Teil 5 - Im Tal des Eisfelsens
Rauchende Ruinen ragten in den Himmel, ein stummes, rußgeschwärztes Mahnmahl vor schiefergrauem Morgenhimmel. Das Dorf hatte vielleicht zwanzig Gebäude gezählt und war von einer hohen Holzpalisade umgeben. In diesem Schutzwall, der an einigen Stellen bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, befanden sich in den besser erhaltenen Teilstücken große Löcher, die von Waffenhieben stammen mochten. Es sah aus, als hätten sich die Angreifer mit unglaublicher Wucht durch das Holz geschlagen und wären dann ins Innere der Ansiedlung vorgedrungen.
Der Brandgeruch, den Legolas schon vor einigen Stunden in der Luft wahrgenommen hatte, hing über ihnen wie eine unsichtbare Wolke. Sie betraten das Dorf durch das Haupttor, das völlig zerstört schief in seinen Angeln hing. Die Wachttürme an beiden Seiten waren leer, die einfachen Konstruktionen standen, wie man mit bloßem Auge erkennen konnte, kurz vor dem Zusammenbruch. Im Rund des Dorfes stand kein Stein mehr auf dem anderen. Die Häuser qualmten noch, doch der bestialische Gestank, der den Reisenden durch Mark und Bein ging, stammte nicht nur von ihnen. Es waren Tote in dieser Stadt, doch keiner davon war auf den Strassen zu sehen. Die einzigen Skelette dort waren die der liebevoll errichteten Bauten, deren durch Schnitzereien hervorgehobene Wohnlichkeit durch sinnlose Tat zerstört worden war.
Dem Tor gegenüber lag das größte Gebäude, wohl einst eine Ratshalle. Legolas wies seinen Begleitern an, sich erst einmal nicht zu bewegen. Mit vorsichtigen Schritten überquerte er den Dorfsplatz, umrundete den Brunnen und näherte sich dem Eingang der Halle. Die Decke aus massiven Eichenbalken war halb heruntergestürzt, doch ein Teil des Dachgerüsts stand noch. Er, mit dem spurlosen Tritt gesegnet, würde nicht die geringste Erschütterung auslösen, wenn er den Innenraum betrat. Das Letzte, was er wollte, war noch ein Unglück. Vorsichtig trat er ein. Rauch wehte ihm entgegen, ließ seine Augen für einen Moment tränen. Er verscheuchte den Qualm unwirsch und wagte sich weiter vor. Im vorderen Teil des Gebäudes befanden sich nur Schutt und verkohlte Gerätschaften.
Ihm fiel auf, dass einige massive Holzstücke, die vor der Tür gelegen hatten, nicht zu denen im Inneren passten, weder zu decke noch Einrichtung gehört hatten. Ein furchtbarer Gedanke kam ihm und als er über einen Blaken stieg, erlangte er Gewissheit. In einer Ecke der Halle lagen sie. Die Bewohner des Dorfes. Ihre Leichen waren zum Teil bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, nur noch Hüllen aus Asche, die der nächste Winterwind davontreiben würde. Einige, die unter den Körpern andere Menschen gelegen hatten, waren noch recht gut zu erkennen. Furchtbare Brandwunden zierten die vor Entsetzen und Todesangst verzerrten Gesichter wie ein makaberer Schmuck. Legolas blickte sie schweigend an. Dann senkte er den Kopf. Für einen Moment. Dann kehrte er auf den Dorfplatz zurück.
Aragorn und Alann schienen während seiner Erkundung nicht untätig gewesen zu sein. Sie kamen aus den Eingängen von verschiedenen Häusern, du jeder von ihnen trug etwas. Aragorn hatte die Faust um einige abgebrochene Pfeile geschlossen, Alann hielte ein große Axt fest, die sie irgendwann, als sie wieder beisammen standen, in den Staub fallen ließ.
"Habt Ihr etwas gefunden, Legolas?", fragte sie und es tat fast weh, die Hoffnung in ihrer Stimme zu hören. Er schüttelte den Kopf.
"Sie sind alle dort drin. Ungefähr 30 Personen, Kleinkinder, Frauen, alte Menschen. Die Tür wurde hinter ihnen verriegelt, dann wurde der Brand von außen gelegt. Sie hatten keine Gelegenheit, dem Inferno zu entkommen. Einige verbrannten, andere starben vermutlich zuerst an Rauchvergiftung." In gemäßigtem Ton versuchte er, seine Entdeckungen mitzuteilen, obwohl es ihm nicht leicht fiel. Er war ein Krieger, das ohne Zweifel. Im Dienste seines Vaters hatte er manche Schlacht geschlagen, manchen Schwertstreich geführt und tödlichen Pfeil verschossen. Doch vor dem Tod von Zivilisten, friedlichen Dorfbewohnern, konnte er nicht anders als erschauern. "Die Männer und die älteren Kinder fehlen. Ich nehme an, Ihre Leichen sind nicht in den anderen Häusern zu finden?"
"Nein", bestätigte Aragorn und öffnete die Hand, auf deren Fläche die Spitzen mehrere Pfeile ruhten. "Aber dies hier. Es sind wenige Pfeile, nicht gekennzeichnet. Aufschluss könnte uns die Axt bringen. Alann?"
Sie hob den Kopf, so als erwache sie gerade aus einem bösen Traum. Dann riss sie sich sichtbar zusammen, räusperte sich und berichtete knapp:
"Sie stak in einem Balken in dem Haus dort drüben. Andere liegen hier überall verstreut. Vielleicht ein Hinweis auf die Zwerge?" Letzteres sagte sie sehr vorsichtig, so als traue sie sich nicht, den überhaupt Gedanken auszusprechen.
"Hattet Ihr nicht davon berichtet, dass es die Zwerge sind, die dieses Tal mit Furcht überziehen, um es zurückzugewinnen?", bohrte Legolas und erhielt von der Elbin prompte Auskunft.
"Wie Ihr wisst, hatte ich Euch bereits erklärt, dass Meuchelmord nicht die Art der Zwerge ist, ebenso wenig wie dieser feige Überfall. Das waren Bauern mit Dreschflegeln und Hacken. Kein Zwerg, der etwas auf sich hält, würde sie als Gegner wählen. Eher würde er sich umbringen, als sich derart herabzulassen." Sie legte den Kopf schräg. "Aber das wisst Ihr natürlich. Aber ich vermute, Ihr zieht es vor, Eure obskuren Verdächtigungen ab und zu vorzubringen, damit Ihr Euch besser fühlt?"
Legolas war kurz davor, seine Fassung zu verlieren. Er hatte dafür gesorgt, dass sie weder fror, noch vom Pferd fiel oder irgendeinen anderen Unsinn machte. Er hatte sogar ihr Geheimnis bewahrt! Und dies war der Dank dafür? Ein neuer Angriff auf ihn und seine Überzeugungen. Zugegeben, er glaubte auch nicht wirklich daran, dass die stets schlecht gelaunten Bergarbeiter mit den roten Bärten die Urheber eines solchen Massakers waren. Aber wenn er eines in seinem mehr als anderthalb Jahrtausende dauernden Leben gelernt hatte, dann war es, dass auch das Unvermutete geschehen konnte.
Aragorn, der in die Hocke gegangen war, um sich die Axt näher zu besehen, hob die Hand. Legolas schluckte eine harsche Antwort herunter und auch Alan schien problemlos die Autorität des Menschen anerkennen zu können. Der vorwitzige Gedanke, ob sie das nicht auch bei ihm tun sollte, da er immerhin ihr Prinz war, ließ sich jedoch nicht zur Seite schieben.
"Keinen Streit auf frischen Gräbern", verlangte Aragorn und hob die Axt auf. Die Klinge glänzte stumpf im morgendlichen Dämmerlicht. Mit der Genauigkeit eines Kenners hielt der Waldläufer sie hoch, betrachtete sie von der Seite, wog den Stiel in der Hand und ließ einen Finger über die Schnittfläche gleiten. Dann kam er zu einem Urteil. "Dies ist keine Zwergenwaffe. Sie wurde nach genauen Vorbildern geschmiedet, und doch stimmen die Konsistenz und die Härtung des Metalls nicht. Der Kopf ist schlecht ausbalanciert und die Klinge verhältnismäßig stumpf." Er kniff die Augen zusammen und in seinem Gesicht war zu erkennen, dass er kombinierte. "Man hat sie und die anderen Waffen wohl hier hinterlegt, um die Menschen der Umgebung glauben zu lassen, dass dies ein Überfall der Zwerge war."
"Was ist mit den Dunkelelben?" Alann blickte in Richtung der Versammlungshütte und musste sichtbar schlucken. "Sie könnten hinter all dem hier stecken. Ich habe von ihnen gehört, dass sie Sklaven halten, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Legolas, Ihr sagtet doch, dass Kinder und Männer fehlen. Ist dies nicht ein Hinweis?"
"Aber warum nur diese Menschen? Es hätte sich doch auch empfohlen, die Frauen mitzunehmen - für gewisse andere Bedürfnisse!" Aragorn dachte laut mit und klang dabei nicht sonderlich feinfühlig. "Was für einen Grund könnte eine den Menschen feindlich gesinnte Gruppe haben, um auf diese seltsame Art zu handeln? Ich denke, jemand versucht, die Menschen gegen die Zwerge aufzubringen, zu welchem Vorteil auch immer. Der seit langer Zeit hier schwärende Konflikt wird durch diese Tat nur nochzusätzlich angeheizt."
Legolas wollte etwas sagen, als er etwas wahrnahm. Ein leises Geräusch, wie aus der Ferne oder Tiefe. Alann hatte es ebenfalls gehört, denn ihr Kopf ruckte herum. Sie wies wortlos auf den Dorfbrunnen in der Mitte des Platzes und zog ihren Dolch. Gemeinsam näherten sie sich dem Steinrund und Alann spähte hinein. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, rief sie in den Schacht hinein:
"Ist dort unten jemand?" Es kam keine Antwort, weshalb sie es ein zweites Mal versuchte. "Wir sind Freunde. Die Angreifer sind weg."
"Wirklich?", erklang eine verängstigt klingende Mädchenstimme. "Es ist kalt und dunkel hier unten. Holt mich doch bitte hoch!"
"Hab keine Angst!" Alann schien als Frau am ehesten dazu geeignet, das Mädchen zu beruhigen und beugte sich über den Brunnenrand. "Wir helfen Dir!" Aragorn sichtete die Kette der Wasserstelle und nickte Alann zu, während er den Eimer langsam hinabließ. "Gleich wird der Eimer bei Dir ankommen. Du musst hineinsteigen und Dich an der Kette festhalten. Dann ziehen wir Dich hoch."
Nach einem kleinen Moment klang es von unten herauf:
"Ich stehe jetzt drin. Aber ich habe Angst, herunterzufallen."
Dieses Mal antworte Aragorn, von dem Legolas wusste, dass er Kinder sehr gern mochte. Er empfand sie als das schützenswerte, schwächste Glieder in der Kette des Lebens. Legolas teilte diese Auffassung nicht unbedingt. In seinem Volk spielten die Weisen und Alte die größte Rolle, bevorzugt selbst in einer Gesellschaft, die über eine unendliche Lebensspanne verfügte.
"Ich ziehe Dich nun hoch. Hab keine Angst, ich halte Dich."
Mit aller Kraft kurbelte Aragorn an dem Quersteg, über dem sich die Kette des Brunnens aufrollte. Alann sprach weiterhin auf das Kind ein, ihre dunkle, beruhigende Stimme klang so sanft wie zu dem Moment, als sie mit ihrer Mutter gesprochen hatte. Endlich tauchte ein nasser Kinderkörper in der Öffnung auf. Alann griff zu und hob das kleine Mädchen über den Rand. Es war etwa sechs Jahre alt und trug ein schmutziges Kleid. Am ganzen Leib zitternd, kuschelte es sich sofort eng in Legolas Mantel, als Alann ihn von den eigenen Schultern nahm und dem Kind überwarf. Fragen standen in dem vom Weinen verschwollenen Gesicht mit den großen Augen, Fragen die sie nun stellen konnte.
"Wo sind meine Eltern? Mein Vater hat mich hier herabgelassen, mitten in der Nacht. Ich hatte furchtbare Angst." Sie sah sich um und schien langsam zu verstehen, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. "Er hat gesagt, dass böse Männer kommen würden und dass ich ganz still sein soll. Warum hat er mich nicht wieder rausgeholt?"
Legolas beobachtete, wie in den Gesichtern seiner Begleiter Kummer und Ratlosigkeit miteinander wechselten. Er selbst fühlte sich nicht in der Lage, dem Kind eine Antwort zu liefern, doch er ahnte, dass absolute Ehrlichkeit fehl am Platz war. Noch. Alann antwortete ausweichend und versuchte, ihren Kummer hinter einem liebevollen Lächeln zu verbergen. Legolas schoss wieder einmal der Gedanke durch den Kopf, dass diese Frau ihn bestohlen und bedroht hatte.
"Sie sind fort, Kleines. Aber vielleicht findet Du sie eines Tages wieder." Sie kniete neben der Kleinen und nahm die kleine Hand in die ihre. "Wir wollen in die Stadt reisen. Es wäre schön, wenn Du mir uns kommen könntest. Vielleicht wissen die Menschen dort, was Deinen Eltern geschehen ist."
***
Einige Meilen später später fand sich Legolas in einer sehr seltsamen Lage wieder. Er führte sein Pferd, auf dem die kleine Alis saß und ihn die ganze Zeit über mit offenem Mund anstarrte. Dabei sagte sie kein Wort, sondern schaute lediglich. Und das schon seit mehr als einer halben Stunde. Das machte ihn zugegebenermaßen nervös. Er war es schließlich nicht gewöhnt, sich mit Menschenkindern zu beschäftigen. Im Vergeleich zu denen der Elben waren diese Nachkommen meistens Schmutzig, unsäglich nervtötend und frech.
Auf Alis traf zumindest das Adjektiv "schmutzig" zu, aber er schätzte, dass ein paar Stunden in einem Brunnen jedes lebende Wesen in diesen Zustand versetzen würde. Nun, keine Elben. Es war außerordentlich vorteilhaft, auf dem Wasser gehen zu können. Er räusperte sich.
"Hast Du eine Frage?", erkundigte er sich ungeduldig bei dem Kind, die abrupt den Mund zuklappte und unter der Dreckschicht blutrot anlief. Das hatte zur Folge, dass sich Alann, die auf der anderen Seite des Pferdes ging, einen missbilligenden Blick zu ihm herübersandte.
"Ihr macht ihr Angst", schalt sie ihn wie einen Eleven und lächelte das Kind an. "Es sind seine Ohren, oder, Süße?"
Es wurde immer schlimmer. Nun warf die unausstehliche Person schon mit Kosewörtern um sich, als sei sie auf einem Sommerausflug und nicht auf einer eventuell tödlich endenden Reise ins Herz eines Krisengebiets. Und wollte eine Diskussion über seine Ohren beginnen.
"Ich wünschte, Ihr würdet Euch ausschlafen und weniger ungenießbar sein!", murmelte er vor sich hin und vergaß dabei ihr überaus elbisches Gehör. Sie hingegen erinnerte sich dieser Eigenart sehr gut und flüsterte im selben Tonfall:
"Sie ist ein Kind, Herr. Ein verängstigtes Kind, das nicht verstehen kann, was geschehen ist. Für sie zählen nicht verstreichende Meilen oder Beweise für eine Täterschaft. Sie staunt nur über etwas, das sie nicht kennt. Also seid bitte freundlich."
"Über wen sprecht Ihr, Frau? Über Euch oder das Mädchen?", erkundigte er sich und spielte auf ihre Erzählung aus dem Wald bei Heyd an. Er sah, wie sie ein wenig blass wurde und erinnerte sich an den Moment, der ihr Leben derart verändert hatte. Damals war er gerade von einem Spähposten am Rande des nördlichen Düsterwaldes zurückgekehrt, gerade rechtzeitig, um die Versammlung des Rates mitzuerleben. Er hatte Tylandriel sein ganzes Leben lang gekannt. Sie hatte seiner Mutter mehr als einmal das Leben gerettet. Sie hatten schon gekämpft, als die Menschen noch nicht einmal von sich als solche sprachen und die Sprache der Elben noch die Alte war. Dass ihr Kind nicht von ihrem elbischen Gefährten stammte, war damals ein offenes Geheimnis gewesen, doch irgendwann hatte diesre Gefährte, Toralin, sein Schweigen gebrochen und sich der peinlichen Befragung des Ältesten unterworfen.
Es war ein Fall wie viele andere gewesen, denen er beigewohnt hatte und fast wäre das kleine, rothaarige Elbenmädchen, die sich an der Hand ihrer Mutter festklammerte wie eine Ertrinkende an einem Baumstamm, in seinem Leben in Vergessenheit geraten - wenn es nicht in Gestalt einer Erwachsenen durch tausend Zufälle in sein Leben zurückgekehrt wäre und ihn nun in mannigfaltiger Art quälte. Er blickte auf die ineinander verschränkten Hände von einer Frau und einem Mädchen, doch dieses Mal in dieser Zeit und wusste, dass er sich seine Frage selbst beantworten konnte. Ein wenig Freundlichkeit, das war es, was ein kleines Mädchen wollte.
Ein Ruf Aragorns ließ ihn seine Aufmerksamkeit von dem Bild, einer Verschmelzung von Gegenart und Vergangenheit, abwenden. Sie bogen gerade um eine Kurve in der immer breiter werdenden Strasse und mit einem Mal bot sich vor ihnen das Bild der Stadt, die sie suchten. Es war eher eine Art Feste, bekränzt von einer halbhohen Steinmauer, auf der Wachposten patrouillierten. Ein großes Holztor verschloss die Ansiedlung zur Strasse hin. Mit bloßem Auge konnte man erkennen, dass sich hinter dem Tor ein kleiner Hof befinden musste. Die Felsen, die sich vor ihnen auftürmten, schlossen sich unmittelbar an die Mauern an und liefen dann von beiden Seiten des Zugangs weiter. Die Strasse schlängelte sich nach links an der Felswand weiter, doch zu ihrer Rechten gab es nur schroffes Gestein. Legolas bewunderte die Bauweise. Das Problem war strategisch gelöst worden. Ausläufer der Felsen bildeten offensichtlich im Hof einen weiteren, natürlichen Durchgang zum Rest der Stadt. Dieser Engpass würde gut zu verteidigen sein.
Die Stadtwache wurde unterdes auf sie aufmerksam und als sie das verschlossene Tor erreichten, rief ihnen eine scharfe Stimme entgegen:
"Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?" Ein halbes Dutzend Bögen und Armbrüste wurden auf die gerichtet, deren stählernen Spitzen in der bleichen Sonne funkelten. "Fremde sind hier nicht willkommen!"
Aragorn trat vor, die Hände in einer Geste des Friedens ausgestreckt. Hoch aufgerichtet, den Kopf erhoben, verwandelte er sich vor den Augen der Anwesenden in das, was er zu sein stets von sich wies. Ein Herrscher. Legolas hatte diese Metamorphose schon einige Male erlebt, doch sie erstaunte ihn immer wieder. Die Wirkung auf die anderen war sichtbar. Alann wirkte verwundert und die Stadtwachen begannen zu flüstern.
"Ich bin Aragorn, Arathorns Sohn, ein Waldläufer. Mit mir reisen Legolas und Alann vom Schönen Volk. Wir kamen durch das Dorf westlich von hier. Es wurde dem Erdboden gleich gemacht. Wir konnten eine Überlebende bergen und erbitten nun Eure Gastfreundschaft. Hinter uns liegt eine anstrengende Reise. Wir hörten von Euren Problemen und kommen, um zu helfen."
Die Soldaten flüsterten miteinander und schließlich öffnete sich auf einen Ruf hin das Tor. Zwei Männer schoben dessen Flügel auf und die Gefährten, die ihre Pferde am Zügel führten, traten ein. Im Innenhof befanden sich einige Ställe und eine Schmiede, in der ein bulliger Schmied auf ein Stück Metall hämmerte. Der Klang des Hammers schallte ihnen entgegen, ein vertrautes und seltsam beruhigendes Geräusch. Von der Zinne führte eine Steintreppe hinunter, über die ihnen ein schwer bewaffneter Mann entgegenkam. Er war groß, dunkel und muskulös, sein Gesicht war von tiefen Falten der Sorge zerfurcht. Dennoch lächelte er, während er seinen Blick über die kleine Gruppe schweifen ließ.
"Ich bin Roviel, Anführer der Wache. Seid gegrüßt und willkommen in Bergstadt. Ich werde Euch zum Herrn dieser Stadt geleiten. Folgt mir bitte." Ohne auf eine Antwort zu warten, machte er kehrt und marschierte zwischen den Felsen hindurch und so blieb der Gruppe nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Wachsam merkte sich Legolas jedes Details, während sie tiefer in die Stadt vordrangen. Nach der Felsenpforte öffnete sich eine kleine, dicht besiedelte Ebene vor ihnen. Anders als in dem Dorf waren die kleinen Häuser hier aus massivem Stein. Im Westen war eine weitere Mauer zu sehen, im Osten übernahmen die Berge den Schutz der Bewohner. Überall waren Menschen zu sehen, jeder dritte von ihnen war bewaffnet. Es schien, als erwarteten die einfachen Leute Probleme. Aus ihren Gesichtern war ihre Angst und ihr Misstrauen lesen, als sie die Fremden musterten. Roviel führte sie mit entschlossenem Schritt durch die engen Gassen, in denen das Leben pulsierte. Händler priesen ihre Waren an, ein Bäcker zog einen zerlumpten Jungen am Ohr, da dieser ein Brot dilettantisch in seinem Hosenbund versteckt hatte. Es war eine Szene, wie sie sich überall in Mittelerde hätte abspielen können. Doch über allem lag Furcht. Legolas fühlte sich angestarrt, hob das Kinn. Alann kämmte ihre Haare über die Ohren und redet leise auf Alis ein, die verschreckt wirkte. Die Strasse führte sie zu einem großen, mehrstöckigen Gebäude in der Mitte der Stadt, vor dem einige Soldaten Wache standen. Auf Roviels Wink hin eilten sie heran. "Wir werden Eure Pferde versorgen und tränken. Der Stall befindet sich im Haus, ebenso wie die Quartiere für Gäste. Eure Sachen werden dorthin gebracht, und Ihr könnte Euch ausruhen, bis der Herr Euch empfangen kann."
Legolas und Aragorn verständigten sich wortlos. Es gab nichts, was ihr Misstrauen erregt hatte und deshalb entschlossen sie sich, das Angebot wahrzunehmen. Sie überließen die Tiere den kundigen Händen der Wachen und traten dann, geführt von Roviel, ein.
***
In der großen Halle brannte ein Feuer, das sie mit einem matten Licht ausleuchtete. Die aus massiven Balken errichtete Kassettendecke, die das Russ dunkel gefärbt hatte, ließ den Raum kleiner erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Wilde Hund jagten sich um den Bratspieß, auf dem ein Schaf briet, immer wieder vertrieben von einem kleinen Pagen. Die Bänke und Tische waren nur spärlich besetzt, mit müden Kriegern und einigen schwer einzuschätzenden Gestalten. Legolas und Aragorn saßen unter ihnen und aßen zu Abend. Aragorn langte tüchtig bei Fleisch und Brot zu, während Legolas misstrauisch in seinem Kohleintopf herumrührte und ab und zu einen Löffel probierten. Sie hatten seit dem Mittag in ihren kleinen, aber zweckmäßig ausgestatteten Zimmern geruht und waren auf Geheiß Roviels zum Essen erschienen. Der Herr der Stadt hatte sich bisher nicht blicken lassen. Und auch eine weitere Person fehlte.
Legolas fragte sich, wo Alann sein mochte, aber er schätzte, dass sie entweder noch schlief oder sich um das kleine Mädchen kümmerte. Mütterliche Instinkte hätte er ihr nicht zugetraut, aber sie pflegte ja bekanntlich immer eine Überraschung bereit zu haben. Daran musste man sich bei ihr gewöhnen. Solange die nächste Überraschung kein Dolch im Rücken war, machte ihm das nichts aus. Eigentlich machte er sich viel zu viele Gedanken um sie.
Die Tür zur Halle öffnete sich und die Halbelbin trat ein. Sie trug wieder das Kleid aus der Nacht in Heyd, hatte die Haare ordentlich geflochten und wurde von einem älteren Mann in edler Kleidung begleitet. Ihre Hand ruhte in seiner Armbeuge und sie lachte über eine leise Bemerkung, die er ihr zuraunte. Aragorn bemerkte die beiden ebenfalls und stellte seinen Kelch, aus dem er gerade trinken wollte, mit einer heftigen Bewegung ab. Dann erhob er sich.
"Das ist er", raunte er Legolas zu, der dem Beispiel des Freundes folgte. Sie traten auf das Paar zu, das ihnen entgegenblickte. Der ältere Mann wirkte überrascht.
"Streicher!", rief er mit sonorer, vor Hoffnung vibrierender Stimme. "Man hat mir zwar gemeldet, dass ich Gäste hätte, aber dass Du noch herkommen würdest, hätte ich nie gedacht. Also hat Goran Dich erreicht?"
Aragorn schüttelte dem anderen Mann die Hand. Legolas wusste nicht, was sie verband, aber es schienen sich einige Teile des Rätsels, das sie zu lösen hatten, aufzuklären.
"Ja und Nein", antwortete der Waldläufer und seine Miene bezeugte seine Trauer. "Unser alter Freund wurde ermordet. Er hat mir zwei Nachrichten geschickt, aber darin wurde nie klar, worum es geht oder wohin genau wir gehen mussten. Deshalb kam ich nicht früher hier an. Alann hat uns in dieses Tal geführt."
"Dann ist sie ebenso charmant wie kundig", schmeichelte ihr der Stadtherr und bewirkte, dass die Elbin rot anlief. Dann wandte er sich Legolas zu. "Aber zunächst möchte ich mich auch Eurem Freund vorstellen. Wir haben in diesem Tal noch niemals eine Elben gesehen, und deswegen ist es mir eine doppelte Freude. Mein Name ist Anthanas. Ich bin der Verwalter dieser Stadt."
"Mein Name ist Legolas", lautete die Antwort des Angesprochenen. Er wusste nicht ganz, was er von dem Mann halten sollte und er fühlte sich in der Halle, unter den Augen aller, nicht sonderlich wohl. "Ich darf vorschlagen, dass wir weniger öffentliche Räume aufsuchen sollten. Dann könnt Ihr uns von Eurem Problem berichten."
"Weise gesprochen, mein elbischer Herr. Folgt mir bitte, wir begeben uns in meinen Arbeitsraum."
An dieser Stelle einen kleinen Schnitt! Eine kleine Pause für meine Helden und für mich! Ihr wollt wissen, wie es weitergeht? Dann reviewt mir bitte! Eure Demetra
Rauchende Ruinen ragten in den Himmel, ein stummes, rußgeschwärztes Mahnmahl vor schiefergrauem Morgenhimmel. Das Dorf hatte vielleicht zwanzig Gebäude gezählt und war von einer hohen Holzpalisade umgeben. In diesem Schutzwall, der an einigen Stellen bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, befanden sich in den besser erhaltenen Teilstücken große Löcher, die von Waffenhieben stammen mochten. Es sah aus, als hätten sich die Angreifer mit unglaublicher Wucht durch das Holz geschlagen und wären dann ins Innere der Ansiedlung vorgedrungen.
Der Brandgeruch, den Legolas schon vor einigen Stunden in der Luft wahrgenommen hatte, hing über ihnen wie eine unsichtbare Wolke. Sie betraten das Dorf durch das Haupttor, das völlig zerstört schief in seinen Angeln hing. Die Wachttürme an beiden Seiten waren leer, die einfachen Konstruktionen standen, wie man mit bloßem Auge erkennen konnte, kurz vor dem Zusammenbruch. Im Rund des Dorfes stand kein Stein mehr auf dem anderen. Die Häuser qualmten noch, doch der bestialische Gestank, der den Reisenden durch Mark und Bein ging, stammte nicht nur von ihnen. Es waren Tote in dieser Stadt, doch keiner davon war auf den Strassen zu sehen. Die einzigen Skelette dort waren die der liebevoll errichteten Bauten, deren durch Schnitzereien hervorgehobene Wohnlichkeit durch sinnlose Tat zerstört worden war.
Dem Tor gegenüber lag das größte Gebäude, wohl einst eine Ratshalle. Legolas wies seinen Begleitern an, sich erst einmal nicht zu bewegen. Mit vorsichtigen Schritten überquerte er den Dorfsplatz, umrundete den Brunnen und näherte sich dem Eingang der Halle. Die Decke aus massiven Eichenbalken war halb heruntergestürzt, doch ein Teil des Dachgerüsts stand noch. Er, mit dem spurlosen Tritt gesegnet, würde nicht die geringste Erschütterung auslösen, wenn er den Innenraum betrat. Das Letzte, was er wollte, war noch ein Unglück. Vorsichtig trat er ein. Rauch wehte ihm entgegen, ließ seine Augen für einen Moment tränen. Er verscheuchte den Qualm unwirsch und wagte sich weiter vor. Im vorderen Teil des Gebäudes befanden sich nur Schutt und verkohlte Gerätschaften.
Ihm fiel auf, dass einige massive Holzstücke, die vor der Tür gelegen hatten, nicht zu denen im Inneren passten, weder zu decke noch Einrichtung gehört hatten. Ein furchtbarer Gedanke kam ihm und als er über einen Blaken stieg, erlangte er Gewissheit. In einer Ecke der Halle lagen sie. Die Bewohner des Dorfes. Ihre Leichen waren zum Teil bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, nur noch Hüllen aus Asche, die der nächste Winterwind davontreiben würde. Einige, die unter den Körpern andere Menschen gelegen hatten, waren noch recht gut zu erkennen. Furchtbare Brandwunden zierten die vor Entsetzen und Todesangst verzerrten Gesichter wie ein makaberer Schmuck. Legolas blickte sie schweigend an. Dann senkte er den Kopf. Für einen Moment. Dann kehrte er auf den Dorfplatz zurück.
Aragorn und Alann schienen während seiner Erkundung nicht untätig gewesen zu sein. Sie kamen aus den Eingängen von verschiedenen Häusern, du jeder von ihnen trug etwas. Aragorn hatte die Faust um einige abgebrochene Pfeile geschlossen, Alann hielte ein große Axt fest, die sie irgendwann, als sie wieder beisammen standen, in den Staub fallen ließ.
"Habt Ihr etwas gefunden, Legolas?", fragte sie und es tat fast weh, die Hoffnung in ihrer Stimme zu hören. Er schüttelte den Kopf.
"Sie sind alle dort drin. Ungefähr 30 Personen, Kleinkinder, Frauen, alte Menschen. Die Tür wurde hinter ihnen verriegelt, dann wurde der Brand von außen gelegt. Sie hatten keine Gelegenheit, dem Inferno zu entkommen. Einige verbrannten, andere starben vermutlich zuerst an Rauchvergiftung." In gemäßigtem Ton versuchte er, seine Entdeckungen mitzuteilen, obwohl es ihm nicht leicht fiel. Er war ein Krieger, das ohne Zweifel. Im Dienste seines Vaters hatte er manche Schlacht geschlagen, manchen Schwertstreich geführt und tödlichen Pfeil verschossen. Doch vor dem Tod von Zivilisten, friedlichen Dorfbewohnern, konnte er nicht anders als erschauern. "Die Männer und die älteren Kinder fehlen. Ich nehme an, Ihre Leichen sind nicht in den anderen Häusern zu finden?"
"Nein", bestätigte Aragorn und öffnete die Hand, auf deren Fläche die Spitzen mehrere Pfeile ruhten. "Aber dies hier. Es sind wenige Pfeile, nicht gekennzeichnet. Aufschluss könnte uns die Axt bringen. Alann?"
Sie hob den Kopf, so als erwache sie gerade aus einem bösen Traum. Dann riss sie sich sichtbar zusammen, räusperte sich und berichtete knapp:
"Sie stak in einem Balken in dem Haus dort drüben. Andere liegen hier überall verstreut. Vielleicht ein Hinweis auf die Zwerge?" Letzteres sagte sie sehr vorsichtig, so als traue sie sich nicht, den überhaupt Gedanken auszusprechen.
"Hattet Ihr nicht davon berichtet, dass es die Zwerge sind, die dieses Tal mit Furcht überziehen, um es zurückzugewinnen?", bohrte Legolas und erhielt von der Elbin prompte Auskunft.
"Wie Ihr wisst, hatte ich Euch bereits erklärt, dass Meuchelmord nicht die Art der Zwerge ist, ebenso wenig wie dieser feige Überfall. Das waren Bauern mit Dreschflegeln und Hacken. Kein Zwerg, der etwas auf sich hält, würde sie als Gegner wählen. Eher würde er sich umbringen, als sich derart herabzulassen." Sie legte den Kopf schräg. "Aber das wisst Ihr natürlich. Aber ich vermute, Ihr zieht es vor, Eure obskuren Verdächtigungen ab und zu vorzubringen, damit Ihr Euch besser fühlt?"
Legolas war kurz davor, seine Fassung zu verlieren. Er hatte dafür gesorgt, dass sie weder fror, noch vom Pferd fiel oder irgendeinen anderen Unsinn machte. Er hatte sogar ihr Geheimnis bewahrt! Und dies war der Dank dafür? Ein neuer Angriff auf ihn und seine Überzeugungen. Zugegeben, er glaubte auch nicht wirklich daran, dass die stets schlecht gelaunten Bergarbeiter mit den roten Bärten die Urheber eines solchen Massakers waren. Aber wenn er eines in seinem mehr als anderthalb Jahrtausende dauernden Leben gelernt hatte, dann war es, dass auch das Unvermutete geschehen konnte.
Aragorn, der in die Hocke gegangen war, um sich die Axt näher zu besehen, hob die Hand. Legolas schluckte eine harsche Antwort herunter und auch Alan schien problemlos die Autorität des Menschen anerkennen zu können. Der vorwitzige Gedanke, ob sie das nicht auch bei ihm tun sollte, da er immerhin ihr Prinz war, ließ sich jedoch nicht zur Seite schieben.
"Keinen Streit auf frischen Gräbern", verlangte Aragorn und hob die Axt auf. Die Klinge glänzte stumpf im morgendlichen Dämmerlicht. Mit der Genauigkeit eines Kenners hielt der Waldläufer sie hoch, betrachtete sie von der Seite, wog den Stiel in der Hand und ließ einen Finger über die Schnittfläche gleiten. Dann kam er zu einem Urteil. "Dies ist keine Zwergenwaffe. Sie wurde nach genauen Vorbildern geschmiedet, und doch stimmen die Konsistenz und die Härtung des Metalls nicht. Der Kopf ist schlecht ausbalanciert und die Klinge verhältnismäßig stumpf." Er kniff die Augen zusammen und in seinem Gesicht war zu erkennen, dass er kombinierte. "Man hat sie und die anderen Waffen wohl hier hinterlegt, um die Menschen der Umgebung glauben zu lassen, dass dies ein Überfall der Zwerge war."
"Was ist mit den Dunkelelben?" Alann blickte in Richtung der Versammlungshütte und musste sichtbar schlucken. "Sie könnten hinter all dem hier stecken. Ich habe von ihnen gehört, dass sie Sklaven halten, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Legolas, Ihr sagtet doch, dass Kinder und Männer fehlen. Ist dies nicht ein Hinweis?"
"Aber warum nur diese Menschen? Es hätte sich doch auch empfohlen, die Frauen mitzunehmen - für gewisse andere Bedürfnisse!" Aragorn dachte laut mit und klang dabei nicht sonderlich feinfühlig. "Was für einen Grund könnte eine den Menschen feindlich gesinnte Gruppe haben, um auf diese seltsame Art zu handeln? Ich denke, jemand versucht, die Menschen gegen die Zwerge aufzubringen, zu welchem Vorteil auch immer. Der seit langer Zeit hier schwärende Konflikt wird durch diese Tat nur nochzusätzlich angeheizt."
Legolas wollte etwas sagen, als er etwas wahrnahm. Ein leises Geräusch, wie aus der Ferne oder Tiefe. Alann hatte es ebenfalls gehört, denn ihr Kopf ruckte herum. Sie wies wortlos auf den Dorfbrunnen in der Mitte des Platzes und zog ihren Dolch. Gemeinsam näherten sie sich dem Steinrund und Alann spähte hinein. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, rief sie in den Schacht hinein:
"Ist dort unten jemand?" Es kam keine Antwort, weshalb sie es ein zweites Mal versuchte. "Wir sind Freunde. Die Angreifer sind weg."
"Wirklich?", erklang eine verängstigt klingende Mädchenstimme. "Es ist kalt und dunkel hier unten. Holt mich doch bitte hoch!"
"Hab keine Angst!" Alann schien als Frau am ehesten dazu geeignet, das Mädchen zu beruhigen und beugte sich über den Brunnenrand. "Wir helfen Dir!" Aragorn sichtete die Kette der Wasserstelle und nickte Alann zu, während er den Eimer langsam hinabließ. "Gleich wird der Eimer bei Dir ankommen. Du musst hineinsteigen und Dich an der Kette festhalten. Dann ziehen wir Dich hoch."
Nach einem kleinen Moment klang es von unten herauf:
"Ich stehe jetzt drin. Aber ich habe Angst, herunterzufallen."
Dieses Mal antworte Aragorn, von dem Legolas wusste, dass er Kinder sehr gern mochte. Er empfand sie als das schützenswerte, schwächste Glieder in der Kette des Lebens. Legolas teilte diese Auffassung nicht unbedingt. In seinem Volk spielten die Weisen und Alte die größte Rolle, bevorzugt selbst in einer Gesellschaft, die über eine unendliche Lebensspanne verfügte.
"Ich ziehe Dich nun hoch. Hab keine Angst, ich halte Dich."
Mit aller Kraft kurbelte Aragorn an dem Quersteg, über dem sich die Kette des Brunnens aufrollte. Alann sprach weiterhin auf das Kind ein, ihre dunkle, beruhigende Stimme klang so sanft wie zu dem Moment, als sie mit ihrer Mutter gesprochen hatte. Endlich tauchte ein nasser Kinderkörper in der Öffnung auf. Alann griff zu und hob das kleine Mädchen über den Rand. Es war etwa sechs Jahre alt und trug ein schmutziges Kleid. Am ganzen Leib zitternd, kuschelte es sich sofort eng in Legolas Mantel, als Alann ihn von den eigenen Schultern nahm und dem Kind überwarf. Fragen standen in dem vom Weinen verschwollenen Gesicht mit den großen Augen, Fragen die sie nun stellen konnte.
"Wo sind meine Eltern? Mein Vater hat mich hier herabgelassen, mitten in der Nacht. Ich hatte furchtbare Angst." Sie sah sich um und schien langsam zu verstehen, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. "Er hat gesagt, dass böse Männer kommen würden und dass ich ganz still sein soll. Warum hat er mich nicht wieder rausgeholt?"
Legolas beobachtete, wie in den Gesichtern seiner Begleiter Kummer und Ratlosigkeit miteinander wechselten. Er selbst fühlte sich nicht in der Lage, dem Kind eine Antwort zu liefern, doch er ahnte, dass absolute Ehrlichkeit fehl am Platz war. Noch. Alann antwortete ausweichend und versuchte, ihren Kummer hinter einem liebevollen Lächeln zu verbergen. Legolas schoss wieder einmal der Gedanke durch den Kopf, dass diese Frau ihn bestohlen und bedroht hatte.
"Sie sind fort, Kleines. Aber vielleicht findet Du sie eines Tages wieder." Sie kniete neben der Kleinen und nahm die kleine Hand in die ihre. "Wir wollen in die Stadt reisen. Es wäre schön, wenn Du mir uns kommen könntest. Vielleicht wissen die Menschen dort, was Deinen Eltern geschehen ist."
***
Einige Meilen später später fand sich Legolas in einer sehr seltsamen Lage wieder. Er führte sein Pferd, auf dem die kleine Alis saß und ihn die ganze Zeit über mit offenem Mund anstarrte. Dabei sagte sie kein Wort, sondern schaute lediglich. Und das schon seit mehr als einer halben Stunde. Das machte ihn zugegebenermaßen nervös. Er war es schließlich nicht gewöhnt, sich mit Menschenkindern zu beschäftigen. Im Vergeleich zu denen der Elben waren diese Nachkommen meistens Schmutzig, unsäglich nervtötend und frech.
Auf Alis traf zumindest das Adjektiv "schmutzig" zu, aber er schätzte, dass ein paar Stunden in einem Brunnen jedes lebende Wesen in diesen Zustand versetzen würde. Nun, keine Elben. Es war außerordentlich vorteilhaft, auf dem Wasser gehen zu können. Er räusperte sich.
"Hast Du eine Frage?", erkundigte er sich ungeduldig bei dem Kind, die abrupt den Mund zuklappte und unter der Dreckschicht blutrot anlief. Das hatte zur Folge, dass sich Alann, die auf der anderen Seite des Pferdes ging, einen missbilligenden Blick zu ihm herübersandte.
"Ihr macht ihr Angst", schalt sie ihn wie einen Eleven und lächelte das Kind an. "Es sind seine Ohren, oder, Süße?"
Es wurde immer schlimmer. Nun warf die unausstehliche Person schon mit Kosewörtern um sich, als sei sie auf einem Sommerausflug und nicht auf einer eventuell tödlich endenden Reise ins Herz eines Krisengebiets. Und wollte eine Diskussion über seine Ohren beginnen.
"Ich wünschte, Ihr würdet Euch ausschlafen und weniger ungenießbar sein!", murmelte er vor sich hin und vergaß dabei ihr überaus elbisches Gehör. Sie hingegen erinnerte sich dieser Eigenart sehr gut und flüsterte im selben Tonfall:
"Sie ist ein Kind, Herr. Ein verängstigtes Kind, das nicht verstehen kann, was geschehen ist. Für sie zählen nicht verstreichende Meilen oder Beweise für eine Täterschaft. Sie staunt nur über etwas, das sie nicht kennt. Also seid bitte freundlich."
"Über wen sprecht Ihr, Frau? Über Euch oder das Mädchen?", erkundigte er sich und spielte auf ihre Erzählung aus dem Wald bei Heyd an. Er sah, wie sie ein wenig blass wurde und erinnerte sich an den Moment, der ihr Leben derart verändert hatte. Damals war er gerade von einem Spähposten am Rande des nördlichen Düsterwaldes zurückgekehrt, gerade rechtzeitig, um die Versammlung des Rates mitzuerleben. Er hatte Tylandriel sein ganzes Leben lang gekannt. Sie hatte seiner Mutter mehr als einmal das Leben gerettet. Sie hatten schon gekämpft, als die Menschen noch nicht einmal von sich als solche sprachen und die Sprache der Elben noch die Alte war. Dass ihr Kind nicht von ihrem elbischen Gefährten stammte, war damals ein offenes Geheimnis gewesen, doch irgendwann hatte diesre Gefährte, Toralin, sein Schweigen gebrochen und sich der peinlichen Befragung des Ältesten unterworfen.
Es war ein Fall wie viele andere gewesen, denen er beigewohnt hatte und fast wäre das kleine, rothaarige Elbenmädchen, die sich an der Hand ihrer Mutter festklammerte wie eine Ertrinkende an einem Baumstamm, in seinem Leben in Vergessenheit geraten - wenn es nicht in Gestalt einer Erwachsenen durch tausend Zufälle in sein Leben zurückgekehrt wäre und ihn nun in mannigfaltiger Art quälte. Er blickte auf die ineinander verschränkten Hände von einer Frau und einem Mädchen, doch dieses Mal in dieser Zeit und wusste, dass er sich seine Frage selbst beantworten konnte. Ein wenig Freundlichkeit, das war es, was ein kleines Mädchen wollte.
Ein Ruf Aragorns ließ ihn seine Aufmerksamkeit von dem Bild, einer Verschmelzung von Gegenart und Vergangenheit, abwenden. Sie bogen gerade um eine Kurve in der immer breiter werdenden Strasse und mit einem Mal bot sich vor ihnen das Bild der Stadt, die sie suchten. Es war eher eine Art Feste, bekränzt von einer halbhohen Steinmauer, auf der Wachposten patrouillierten. Ein großes Holztor verschloss die Ansiedlung zur Strasse hin. Mit bloßem Auge konnte man erkennen, dass sich hinter dem Tor ein kleiner Hof befinden musste. Die Felsen, die sich vor ihnen auftürmten, schlossen sich unmittelbar an die Mauern an und liefen dann von beiden Seiten des Zugangs weiter. Die Strasse schlängelte sich nach links an der Felswand weiter, doch zu ihrer Rechten gab es nur schroffes Gestein. Legolas bewunderte die Bauweise. Das Problem war strategisch gelöst worden. Ausläufer der Felsen bildeten offensichtlich im Hof einen weiteren, natürlichen Durchgang zum Rest der Stadt. Dieser Engpass würde gut zu verteidigen sein.
Die Stadtwache wurde unterdes auf sie aufmerksam und als sie das verschlossene Tor erreichten, rief ihnen eine scharfe Stimme entgegen:
"Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?" Ein halbes Dutzend Bögen und Armbrüste wurden auf die gerichtet, deren stählernen Spitzen in der bleichen Sonne funkelten. "Fremde sind hier nicht willkommen!"
Aragorn trat vor, die Hände in einer Geste des Friedens ausgestreckt. Hoch aufgerichtet, den Kopf erhoben, verwandelte er sich vor den Augen der Anwesenden in das, was er zu sein stets von sich wies. Ein Herrscher. Legolas hatte diese Metamorphose schon einige Male erlebt, doch sie erstaunte ihn immer wieder. Die Wirkung auf die anderen war sichtbar. Alann wirkte verwundert und die Stadtwachen begannen zu flüstern.
"Ich bin Aragorn, Arathorns Sohn, ein Waldläufer. Mit mir reisen Legolas und Alann vom Schönen Volk. Wir kamen durch das Dorf westlich von hier. Es wurde dem Erdboden gleich gemacht. Wir konnten eine Überlebende bergen und erbitten nun Eure Gastfreundschaft. Hinter uns liegt eine anstrengende Reise. Wir hörten von Euren Problemen und kommen, um zu helfen."
Die Soldaten flüsterten miteinander und schließlich öffnete sich auf einen Ruf hin das Tor. Zwei Männer schoben dessen Flügel auf und die Gefährten, die ihre Pferde am Zügel führten, traten ein. Im Innenhof befanden sich einige Ställe und eine Schmiede, in der ein bulliger Schmied auf ein Stück Metall hämmerte. Der Klang des Hammers schallte ihnen entgegen, ein vertrautes und seltsam beruhigendes Geräusch. Von der Zinne führte eine Steintreppe hinunter, über die ihnen ein schwer bewaffneter Mann entgegenkam. Er war groß, dunkel und muskulös, sein Gesicht war von tiefen Falten der Sorge zerfurcht. Dennoch lächelte er, während er seinen Blick über die kleine Gruppe schweifen ließ.
"Ich bin Roviel, Anführer der Wache. Seid gegrüßt und willkommen in Bergstadt. Ich werde Euch zum Herrn dieser Stadt geleiten. Folgt mir bitte." Ohne auf eine Antwort zu warten, machte er kehrt und marschierte zwischen den Felsen hindurch und so blieb der Gruppe nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Wachsam merkte sich Legolas jedes Details, während sie tiefer in die Stadt vordrangen. Nach der Felsenpforte öffnete sich eine kleine, dicht besiedelte Ebene vor ihnen. Anders als in dem Dorf waren die kleinen Häuser hier aus massivem Stein. Im Westen war eine weitere Mauer zu sehen, im Osten übernahmen die Berge den Schutz der Bewohner. Überall waren Menschen zu sehen, jeder dritte von ihnen war bewaffnet. Es schien, als erwarteten die einfachen Leute Probleme. Aus ihren Gesichtern war ihre Angst und ihr Misstrauen lesen, als sie die Fremden musterten. Roviel führte sie mit entschlossenem Schritt durch die engen Gassen, in denen das Leben pulsierte. Händler priesen ihre Waren an, ein Bäcker zog einen zerlumpten Jungen am Ohr, da dieser ein Brot dilettantisch in seinem Hosenbund versteckt hatte. Es war eine Szene, wie sie sich überall in Mittelerde hätte abspielen können. Doch über allem lag Furcht. Legolas fühlte sich angestarrt, hob das Kinn. Alann kämmte ihre Haare über die Ohren und redet leise auf Alis ein, die verschreckt wirkte. Die Strasse führte sie zu einem großen, mehrstöckigen Gebäude in der Mitte der Stadt, vor dem einige Soldaten Wache standen. Auf Roviels Wink hin eilten sie heran. "Wir werden Eure Pferde versorgen und tränken. Der Stall befindet sich im Haus, ebenso wie die Quartiere für Gäste. Eure Sachen werden dorthin gebracht, und Ihr könnte Euch ausruhen, bis der Herr Euch empfangen kann."
Legolas und Aragorn verständigten sich wortlos. Es gab nichts, was ihr Misstrauen erregt hatte und deshalb entschlossen sie sich, das Angebot wahrzunehmen. Sie überließen die Tiere den kundigen Händen der Wachen und traten dann, geführt von Roviel, ein.
***
In der großen Halle brannte ein Feuer, das sie mit einem matten Licht ausleuchtete. Die aus massiven Balken errichtete Kassettendecke, die das Russ dunkel gefärbt hatte, ließ den Raum kleiner erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Wilde Hund jagten sich um den Bratspieß, auf dem ein Schaf briet, immer wieder vertrieben von einem kleinen Pagen. Die Bänke und Tische waren nur spärlich besetzt, mit müden Kriegern und einigen schwer einzuschätzenden Gestalten. Legolas und Aragorn saßen unter ihnen und aßen zu Abend. Aragorn langte tüchtig bei Fleisch und Brot zu, während Legolas misstrauisch in seinem Kohleintopf herumrührte und ab und zu einen Löffel probierten. Sie hatten seit dem Mittag in ihren kleinen, aber zweckmäßig ausgestatteten Zimmern geruht und waren auf Geheiß Roviels zum Essen erschienen. Der Herr der Stadt hatte sich bisher nicht blicken lassen. Und auch eine weitere Person fehlte.
Legolas fragte sich, wo Alann sein mochte, aber er schätzte, dass sie entweder noch schlief oder sich um das kleine Mädchen kümmerte. Mütterliche Instinkte hätte er ihr nicht zugetraut, aber sie pflegte ja bekanntlich immer eine Überraschung bereit zu haben. Daran musste man sich bei ihr gewöhnen. Solange die nächste Überraschung kein Dolch im Rücken war, machte ihm das nichts aus. Eigentlich machte er sich viel zu viele Gedanken um sie.
Die Tür zur Halle öffnete sich und die Halbelbin trat ein. Sie trug wieder das Kleid aus der Nacht in Heyd, hatte die Haare ordentlich geflochten und wurde von einem älteren Mann in edler Kleidung begleitet. Ihre Hand ruhte in seiner Armbeuge und sie lachte über eine leise Bemerkung, die er ihr zuraunte. Aragorn bemerkte die beiden ebenfalls und stellte seinen Kelch, aus dem er gerade trinken wollte, mit einer heftigen Bewegung ab. Dann erhob er sich.
"Das ist er", raunte er Legolas zu, der dem Beispiel des Freundes folgte. Sie traten auf das Paar zu, das ihnen entgegenblickte. Der ältere Mann wirkte überrascht.
"Streicher!", rief er mit sonorer, vor Hoffnung vibrierender Stimme. "Man hat mir zwar gemeldet, dass ich Gäste hätte, aber dass Du noch herkommen würdest, hätte ich nie gedacht. Also hat Goran Dich erreicht?"
Aragorn schüttelte dem anderen Mann die Hand. Legolas wusste nicht, was sie verband, aber es schienen sich einige Teile des Rätsels, das sie zu lösen hatten, aufzuklären.
"Ja und Nein", antwortete der Waldläufer und seine Miene bezeugte seine Trauer. "Unser alter Freund wurde ermordet. Er hat mir zwei Nachrichten geschickt, aber darin wurde nie klar, worum es geht oder wohin genau wir gehen mussten. Deshalb kam ich nicht früher hier an. Alann hat uns in dieses Tal geführt."
"Dann ist sie ebenso charmant wie kundig", schmeichelte ihr der Stadtherr und bewirkte, dass die Elbin rot anlief. Dann wandte er sich Legolas zu. "Aber zunächst möchte ich mich auch Eurem Freund vorstellen. Wir haben in diesem Tal noch niemals eine Elben gesehen, und deswegen ist es mir eine doppelte Freude. Mein Name ist Anthanas. Ich bin der Verwalter dieser Stadt."
"Mein Name ist Legolas", lautete die Antwort des Angesprochenen. Er wusste nicht ganz, was er von dem Mann halten sollte und er fühlte sich in der Halle, unter den Augen aller, nicht sonderlich wohl. "Ich darf vorschlagen, dass wir weniger öffentliche Räume aufsuchen sollten. Dann könnt Ihr uns von Eurem Problem berichten."
"Weise gesprochen, mein elbischer Herr. Folgt mir bitte, wir begeben uns in meinen Arbeitsraum."
An dieser Stelle einen kleinen Schnitt! Eine kleine Pause für meine Helden und für mich! Ihr wollt wissen, wie es weitergeht? Dann reviewt mir bitte! Eure Demetra
