch vor tausend Jahren verlassen. Ein Gletscher und mehrere Lawinen begruben es unter sich. Heute gibt es dort nur noch Berge von Schutt und bizarre Steinfiguren, von denen niemand weiß, welche Bedeutung sie haben."
Aragorn schwieg eine ganze Weile. Er beobachtete, wie Legolas seinen Posten aufgab und sich auf den Rückweg machte. Er gab Alann ein Zeichen. Als der Elb bei ihnen war, saßen sie beide bereits auf den Pferden. Legolas ließ nicht lange auf sich warten und bald schon jagten sie in die aufkommende Nacht hinein. Sie blieben dicht beieinander, so dass sich die Leiber der Pferde fast berührten. So speicherten sie die Wärme, die von den Tieren aufstieg, denn die Nacht würde lang werden. Sternenerleuchtet und kalt. Es wurde wenig gesprochen, doch irgendwann brach Legolas sein langes Schweigen.
"Es sind zwei Dutzend Reiter, die uns im Abstand von acht Meilen folgen. Sie verringern diesen nicht, was bedeutet, dass wir das Tal sicher erreichen werden, wenn wir dieses Tempo beibehalten."
"Ihr dürft den Pass nicht vergessen", warf Alann an. "Je nachdem, in welchem Zustand er sich befindet, könnten wir dort wertvolle Zeit verlieren."
Aragorn blickte in die bedrückte Miene der jungen Frau. Sie schien wohl gerade zu begreifen, auf welches Wagnis sie sich eingelassen hatte. Mit zwei Abenteurern zu reisen war kein einfacher Auftrag. Er würde es voll und ganz verstehen, wenn sie ihn du seinen Freund ins Tal führte und dann umkehrte. Doch möglicherweise bekam sie dazu nicht mehr die Gelegenheit.
"Wir müssen davon ausgehen, dass sie, wenn wir den Pass überschritten haben, diesen Weg sperren und uns damit in der Falle haben. Was immer ihr Interesse an uns ist, es hängt mit Goran und seinem Dorf zusammen." Er sprach mehr zu sich als zu den anderen, doch er sah, dass Alann diesen Hinweis verstanden hatte. Mit der Empathie einer wahren Elbe lächelte sie ihm zu, doch hinter ihren selbstbewussten Worten verbarg sich ein leiser Unterton. Furcht. Grosse Furcht.
"Ich werde Euch zu Eurem Ziel führen, so wie wir es ausgemacht haben. Darauf mein Wort als ehrliche Diebin!"
Von Legolas kam ein Geräusch, das Aragorn fast als Lachen gedeutet hätte, wenn er nicht ganz genau gewusst hätte, dass der Elbenprinz so gut wie niemals lachte. Tief über den Sattel seines Hengstes gebeugt, stemmte sich Aragorn gegen den scharfen Wind, der von den Bergen zu ihnen herabwehte.
***
Die Nacht verging in einem Taumel von rasenden Hufen, vorbeifliegenden Schemen und der Monotonie des scharfen Windes. Die Präsenz ihres Gegners, der sie vorantrieb, war wie eine drohend erhobene Faust, die jeden Moment auf sie herniederfallen könnte. Sie konnten die Reiter weder hören noch sehen, doch allein ihre Anwesenheit genügte.
Der Morgen war grau, die Sonne schien sich nicht hinter den Wolken hervorzuwagen. Mit der Zeit wurde es drückend warm und als der Himmelskörper den Zenith erreichte, war Aragorn schweißgebadet. Alann schwankte hin und wieder bedenklich im Sattel, so dass sich Legolas mit seinem Pferd schließlich an ihre Seite setzte, um ein Auge auf sie zu haben. Auch die Pferde ließen sich nun, nach einem Gewaltritt von vier Tagen und Nächten, die Strapaze deutlich anmerken. Mit Schaum vor dem Mund und rollenden Augen folgten sie den führenden Bewegungen ihrer Reiter immer widerwilliger.
Mit dem Ärmel wischte sich Aragorn über die Stirn und kniff die Augen zusammen. Das seltsame Zwielicht erschien ihm wie ein böses Omen. Gemeinsam mit dem beißenden Wind schuf es eine Atmosphäre des Unwirklichen. Die Gefahr, in der sie schwebten, schien nun noch greibarer, präsenter als je zuvor. Er spähte zurück, doch alles, was er sah, war ein Streifen Grün in der Ferne. Sie hatten die letzten Büsche hinter sich gelassen und ritten über eine mit Steinen und niedrigen Bodenpflanzen bedeckte, merklich ansteigende Ebene. Erste Felsen schoben sich aus dem Untergrund, zwangen sie zu einem Slalom, der sie viel Zeit und Energie kostete.
Stunden dehnten sich zu Ewigkeiten. Doch irgendwann, ganz allmählich, verbreiterte sich der unsichtbare Pfad, dem sie unter Alanns Führung gefolgt hatten, zu einer breiten, ausgetretenen Lehmstrasse, die sich in Richtung der ersten steilen Hänge schlängelte. Aragorn schätzte, dass sie zu Pferd etwa zwei weitere Stunden benötigen würden, um in den Schutz der Berge zu gelangen. Die von Menschenhand geglättete Fläche - denn anders ließ sich die waagrechte Perfektion der Gegend um sie herum nicht erklären - war zunächst wenig auffällig, doch je weiter sie in vorstießen, desto häufiger ließen sich abseits des Weges runde, flache Gebilde ausmachen. Sie waren schwarz und irisierten im Licht.
Plötzlich scheute Alanns Stute, strauchelte und brach mit den Vorderbeinen ein. Mit für ihre Erschöpfung erstaunlicher Gewandtheit sprang die junge Frau ab, um nicht von dem fallenden Tierkörper erfasst zu werden. Sie traf auf dem Boden auf, rollte sich ab und kam dann taumelnd, aber unversehrt wieder auf die Füße. Aragorn saß ebenfalls ab und besah sich die Stute. Mit kundigen Händen tastete er die Vorderläufe ab, besah sich die Adern, die am Hals des Tieres dick hervortaten und den weiß schäumenden Schweiß, mit dem es über und über bedeckt war. Seine Entscheidung war eindeutig.
"Nicht mehr zu retten. Der rechte Vorderlauf ist gebrochen." Er verschwendete keine weiteren Worte, sondern zog sein Schwert. Mit einem Stoßgebet an die Mächte der Natur bat er um Vergebung für seine Tat. Er ehrte alles, das lebte. Und zu einem würdigen Leben gehörte ein ebensolches Sterben. Mit einem vielgeübten Stoss rammte er sein Schwert zwischen die Rippen der Stute und durchbohrte ihr Herz. Es dauerte nur noch Sekunden, dann wurde das Pferd ruhig. Sein rasselnder Atem verklang. Stille folgte. Aragorn blickte zu Alann, die geschockt aussah. Seltsam, dass Menschen in solcher kurzer Zeit eine derartig intensive Beziehung zu einem Tier aufbauen konnten. Er half, die wichtigsten von Alanns Besitztümern zu bergen und auf die verbleibenden Pferde zu schnallen. "Lasst Euren Proviant zurück. Dafür haben wir keinen Platz. Nehmt nur die Waffen, den Wasserschlauch und Euren Mantel."
"Aragorn!" Legolas warnende Stimme erklang. Der Elb wies auf eine Staubwolke hinter ihnen, die sich rasch näherte. "Sie holen auf." Er hielt Alann die Hand hin und mit seiner Hilfe schwang sie sich hinter ihm aufs Pferd. Da Elben sehr leicht waren, würde wohl Legolas Pferd eine doppelte Belastung eher verkraften als das Aragorns. Sie schien nicht gerade begeistert, sich an dem Elben festhalten zu müssen und auch dieser zeigte eine stoische Miene, die nichts als pure Duldung zeigte.
Sie ritten wieder los und ließen den toten Tierkörper zurück, ein weißer Fleck inmitten all der schwarzen. Es dauerte eine Weile, bis Aragorn erkannte, dass es sich bei den dunklen Platten, die auf den Feldern um sie herum lagen, um Grabsteine handelte. Alanns Geschichte von dem Pass der Witwen fiel ihm ein. Alles begann, einen Sinn zu machen. Sie durchquerten einen Ort der Toten. Eine bedrückende Erkenntnis. Von Minute zu Minute wurden ihre Pferde langsamer und die Staubwolke hinter ihnen größer. Grimmig überprüfte Aragorn seine Bewaffnung.
"Tut das nicht!", rief ihm Alann zu. "Keine Waffen an diesem Ort. Es ist uralte Tradition. Die Geistern dürfen nicht gestört werden."
"Die Ruhe der Toten in Ehre, aber ich werde mich verteidigen!" Er wollte erneut nach seinem Bogen greifen, doch da mischte sich Legolas ein. Der Elb wirkte nun sehr besorgt.
"Dies ist ein geheiligter Platz. Ich denke, dass wir Alanns Rat folgen sollten." Legolas blaue Augen suchten über dem Gräberfeld nach etwas, das nur er und Alann wahrnehmen konnten. "Uns wird nichts geschehen, wenn wir die Regeln dieses Ortes beachten."
Aragorn versuchte, sich seine Frustration nicht anmerken zu lassen. Was diese Elben immer zu wissen und zu erkennen glaubten, war für ihn als Menschen nicht selten absolut unbegreifbar. Zu allem Überfluss weigerte sich sein Pferd in diesem Moment, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Es stampfte, schnaubte und buckelte, was das ganze Können des Reiters abverlangte. Legolas blieb an seiner Seite. Gemeinsam blickten sie der Bedrohung entgegen, die näher und näher kam und die Grenzen des Friedhofs längst überschritten hatte. Schrille Stimmen stiegen in die laue Luft, Namen und Schlachtrufe erklangen. Die vermummten Reiter waren nahe. Schon konnte man ihre Umrisse in all dem Staub klar erkennen.
Dann, im Streicheln der Luft, hörte Aragorn etwas Seltsames. Ein Flüstern, ein Kichern, leise und sanft. Zuerst nur eine Stimme, die in einer Sprache zu reden begann, die er nicht verstand und die ihm doch seltsam vertraut schien. Dann ertönte eine neue Stimme, noch eine. Und noch eine. Der Chor der Stimmen schwoll an, glitt um ihn herum, schien ihn zu betasten und zu prüfen. Er sah an der Erstarrung, die seine Begleiter befallen hatte, dass sie dasselbe erlebten wie er. Er glaube nicht an Geister, hatte es nie getan. Das, was er fassen konnte, war für ihn von Wert. Doch das sanfte Streicheln der körperlosen Stimmen, die ihn einlullten, war verflucht real. Die ganze Situation hätte ihm eigentlich unheimlich sein sollen, doch er spürte nur freundliches Fragen und Neugierde. Hier drohte ihnen keine Gefahr.
Er sah, wie sich Legolas Lippen lautlos bewegten, so als halte dieser eine unhörbare Zwiesprache mit der unbekannten Macht. Ein seltenes Lächeln lag auf dem schönen Gesicht des Elben, der mit geschlossenen Augen im Sattel saß. Alanns Kopf war an Legolas Schulter gesunken, ein Bild, das in einer anderen Situation arg befremdend gewesen wäre. Doch nicht in diesem Moment. Da Pferd unter Aragorn beruhigte sich, seine hektische Atemfrequenz sank und fast war es, als hätte man dem Ross neue Kraft eingeimpft.
Mit einem Mal, veränderte sich der Ton der Stimmen, sie schwollen an, wie ein Schwarm Bienen, der einen Störenfried entdeckt hatte. Der Wind frischte auf und änderte seine Richtung, nahm auf dem Weg Staub und Steine mit sich, heulte bedrohlich. Fassungslos beobachtete Aragorn, wie eine Wand aus Schutt auf die schwarzen Reiter zuwehte und sie zudeckte. Einem Leichentuch gleich, nahm die Wolke ihm die Sicht auf das, was dahinter geschah. Doch die Schreie, die erst laut, doch dann immer dumpfer erklangen, erzählten ihm genug.
Dann war wieder Stille und dieses Mal sprach sie von Tod. Aragorn schüttelte sich den Widerhall der Stimmen aus dem Kopf. Sie waren verschwunden, hinterließen jedoch tief in ihm ein Gefühl der Verbrüderung. Sie hatten sie gerettet. Dort, wo noch kurz zuvor eine anstürmende Gruppe von Gegnern gewesen war, war rein gar nichts mehr. Keine Pferde, keine Kleidung oder Waffen. Nichts.
Legolas und Alann fuhren unterdessen auseinander wie von der Tarantel gestochen und blickten sich verwirrt an. Ihnen war nicht bewusst, in welchem Zustand sie sich befunden hatten und musterten sich so abschätzend wie immer. Alann tätschelte Legolas Pferd, das frisch und erholt zu tänzeln begann, geistesabwesend an der Flanke. Keiner sagte etwas, denn es war nicht nötig.
***
Zu Beginn der Dämmerung ritten sie in das Gebirge ein. Ein schmaler Pfad, gerade breit genug, dass ein schmaler Karren ihn hätte passieren können, schlängelte sich zwischen spitzen, schartigen Felsen hindurch, die zu beiden Seiten der Reisenden mehrere Meter aufragten. Es war kühl geworden und die Luft so klar, dass sie beim Atmen in den Lungen schmerzte. Der frische Mut, der sie nach dem Erscheinen der Geister befallen hatte, wich von Minute zu Minute. Eine dumpfe Lethargie machte sich breit, geschwängert von der Müdigkeit, die Aragorn empfand und die auch die beiden Elben zu beeinflussen. Legolas wirkt reizbar, und obwohl er nicht zu schlafen brauchte, musste er doch ihre Reise und die damit verbundenen Schwierigkeiten als drückende Bürde empfinden. Nur sprach er nicht über so etwas. Mit stoischer Ruhe ritt er voran.
Ab und zu hob er den Kopf, weil er etwas gehört haben mochte, doch es war nur der Schrei einer vereinzelten Krähe, die hoch über ihren Köpfen ihre letzte Runde vor der Nacht drehte. Immer wieder traten die Pferde kleine Haufen von Geröll los, das den Pfad hinunterfiel. Alanns Kopf fiel immer wieder nach vorn, doch mit Beharrlichkeit hielt sie sich wach und klammerte sich an Legolas Sattel fest. Aragorn fand es amüsant, mit welcher offenkundigen Abneigung sich die beiden Elfen begegneten, aber dennoch meinte er, dass sie sich seit jener Nacht in Heyd nicht mehr ganz so feindlich gesonnen waren. Ein großer Teil ihres Betragens entstand wahrscheinlich aus reiner Gewöhnung, den anderen nicht leiden zu können.
"Alann!", rief er zu ihr nach vorn, als sie wieder einmal kurz davor zu sein schien, vom Pferd zu rutschen. "Gibt es Eures Wissens nach eine Stelle, an der uns Reiter überholen könnten?"
Die Elbin zuckte aus dem Halbschlaf hoch und drehte sich zu ihm um.
"Wenn unsere Verfolger die Begegnung mit den Toten überlebt haben, dann können sie uns nur auf diesem einen Weg folgen. Wenn wir großes Glück haben, erwarten unsere Gegner im Tal, dass wir bereits tot sind und schicken uns keine Abordnung entgegen." Sie fuhr sich in erschöpfter Geste über ihre vor Müdigkeit zugeschwollenen Augen. "Aber ich bin kein Hellseher. Wir müssen uns auf alles gefasst machen."
"Ist es ratsam, in der Nacht weiterzureiten?", fragte er weiter.
"Wir sollten es tun. Die Strasse ist nicht gut und es wird eine finstere Nacht werden, aber wenn Ihr dicht hinter uns bleibt, wird Prinz Legoals uns wohl kaum in einen Abgrund leiten." Ein wenig ihres alten Humors schien zurückgekehrt zu sein, obwohl aus ihrem Gesicht klar abzulesen war, wie sehr sie sich eine Pause wünschte. Sie war eine derartige Beschwerlichkeit nicht gewöhnt, obwohl sie ein hartes Leben geführt haben musste. Aragorn fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es klug gewesen war, sie mitzunehmen. Zu ihrem eigenen Wohl. Aber er hatte auch das Glänzen in ihren Augen gesehen, als sie aus der Stadt aufgebrochen waren und als er ihr das Schwert geschenkt hatte. Sie hatte das Sehnen des Schönen Volkes in sich, das Weite und Schönheit suchte, das man nicht hinter Mauern einsperren konnte. Sie war eine gute Kämpferin, sie benötigte natürlich noch Übung, aber ihr Talent war unverkennbar. Ihre Instinkte und ihre Menschlichkeit bildeten den Boden, auf dem ihre Persönlichkeit wachsen würde.
In gewissen Dingen waren sie sich gleich. Beide kämpften sie mit ihrem Schicksal, dessen Erfüllung sie herbeisehnten und doch fürchteten. Alann war unter Elben wie ein Rubin unter Diamanten, hübsch anzusehen, doch nicht rein genug. Dennoch etwas Besonderes. Und er? Unter den Menschen war er von Geburt aus ein Herrscher, das Blut, das durch seine Adern floss, bestimmte ihn zu Großem. Doch er konnte diese Bürde nicht tragen. Wie konnte ein Erbe auf seinen Schultern ruhen, dessen Fluch seit Jahrtausenden in Bildern und Schriften festgehalten worden war? Ein Bild drängte sich ihm auf. Wie die glänzenden Türme Gondors im Morgenlicht glänzten, wie er die hohen Türen zur großen Halle der Könige aufstieß und hineinschritt. Der Herrscher der Menschen. An seiner Seite Arwen, der Abendstern, glänzend und wunderschön wie jenes Gestirn, das an freundlichen Abenden über ihn wachte. Aragorn lächelte hart. Eine schöne Gesellschaft bildeten sie drei. Ein stolzer Prinz, ein zweifelnder König und eine ehrenvolle Diebin.
In bittere Gedanken getaucht verging die Nacht. Sie machten einmal Rast in einer kleinen Höhle abseits des Weges, um etwas zu essen. Der Hufschlag hinter ihnen, den sie minütlich wahrzunehmen erwarteten, erklang nicht. Das Warten auf die Dinge, die über sie hereinzubrechen drohten, war zermürbender als Kälte, Hunger und Erschöpfung. Auch der neue Morgen brachte wenig Trost. Ein feiner Regen fiel aus tief hängenden Wolken, die sich um die Spitze der Berge schlossen wie die Scheide um ein Schwert. Die Kapuzen hochgeschlagen, richtete sich die ganze Aufmerksamkeit der Reiter auf ihre Pferde, die auf dem immer steiler ansteigenden Weg unsicherer wurden. Schlüpfrige Tritte versuchten sie so gut wie möglich zu umgehen, doch hin und wieder strauchelten die Tiere. Schrecksekunden folgten, in denen ein Sturz unumgänglich schein. Doch sie hatten Glück, soviel wie man es in ihrer Situation nur haben konnten. Irgendwann gegen Mittag meldete sich Alann zu Wort, die, eingeschlossen in einen Mantel der Erschöpfung, wie ein Spielzeug hinter Legolas auf dem Pferd hing. Sie wies auf eine Felsformation vor ihnen, die sie wiederzuerkennen schien. Mit heiserer Stimme verkündete sie:
"Wenn wir in diesem Tempo weiterreiten, sind wir heute Nacht auf der Spitze des Berges. Dann brauchen wir noch einmal ein paar Stunden, um den Abstieg ins Tal zu schaffen. Am Mittag dürften wir das erste Dorf erreichen."
Die Nachricht löste so etwas wie gedämpfte Freude unter ihnen aus. Jeder schien sich ab diesem Moment an den Gedanken zu klammern, dass sie nur noch einen Tag und eine Nacht benötigen würden, um ein erstes Ziel zu erreichen. Aragorn wünschte sich sehnlicher als ein warmes Feuer, vor dem er seine langen Beine ausstrecken und eine Pfeife rauchen konnte. Die Wünsche seiner Gefährten meinte er an ihren Gesichtern ablesen zu können. Alann wollte nur noch schlafen. Und Legolas wolle Alann loswerden, die sich an ihn klammerte wie eine Ertrinkende an eine Rettungsleine. Auf derart engem Raum mit seiner Feindin in spe zusammen zu sein, schien ihn nicht kalt zulassen. Auf welche Weise, das konnte Aragorn nur erahnen. Sein schwerer Kopf mochte ihm zwar den einen oder anderen Streich spielen, doch als Legolas schließlich seinen warmen Elbenumhang abnahm und ihn Alann nach hinten reichte, lächelte Aragorn in sich hinein. Was auch immer diese beiden verband, es war nicht mehr nur Feindschaft.
Auch die Nacht verschonte sie nicht vor dem Unbill des Wetters. Der Regen begann an Gewalt zu gewinnen und bald sah man keine drei Fuß mehr weit. Nebel stiegen auf und rankten sich zwischen den Felsen wie lebendiges, geisterblasses Efeu.
"Wenn der Nebel aufsteigt, dann greifen die unterirdischen Mächte nach den Lebenden", sagte Legolas plötzlich. "Es wird kein guter Tag werden."
"Wie kommst Du darauf, alter Freund?", erkundigte sich Aragorn, plötzlich alarmiert, denn in diesem Tonfall sprach der Elb nur, wenn er Schwierigkeiten voraussah. "Hast Du irgendwelche Anzeichen für Probleme entdeckt?"
"Es ist ein Geruch in der Luft, der mir nicht gefällt. Vielleicht irre ich mich, aber ich habe das Gefühl, dass uns etwas erwartet." Nach dieser Eröffnung verfielen sie wieder in ihr dumpfes Brüten, doch dieses Mal versuchte Aragorn, die Ahnung seines Freundes nachzuempfinden. Noch konnte er nichts wahrnehmen außer dem Duft und den Geräuschen der Nacht. Irgendwann erreichten sie den Punkt, an dem die Strasse abzufallen begann und sich in Serpentinen bergab wand. Mit neuem Elan trabten die Pferde an, so als spürten sie, dass sich die Reise dem Ende näherte. Etwas mehr als zwei Stunden folgten sie dem Pfad hinab in das Herz des Tals. Irgendwann zügelte Legolas sein Pferd. In der Ferne war ein Lichtschimmer zu sehen, auf den er aufmerksam geworden war. Es war nichts das Morgengrauen. "Ich rieche Rauch. Was befindet sich in dieser Richtung, Alann?"
Sie streckte den Hals und ihr wich schlagartig der Rest ihrer Farbe aus dem Gesicht.
"Das ist das Dorf. Und das muss ein sehr großes Feuer sein, wenn man es bis hier sieht."
Aragorn fluchte. Er hatte sich ein Feuer gewünscht, aber keines, das Unheil versprach.
Hallo, Ihr Leser! Ich bin's, die Autorin! Puh, wieder ein Kapitel abgeschlossen. Und es wird spannend, denn die Vorgänge im Tal des Eisfelsens versprechen eine Menge Spannung, Action und einige Verwicklungen! Wer sind die dunklen Reiter und was haben sie vor? Welche Rolle spielen die Zwerge? Und wann bricht die erste Prügelei zwischen Alann und Legolas aus? Ich wünsche Euch noch viel Spaß! Wie immer gilt: bitte reviewt mir!
Lieber Gruß! Eure Demetra
