Teil 6 - Bergstadt
Sie begaben sich in einen kleinen Raum an der Stirnseite der Halle. Den verschwenderischen Luxus, den man aufgrund des gepflegten Anblicks des Edelmannes erwartet hatte, gab es nicht. Stattdessen sah Aragorn hohe Regale mit Büchern, Waffen und eine mit Dutzenden Pergamenten bedeckten Schreibtisch. Die geschmeidige Gestalt ihres Gastgebers zeugte davon, dass er die Rüstung, die an der Wand hing, nicht nur zur Zierde besaß und seine großen, sehnigen Hände sprachen von zahlreichen Kampfesübungen. Das verwunderte Aragorn nicht weiter. Er, Goran und Anthanas hatten so manche Schlacht geschlagen und manchen Pokal geleert Das alles schien für ihn vor unendlich langer Zeit geschehen zu sein. Bevor ihn seine Berufung jeden Tag und jede Nacht beschäftigte. Als er noch jung und sorglos gewesen war. "Setzt Euch bitte. Was ich zu berichten habe, wiegt schwer." Es klopfte und Roviel betrat ungebeten den Raum. Doch Anthanas machte das nichts aus, im Gegenteil. "Ihr habt meinen besten Mann schon kennengelernt. Ihm verdanken wir, dass das Chaos noch nicht über diese Stadt hereingebrochen ist."
Der Stadtherr nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und seufzte. Er benötigte einige Zeit, um sich zu sammeln, dann begann er, mit gefasster Stimme zu berichten:
"Es begann etwas vor drei Monaten. Aus den Dörfern erreichten mich mehr und mehr Berichte, dass Kinder und Männer einfach verschwanden, von Wanderungen oder auch einfach des Nachts aus ihren Betten. Die Dörfler bekamen es mit der Angst zu tun, da sie stets Dämonen in der Dunkelheit vermuten und begannen sich zu wehren." Er klang nicht spöttisch, sondern sehr nachdenklich. "Vielleicht sind es Dämonen. Nun ja, die Vorfälle wurden zu Überfällen. Menschen starben, andere verschwanden. Auch hier in der Stadt begann es, obwohl wir in unserer Ignoranz gedacht hatten, dass es uns nicht treffen würde." Er massierte seine Nasenwurzel mit den Fingern, Zeichen seine Anspannung. "Ich schickte Goran, meinen alten Freund und rechte Hand, aus dem Tal, er sollte Hilfe suchen. Doch diese traurige Nachricht, die Ihr, Aragorn, mir überbrachtet, war die einzige, die ich von ihm erhielt. Er mögen in Frieden ruhen." Anthanas sprang auf und begann, energisch auf und ab zu gehen. "Wir wissen nicht, wer sie sind, da sie stets schwarze Kapuzen tragen und wie Schatten herumhuschen."
"Wisst Ihr von dem Überfall auf das Dorf?", erkundigte sich Legolas und erntete ein schmerzliches Nicken.
"Wir sahen es brennen und schickten noch in der Nacht eine Gruppe Männer aus. Sie kamen nicht zurück. Es ist wahrlich keine Ruhmestat, aber wir durften nicht riskieren, noch mehr zu verlieren. Deswegen warteten wir auf den Mittag, bevor wir uns dorthin begaben. Während wir über die eine Strasse ins Dorf eilten, müsst Ihr wohl über die andere zu uns gekommen sein. Im Licht sind wir unseren Gegnern ebenbürtig, aber in Dunkelheit und Dämmerung sind sie schneller als jedes Auge." Anthanas seufzte erneut und er wirkte schwer gezeichnet von den Vorfällen. "Wir haben keinen einzigen Toten von ihnen gefunden, der in stummer Art etwas mehr erzählen könnte. Es gibt Beweise für ihre Identität, aber ich glaube diesen Fingerzeigen nicht."
"Zwergenäxte?", erkundigte sich Aragorn düster. "Die haben wir gesehen."
"Eben jene. Aber Ihr könnte mir nicht erzählen, dass es tatsächlich Zwerge gewesen sind. Dazu sah ich zuviel von der Welt, als dass man mich so einfach täuschen könnte. Aber mein Volk weißt nichts von Zwergenhandwerk, sie sehen nur die Toten und die angeblichen Beweise. Die Stimmung ist gedrückt. Man ist zornig und von Tag zu Tag mehr bereit, loszuziehen und die Zwergenhöhle dem Erdboden gleich zu machen."
"Wir wurden von Dunkelelben angegriffen und verfolgt. Gibt es solche in diesem Tal?" Alann, die etwas unbehaglich auf ihrem hohen, geschnitzten Stuhl saß, meldete sich zum ersten Mal an diesem Abend zu Wort.
"Dunkeleben? Seid Ihr sicher?" Anthanas runzelte die silbrigen Brauen.
"Ganz sicher", bestätigte Alan ernst. "Und sie schienen sehr darauf bedacht, uns abzufangen, bevor wir das Tal betreten konnten. Zu unserem Glück erhielten wir Hilfe. "
Roviel, der bisher ruhig an der Wand gelehnt und dem Gespräch gelauscht hatte, beugte sich interessiert vor.
"Hilfe welcher Art?", wollte er wissen. Alann gab ihm daraufhin einen kurzen Bericht der Ereignisse auf dem Friedhof. Nachdem sie geendet hatte, nickte der Krieger. "Ihr hattet Glück, dass Ihr die Gegend kennt. Wenn Ihr nur eine Waffe blank gezogen hättet, wäret auch Ihr angegriffen worden. Das Feld der Seelen wurde einst von einem mächtigen Magier mit diesem Zauber versehen. Er bewohnte das Schloss unter dem Eisfelsen und regierte von dort aus dieses Tal. Eines Tages beschloss er, fortzugehen und das Schloss fiel zusammen, als hätte es allein durch seine Anwesenheit gestanden und als wolle er dafür sorgen, dass das, was im Schloss lagerte, von niemandem gefunden werden würde."
"Was war Wertvolles in diesem Schloss?" Legolas war hellhörig geworden.
"Oh, das weiß niemand so genau", antwortete Roviel und ließ sich wieder in den Schatten der Mauer zurücksinken. "Aber wenn Ihr mich fragt, alles Aberglaube und dummes Geschwätz der Alten."
Anthanas verschränkte die langen Finger und räusperte sich.
"Zurück zur Sache. Wir sind verzweifelt. Ein Dorf haben wir verloren, aus dem anderen erreichen von Stunde zu Stunde mehr verängstigte Bauern unserer Mauern und suchen Schutz. Zwar sind unsere Kornkammern gefüllt, doch eine Belagerung - und darauf könnte es herauslaufen - würden wir nicht länger als drei Wochen überstehen."
Aragorn grübelte, während er mit halbem Ohr die Erzählung verfolgte. Ein Gedanke drängte sich ihm auf, doch er konnte ihn nicht recht fassen. All die Ereignisse der vergangenen Zeit ordneten sich in seinem Kopf zu einem verworrenen Bild. Wenn es tatsächlich Dunkelelben waren - und er zweifelte inzwischen nicht mehr daran -, warum entführten sie Menschen. Und welche Rolle spielten die Zwerge? Wusste sie Bescheid über die Vorgänge im Tal? Höchstwahrscheinlich, obwohl sie oftmals dazu neigten, die Welt außerhalb ihrer hohen Steinkammern völlig zu ignorieren. Er musste es herausfinden.
"Habt Ihr Euch bereits mit den Zwergen in Verbindung gesetzt?", verlangte er zu wissen. "Vielleicht könnten Verhandlungen Eure Probleme klären?"
"Eine Patrouille, die dies versuchte, wurde mit einem Hagel von Felsbrocken und glänzendem Stahl begrüßt. Das sahen meine Leute als Zeichen, dass es die Zwerge auf keinen Fall gut mit uns meinen. Ich wage es ehrlich gesagt nicht, mich offen gegen sie zu stellen. Sie vertrauen mir, doch die Stimmung ist derart angespannt, dass ich mir gut vorstellen könnte, das ihre Aggression auf mich zurückfällt, wenn ich in ihren Augen einen verrat begehen würde."
"Und deshalb habt Ihr nach Hilfe von außen gerufen", schloss Aragorn und sah an dem Glitzern im Auge seines Gegenübers, dass er richtig lag.
"Ich bin ein alter Mann, Aragorn, und nicht mehr so risikofreudig wie vielleicht noch vor 10 Jahren, als wir an den Trollhöhen das Nest von Ghulen ausräucherten. Die Zeiten sind ein für allemal vorbei. Ich bin für eine Stadt verantwortlich, nicht mehr nur für mich." Anthanas sprach ehrlich und offen, was ihm Aragorn hoch anrechnete. "Ihr wisst, welches Risiko Ihr eingehen müsstet, um mir zu helfen. Um uns alle zu helfen."
"Ich werde zu den Zwergen gehen", bot Aragorn nach kurzer Überlegung seinem alten Weggefährten an. Auf der Basis all dessen, was er gehört hatte, konnte er es guten Gewissens tun. "Gebt mir einige Männer, aber nicht so viele, dass es wie eine Bedrohung aussehen könnte. Und ja, ich weiß, welchem Risiko ich mich aussetze.""
Stille trat ein. Aragorn las in den Gesichtern wie in offenen Büchern. Legolas schien bereit, von der Stuhlkante aufzuspringen und zu handeln. Anthanas wirkte zur selben Zeit besorgt und erleichtert. Alan starrte auf ihre Hände und wich seinem Blick aus. Sie schien nicht zu billigen, was er zu tun gedachte. Roviel brach die Zeit der Wortlosigkeit zuerst.
"Es wäre eine Ehre, wenn ich Euch begleiten dürfte", sagte er grimmig, doch Aragorn winkte ab.
"Ich danke Euch für das Angebot, mein Freund, aber diese Feste braucht die besten Männer. Es könnte zu jeder Zeit wieder zum Angriff kommen und ich möchte nichts riskieren."
Roviel stutzte, deutete dann aber nach einem Blickwechsel mit Anthanas eine leichte Verbeugung an. Er hatte verstanden.
"Ich nehme an, Ihr werdet uns ebenfalls hier lassen, nicht wahr?", wollte Alann wissen und sah wieder auf. Sie schien seltsam unsicher, doch was Aragorn als Erstes auffiel, war, dass sie von sich und Legolas als "uns" gesprochen hatte. "Wenn die Zwerge spitze Ohren sehen, dürfte uns wohl mehr als eine Axt entgegenfliegen."
"Legolas?" Aragorn blickte zu seinem Freund, der lediglich nickte.
Anthanas erhob sich, als Zeichen, dass die Unterredung beendet war.
"Ich danke Euch Aragorn, für diesen mutigen Schritt, und Euch anderen dafür, dass Ihr mir hier zur Seite stehen wollt. Ich schlage vor, dass Eure reise zu den Höhlen der zwerge erst morgen früh beginnt. Ihr hattet eine lange Reise und es nützt nichts, wenn Ihr nicht im Vollbesitz Eurer Kräfte seid. Also, genießt unsere bescheidene Gastfreundschaft und versucht unsere Wein, ein guter Tropfen." Er lächelte und auf einmal meinet Aragorn in diesem würdigen Herrn den rauflustigen, dem Alkohol nie abgeneigten Kampfesbruder wiederzuerkennen. "Wir haben hier oben oft ein scharfes Lüftchen, aber es gibt im Berg eine heißen Quelle, die es uns erlaubt, auf einem der Hänge darüber einige Reben stehen zu lassen." Er schritt zur Tür, die Roviel für ihn öffnete und ging hinaus. Die drei Reisenden folgten ihm wieder in die Halle hinaus, die sich in der Zeit ihres Gespräches merklich gefüllt hatte. Ärmlich gekleidete Bauern saßen auf den Bänken und taten sich an den Nahrungsmitteln gütlich. Sie hatten teilweise ihre Habe bei sich, die überall auf dem Boden verteilt lag. Tiere liefen umher, klein Ziegen und einige Hühner.
Aragorn lachte leise, als er Legolas entgeisterten Gesichtsaudruck sah. Die Elben hätten niemals einen Raum mit Tieren geteilt, es sei denn, sie waren sauber und in ihren Augen edel. Anscheinend um sich abzulenken, begann der Elb ein Gespräch mit Roviel, das sich um Bogen und deren Bespannung drehte. Die beiden gingen hinaus, ebenso Anthanas, der müde wirkte, sichtlich gealtert in der Zeit, in der Aragorn und er sich nicht gesehen hatten.
Alann stand stumm neben ihm und besah sich das Chaos, sichtlich erschüttert.
"Die armen Menschen", sagte sie leise. "Es muss furchtbar sein, seinen Besitz zurückzulassen, alles, was man sich ein Leben lang aufgebaut hat. Manchmal glaube ich, es ist gut, nichts zu haben außer sein Leben und die Kleidung, die man am Körper trägt. Was man nicht besitzt, kann man nicht vermissen."
"Ihr seid erstaunlich einfühlsam für eine skrupellose Verbrecherin", scherzte Aragorn, um sie aufzuheitern. Alann lachte ihn an.
"Also, offen gesagt, ich bin nie eine gute Diebin gewesen. Mit Drag, meinem Komplizen aus der Stadt, habe ich in jener Nacht zum ersten Mal zusammengearbeitet. Gut, dass er mich derart ausgenutzt hat, als ich eine Schwäche zeigte. Sonst wäre ich wahrscheinlich noch so geworden wie er." Sie schnitt eine Grimasse.
"Mitgefühl und Erbarmen sind keine Schwächen", belehrte sie Aragorn und kam sich ein Stück weit vor wie Elrond, der stets mahnte und über allem schwebte wie die Weisheit in Person. Wurde er langsam langweilig? Zum Glück schien sie ihm seine Lektion nicht übel zu nehmen und so beschloss er, das Thema zu wechseln. "Wie geht es dem Mädchen?"
"Sie schläft. Morgen werde ich ihr wohl erklären müssen, was mit ihren Eltern geschehen ist. Die Mutter tot, der Vater verschleppt. Das ist nichts, worauf ich mich freue."
"Ihr wisst, dass Ihr noch immer gehen könnt, wenn Ihr es wünscht. Hier bekommt Ihr ein Pferd und ich denke, das Anthanas sich auch anders erkenntlich zeigen würde. Es ist nicht nötig, dass Ihr Eich weiterhin in Gefahr begebt, Alann." Eine Reihe von Emotionen spiegelte sich in ihrer Miene. Erstaunen, ein flüchtiger Hauch von Ärger, Nachdenklichkeit. Dann lächelte sie wieder.
"Ich weiß, dass Ihr Euch Sorgen um mich macht. Aber ich glaube, dass ich hier besser aufgehoben bin als auf dem Rücken eines Pferdes in den Bergen. In jeder Hinsicht."
Sie musste nicht ausführen, was sie dachte. In mancherlei Hinsicht war sie für ihn leicht zu durchschauen. Fürsorglichkeit schien einer ihrer stärksten, wenn auch vernachlässigten Charakterzüge zu sein. Er hatte dies in der Art erkannt, in der sie sich um Legolas während seiner Verwundung und die kleine Alis gekümmert hatte. Sie war ebenso eine gute Kämpferin wie ein guter Mensch und ihr Potential durfte nicht verkümmern an der Engstirnigkeit der Welt. Er nahm sich fest vor, ihr nach dem Ende ihrer Aufgabe den Rat zu geben, nach Bruchtal zu gehen. Dort, in Elronds Haus, das sich auf einen Halbelben gründete, würde sie ihre verleugnete Identität finden und ihre Fähigkeiten konnten erblühen. Noch war es zu früh für diesen Vorschlag. Zunächst musste sie sich mit dem Leben jenseits ihres kleinen Erfahrungshorizontes auseinandersetzen. Und vor allem mit Elben, die nicht immer freundlich und sorglos waren, sondern oftmals kalt und gleichgültig. Legolas war ein guter Lehrmeister für das, was sie in Bruchtal und in der Welt erwarten würde. Und da sie sich von ihm nicht einschüchtern ließ, war er guter Hoffnung, dass sie seinen Vorschlag annehmen würde.
"Nun gut", sagte Aragorn. "Lasst uns heute Abend noch ein paar Mal die Klinge kreuzen. Ich will nicht schwarzsehen, aber es könnte Euch schon bald nützlich sein."
***
Die Dämmerung kroch über die Berge, als Aragorn den Vorhof der Bergstadt betrat. Dort herrschte trotz der frühen Stunde bereits geschäftiges Treiben. Pferde wurden gesattelt und Waffen von der Schmiede herübergetragen. Fünf Männer hatten Anthanas bereitgestellt, der selbstverständlich auch erschienen war, um die Vorbereitungen zu überwachen. Der Stadtvorsteher lief herum, erteilte Befehle an alle und jeden und konnte nicht verhehlen, dass er sich große Sorgen machte. Der alte Mann wirkte übernächtig und die Last seiner Jahre wurde in der dieser Morgenstunde von der bleichen Sonne gnadenlos ausgeleuchtet.
Legolas und Alann standen ein wenig abseits der Aufregung und schwiegen sich wie üblich an. Aragorn trat zu ihnen.
"Wenn ich oder die anderen Männer innerhalb von zwei Tagen nicht zurückkommen oder eine Nachricht senden, überlasse ich es Eurem Ermessen, wie Ihr reagiert. Sprecht Euch mit Anthanas ab. Mehr kann ich Euch nicht raten." Er lächelte Alann an, die aussah, als würde sie jeden Moment anfangen, ihn von seinem Auftrag abbringen zu wollen. Dann winkte er Legolas. Die beiden Männer gingen eine paar Schritte über den Hof, bis sich Aragorn sicher war, dass Alanns scharfe Ohren ihr Gespräch nicht mitanhören konnten. "Ich denke nicht, dass ich Dir viel sagen muss, mein Freund."
Legolas blickte nachdenklich über die Zinnen der Mauern und nickte langsam.
"Ich habe in dieser Nacht in den Wind gelauscht und das Klirren von Waffen und das Atmen vieler Lebewesen gehört. Noch verhalten sie sich still. Aber das muss nicht so bleiben."
Ein Ruf von der Zinne unterbrach sie. Ein Späher deutete hinaus ins Umland. Anthanas rief herauf.
"Was gibt es, Mann?"
"Eine große Gruppe nähert sich uns." Und dann, nach kurzer Pause. "Es sind Bauern."
"Öffnet das Tor!" Zwei Soldaten beeilten sich, dem Befehl nachzukommen und es dauerte nicht lange, bis eine lange Schlange von müden Menschen durch die Tor hereinkam. Es waren Männer, die auf kleinen Karren ihre Besitztümer hinter sich her zogen und Frauen, die ihre schreienden Kinder auf dem Arm trugen. Einige Gesichter waren schmutzig und verschmiert, andere mit Wunden bedeckt. Man sah ihnen an, dass diese Menschen gekämpft hatten. Ein Mann, ein blonder Hüne, der den rechten Arm in einer Schlinge trug, löst sich aus der Gruppe und ging auf Anthanas zu.
"Herr!", sagte er, mühsam beherrscht. "Ihr müsst etwas tun. Sie haben fünfzehn Kinder und acht Männer verschleppt und es wäre noch viel mehr geworden, wenn wir nicht vorbereitet gewesen wären." Er ballte seine funktionsfähige Faust und starrte grimmig ins Leere. "Wir sollten uns endlich wehren und die Höhle der Mistkerle ausräuchern."
Anthanas wirkte ebenso blass wie die Bauern, die von helfenden Händen ins Innere der Stadt weitergeleitet wurden.
"Ihr seid erst einmal in Sicherheit", beschwor er den verständlicherweise wütenden Mann. "Aber wir dürfen nicht überstürzen, sonst machen wir vielleicht einen tödlichen Fehler. Ein Freund von mir reitet noch heute zu den Zwergen, um sich ein Bild zu machen."
"Was soll es denn für ein Bild sein?", schimpfte der Bauern und stapfte davon. "Diese verdammten Mörder!"
Anthanas sank ein Stück in sich zusammen und blickte zu Aragorn.
"Jetzt seht Ihr, wie kurz wir vor einer Katastrophe stehen", murmelte er und zog sich dann nachdenklich zurück.
Aragorn schwieg, während er den Zug der Menschen beobachtete, die an ihm vorbeilief. Dann nahm er seine unterbrochene Unterhaltung mit Legolas wieder auf.
"Ich weiß nicht, ob man hier auf Dich hören wird, wenn es hart auf hart kommt. Aber Du bist hier wahrscheinlich der Vernünftigste und kannst diese Leute am ehesten vor sich selbst beschützen. Und da wir gerade beim Beschützen sind." Er wies auf Alann, die gerade abgelenkt war und sich mit einem der Pferdeknechte unterhielt. "Sie hat im Kampf große Fortschritte gemacht und weiß sich auch sonst recht gut zu helfen. Aber hab trotzdem ein Auge auf sie. Es würde mich freuen, wenn Ihr Euch einmal nicht streiten, sondern zusammenarbeiten würdet."
"Elben fangen selten einen Streit an", wies Legolas den Vorwurf von sich und wirkte prinzlich und arrogant wie nie. Aragorn lächelte in sich hinein. "Es ist nicht meine Schuld, wenn sie ständig eine Auseinandersetzung beginnt."
"In die Du natürlich mit vollem Herzen einsteigst. Rede Dich doch nicht immer mit Deiner angeblichen Überlegenheit heraus!" Obwohl Aragorn seine Worte mit Bedacht wählte und in freundlichem Tonfall formulierte, musste er das, was ihm seit Beginn ihrer Reise auf dem Herzen lag, endlich aussprechen. "Wenn Du in Dich hineinsiehst, wirst Du erkennen, dass sie nicht mehr dieselbe ist. Sie hat sich mit ihren Handlungen Deinen Respekt und Deine Freundschaft verdient. Also tu mir den Gefallen und vergiss Eure schlechten Start." Nach dieser Standpauke, wie er sie seinem Freund noch nie gehalten hatte, grinste Aragorn plötzlich. Ja, er klang wirklich wie Elrond. "Verbohrte Elfen."
Legolas sagte gar nichts, weshalb der Waldläufer das Gespräch als beendet ansah und zu seinem Pferd ging. Er überprüfte seine Ausrüstung. Außer einem Schwert und etwas Verpflegung nahm er nichts mit. Bei dem Gedanken, dass sein wahres Schwert, die zerbrochene Klinge Narsil, in Bruchtal lag und auf ihn wartet, damit er es zusammen mit seiner Vergangenheit und Zukunft ergriff, zog sich etwas in seinem Magen zusammen. Er schwang sich in den Sattel und klopfte seinem Pferd aufmunternd auf den Hals. Legolas trat zu ihm und nickte ihm wortlos zu. Es war schwer zu sagen, ob der Elb wütend oder nachdenklich war, denn sein ebenmäßiges Gesicht verriet nichts. Alann eilte ebenfalls herbei und trug wie stets das Herz auf der Zunge.
"Ich wünschte, die ganze Sache wäre schon vorbei und Ihr wieder bei uns. Passt auf Euch auf."
"Es wird nichts geschehen!", versprach er optimistisch. Dann ließ er sein Pferd antraben und ritt mit den Männern aus dem Hof.
***
Sie folgten dem Pfad, der um die Stadt herumführte und passierten dabei auch die hohe Westmauer. Aus alter Gewohnheit betrachtet Aragorn das Bauwerk und suchte es auf mögliche Schwachstellen ab, doch er fand keinen Fehl daran. Die Mauer war hoch und auf Felsen gebaut, für Leitern nicht zu erreichen. Gute Kletterer mochten eine Chance haben, doch sie durften nicht allzu schwer bewaffnet sein. Falls es einen Angriff geben würde, dann würde sich dieser auf das Tor konzentrieren.
Er blickte zu den Männern, die ihn begleiteten. Es waren fünf gestandene Krieger, die nicht begeistert davon waren, zu verhandeln. Er hoffte, dass sie sich gut genug unter Kontrolle hatten, falls es zu einer Auseinandersetzung kam. Zwerge waren nicht unbedingt Meister der Diplomatie und lösten Probleme gern auch einmal vorschnell mit der Waffe. Dennoch war Aragorn selten einem Zwerg begegnet, der ohne Sinn grausam war. Mächtige Krieger, sture Bergleute und groß im Feiern, das waren sie.
Sie folgten der Strasse Richtung Nordosten, ritten breit gefächert, um möglichst viel der Gegend im Auge behalten zu können. Einer der Männer ritt sogar einige hundert Meter vor ihnen, um eine mögliche Falle aufspüren zu können. Die Geräusche, die Legolas in der Nacht wahrgenommen hatte, waren in dieser Gegend nicht wahrzunehmen, was Aragorns Gefühl, dass sich ein Angriff wahrscheinlich auf die Stadt beschränken würde, bestätigte. Seine größte Hoffnung war, die Zwerge davon überzeugen zu können, den Menschen in ihrem Kampf beizustehen. Doch die Chancen dafür standen sicher nicht gut. Wenn die Zwerge mitbekommen hatten, was den Dorfbewohnern geschehen war, würden sie Fremden gegenüber extrem misstrauisch sein.
Ihr Führer Velen riet irgendwann, den ausgetretenen Weg zu verlassen, der einen Umweg darstellte, da er zu dem Dorf führte, aus dem die Flüchtlinge vom Morgen stammten. Sie orientierten sich weiter nach Norden und ritten auf weniger breiten, steinbedeckten Pfaden. Eine Herausforderung für die Pferde, doch diese meisterten die Anforderung ohne Probleme. Eine flache Senke öffnete sich im Tal, durch die ein kleiner Fluss führte. An dessen Rändern blühten einige genügsame Pflanzen und schenkten der grauen Umgebung ein wenig Leben.
"Die beiden Dörfer hier im Tal liegen an diesem Fluss", erklärte Velen, ein freundlicher, junger Mann, der sicher bei den Frauen der Stadt sehr beliebt war. "Bergstadt hat eine eigene Wasserversorgung durch eine Quelle. - Ihr müsst Euch wundern, dass man einem kargen Ort wie diesen leben kann."
Aragorn nickte dem Mann zu.
"Ich weiß nicht, wie viel Ihr vom Land kennt, aber die Ered Luin sind wirklich äußerst unfreundlich."
"Ered Luin? Ist das der Name, den Ihr unseren Blauen Bergen gebt?" Interessiert beugte sich Velen in seinem Sattel vor. "Das wusste ich nicht. Vielleicht sollte ich wirklich mehr reisen, um so etwas zu erfahren."
"Wenn es Euer Wunsch ist, ich rate Euch nicht davon ab", versicherte ihm Aragorn. "Aber all meinen Reisen haben mich noch nicht erfahren lassen, warum diese Berge blau sein sollen."
"Oh, dafür müsstet Ihr im Frühjahr herkommen. Wenn der Winter mit seinen meterhohen Schneewehen vorbei ist - Ihr wisst ja sicher, wie nahe die Eisbuchten im Norden sind - dann ist im Frühling die Luft so klar, dass man von manchem Gipfel bis zum Meer sehen kann." Velen sprach mit einer Leidenschaft, die erahnen ließ, wie sehr er seiner Heimat verbunden war. Aragorn musste dabei wieder einmal an Bruchtal denken, an all die Freundschaft, die ihn dort erwartet. An Arwen. "Deshalb nennt man dies die blauen Berge."
In freundschaftlicher, wenn auch gedämpfter Unterhaltung brachten sie den Weg hinter sich. Gegen Mittag wurde der Fels höher und schartiger, und vor ihrem Auge türmte sich das Gebirge in seiner ganzen Majestät auf. Sie hatten den Rand des Tales erreicht. Velen gab den anderen Reiter ein Zeichen. Sie rückten näher zusammen, so gut es auf dem schmalen Weg ging. Irgendwann machte der Pfad eine scharfe Kurve und sie erreichten unvermittelt eine hohe Steinmauer, die einen Höhleneingang in sich barg. Die Glätte der Felswand und die feine Verarbeitung des Einganges sprachen eine deutliche Sprache. Sie hatten den Unterschlupf der Zwerge erreicht.
"Wir müssen hineingehen", beschloss Aragorn. "Bindet die Pferde hier an und lasst alle nicht benötigten Waffen zurück.
Einer der Männer protestierte.
"Warum seid Ihr Euch so sicher, dass diese Tiere nicht über uns herfallen?"
"Solche Reden will ich nicht hören", fuhr Aragorn ihn scharf an. "Wir sind hier, um den Frieden zu wahren. Wenn Ihr Euren Gegenüber als Tier abtut, dann sehe ich nicht viel Hoffnung für ein Gespräch. Ändert Eure Einstellung oder bleibt zurück. Es liegt an Euch."
Die Schultern des Andern sanken herunter und er murmelte etwas Unverständliches. Seine Begleiter tauschten teils verwirrte, teils verärgerte Blicke. Aragorn wusste, dass es für sie nicht einfach sein konnte, sich einem völlig Fremden unterzuordnen, aber es war nötig, dass sie sich dieser Notwendigkeit fügten.
Zwei Fackeln wurden entzündet, die Pferde an einer Felsnase angebunden. Dann, ohne dass ein weiteres Wort fallen musste, machten sie sich auf den Weg. Der Stollen, die sie betraten, war stockdunkel und sehr niedrig. Die größeren Männer mussten die Köpfe einziehen und die beengende Atmosphäre entfaltete sofort ihre Wirkung. Jeder Stein, der von einem Fuß versehentlich angestoßen wurde, polterte geräuschvoll davon und das Echo des Geräusches klang von den Wänden dumpf wieder. Aragorn hielt trotz seiner eigenen Mahnungen die Hand immer am Schwertgriff.
Immer tiefer schraubte sich der Tunnel in das Innere der Berge. Feuchte Kälte drang durch Aragorns alten Mantel und er konnte im Schein der Fackeln beobachten, wie sein Atem in der Luft kondensierte. Die Haare in seinem Nacken stellten sich auf und da er sich bisher immer auf seine Instinkte hatte verlassen können, wusste er, dass bald etwas geschehen würde. Tatsächlich hörte er ein leises Geräusch wie das Scharren von Metall über Stein. Es hörte sich so an, als ob ein Kettenhemd an der Höhlenwand entlang schleifte. Doch dann trat wieder Stille ein und er meinte schon, sich getäuscht zu haben.
Sie erreichten eine Kreuzung und Aragorn entschied sich, den geraden Weg zu wählen, da dieser steil nach untern führte. Die Fackeln wurden kurz in die anderen Gänge gehalten, doch dort war nicht zu sehen. Sie waren erst einige Schritte gegangen, als sich auf einmal, völlig unerwartet, eine kleine, bullige Gestalt in ihren Weg schob. Es war ein Zwerg, der einen hohen Helm auf dem breiten Schädel trug, unter dem kunstvoll geflochtene Zöpfe und ein buschiger Bart hervorquollen. Sein Kettenhemd schimmerte silbrig, ebenso wie die Axt, die er spielerisch in eine Handfläche klopfte, eine Geste, die Prügel und Schlimmeres versprach. Fast im selben Moment, in dem Aragorn seiner gewahr wurde, ertönte hinter ihnen laute Geräusch und als die Männer zu deren Quelle herumfuhren, fanden sie sich von mehr als einem Dutzend Zwergen eingekreist.
Der Krieger direkt vor ihnen lachte scheppernd.
"Ich bin Rego, Dracos Sohn. Und nun ratet, was ich mit den Menschen zu tun pflege, die unaufgefordert mein Reich betreten."
Jaaa, das ist doch ein Ende! Mehr Spannung! *g* Und es kommt noch besser, versprochen! Bleibt dran und reviewt bitte fleißig!! Eure Demetra
Sie begaben sich in einen kleinen Raum an der Stirnseite der Halle. Den verschwenderischen Luxus, den man aufgrund des gepflegten Anblicks des Edelmannes erwartet hatte, gab es nicht. Stattdessen sah Aragorn hohe Regale mit Büchern, Waffen und eine mit Dutzenden Pergamenten bedeckten Schreibtisch. Die geschmeidige Gestalt ihres Gastgebers zeugte davon, dass er die Rüstung, die an der Wand hing, nicht nur zur Zierde besaß und seine großen, sehnigen Hände sprachen von zahlreichen Kampfesübungen. Das verwunderte Aragorn nicht weiter. Er, Goran und Anthanas hatten so manche Schlacht geschlagen und manchen Pokal geleert Das alles schien für ihn vor unendlich langer Zeit geschehen zu sein. Bevor ihn seine Berufung jeden Tag und jede Nacht beschäftigte. Als er noch jung und sorglos gewesen war. "Setzt Euch bitte. Was ich zu berichten habe, wiegt schwer." Es klopfte und Roviel betrat ungebeten den Raum. Doch Anthanas machte das nichts aus, im Gegenteil. "Ihr habt meinen besten Mann schon kennengelernt. Ihm verdanken wir, dass das Chaos noch nicht über diese Stadt hereingebrochen ist."
Der Stadtherr nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und seufzte. Er benötigte einige Zeit, um sich zu sammeln, dann begann er, mit gefasster Stimme zu berichten:
"Es begann etwas vor drei Monaten. Aus den Dörfern erreichten mich mehr und mehr Berichte, dass Kinder und Männer einfach verschwanden, von Wanderungen oder auch einfach des Nachts aus ihren Betten. Die Dörfler bekamen es mit der Angst zu tun, da sie stets Dämonen in der Dunkelheit vermuten und begannen sich zu wehren." Er klang nicht spöttisch, sondern sehr nachdenklich. "Vielleicht sind es Dämonen. Nun ja, die Vorfälle wurden zu Überfällen. Menschen starben, andere verschwanden. Auch hier in der Stadt begann es, obwohl wir in unserer Ignoranz gedacht hatten, dass es uns nicht treffen würde." Er massierte seine Nasenwurzel mit den Fingern, Zeichen seine Anspannung. "Ich schickte Goran, meinen alten Freund und rechte Hand, aus dem Tal, er sollte Hilfe suchen. Doch diese traurige Nachricht, die Ihr, Aragorn, mir überbrachtet, war die einzige, die ich von ihm erhielt. Er mögen in Frieden ruhen." Anthanas sprang auf und begann, energisch auf und ab zu gehen. "Wir wissen nicht, wer sie sind, da sie stets schwarze Kapuzen tragen und wie Schatten herumhuschen."
"Wisst Ihr von dem Überfall auf das Dorf?", erkundigte sich Legolas und erntete ein schmerzliches Nicken.
"Wir sahen es brennen und schickten noch in der Nacht eine Gruppe Männer aus. Sie kamen nicht zurück. Es ist wahrlich keine Ruhmestat, aber wir durften nicht riskieren, noch mehr zu verlieren. Deswegen warteten wir auf den Mittag, bevor wir uns dorthin begaben. Während wir über die eine Strasse ins Dorf eilten, müsst Ihr wohl über die andere zu uns gekommen sein. Im Licht sind wir unseren Gegnern ebenbürtig, aber in Dunkelheit und Dämmerung sind sie schneller als jedes Auge." Anthanas seufzte erneut und er wirkte schwer gezeichnet von den Vorfällen. "Wir haben keinen einzigen Toten von ihnen gefunden, der in stummer Art etwas mehr erzählen könnte. Es gibt Beweise für ihre Identität, aber ich glaube diesen Fingerzeigen nicht."
"Zwergenäxte?", erkundigte sich Aragorn düster. "Die haben wir gesehen."
"Eben jene. Aber Ihr könnte mir nicht erzählen, dass es tatsächlich Zwerge gewesen sind. Dazu sah ich zuviel von der Welt, als dass man mich so einfach täuschen könnte. Aber mein Volk weißt nichts von Zwergenhandwerk, sie sehen nur die Toten und die angeblichen Beweise. Die Stimmung ist gedrückt. Man ist zornig und von Tag zu Tag mehr bereit, loszuziehen und die Zwergenhöhle dem Erdboden gleich zu machen."
"Wir wurden von Dunkelelben angegriffen und verfolgt. Gibt es solche in diesem Tal?" Alann, die etwas unbehaglich auf ihrem hohen, geschnitzten Stuhl saß, meldete sich zum ersten Mal an diesem Abend zu Wort.
"Dunkeleben? Seid Ihr sicher?" Anthanas runzelte die silbrigen Brauen.
"Ganz sicher", bestätigte Alan ernst. "Und sie schienen sehr darauf bedacht, uns abzufangen, bevor wir das Tal betreten konnten. Zu unserem Glück erhielten wir Hilfe. "
Roviel, der bisher ruhig an der Wand gelehnt und dem Gespräch gelauscht hatte, beugte sich interessiert vor.
"Hilfe welcher Art?", wollte er wissen. Alann gab ihm daraufhin einen kurzen Bericht der Ereignisse auf dem Friedhof. Nachdem sie geendet hatte, nickte der Krieger. "Ihr hattet Glück, dass Ihr die Gegend kennt. Wenn Ihr nur eine Waffe blank gezogen hättet, wäret auch Ihr angegriffen worden. Das Feld der Seelen wurde einst von einem mächtigen Magier mit diesem Zauber versehen. Er bewohnte das Schloss unter dem Eisfelsen und regierte von dort aus dieses Tal. Eines Tages beschloss er, fortzugehen und das Schloss fiel zusammen, als hätte es allein durch seine Anwesenheit gestanden und als wolle er dafür sorgen, dass das, was im Schloss lagerte, von niemandem gefunden werden würde."
"Was war Wertvolles in diesem Schloss?" Legolas war hellhörig geworden.
"Oh, das weiß niemand so genau", antwortete Roviel und ließ sich wieder in den Schatten der Mauer zurücksinken. "Aber wenn Ihr mich fragt, alles Aberglaube und dummes Geschwätz der Alten."
Anthanas verschränkte die langen Finger und räusperte sich.
"Zurück zur Sache. Wir sind verzweifelt. Ein Dorf haben wir verloren, aus dem anderen erreichen von Stunde zu Stunde mehr verängstigte Bauern unserer Mauern und suchen Schutz. Zwar sind unsere Kornkammern gefüllt, doch eine Belagerung - und darauf könnte es herauslaufen - würden wir nicht länger als drei Wochen überstehen."
Aragorn grübelte, während er mit halbem Ohr die Erzählung verfolgte. Ein Gedanke drängte sich ihm auf, doch er konnte ihn nicht recht fassen. All die Ereignisse der vergangenen Zeit ordneten sich in seinem Kopf zu einem verworrenen Bild. Wenn es tatsächlich Dunkelelben waren - und er zweifelte inzwischen nicht mehr daran -, warum entführten sie Menschen. Und welche Rolle spielten die Zwerge? Wusste sie Bescheid über die Vorgänge im Tal? Höchstwahrscheinlich, obwohl sie oftmals dazu neigten, die Welt außerhalb ihrer hohen Steinkammern völlig zu ignorieren. Er musste es herausfinden.
"Habt Ihr Euch bereits mit den Zwergen in Verbindung gesetzt?", verlangte er zu wissen. "Vielleicht könnten Verhandlungen Eure Probleme klären?"
"Eine Patrouille, die dies versuchte, wurde mit einem Hagel von Felsbrocken und glänzendem Stahl begrüßt. Das sahen meine Leute als Zeichen, dass es die Zwerge auf keinen Fall gut mit uns meinen. Ich wage es ehrlich gesagt nicht, mich offen gegen sie zu stellen. Sie vertrauen mir, doch die Stimmung ist derart angespannt, dass ich mir gut vorstellen könnte, das ihre Aggression auf mich zurückfällt, wenn ich in ihren Augen einen verrat begehen würde."
"Und deshalb habt Ihr nach Hilfe von außen gerufen", schloss Aragorn und sah an dem Glitzern im Auge seines Gegenübers, dass er richtig lag.
"Ich bin ein alter Mann, Aragorn, und nicht mehr so risikofreudig wie vielleicht noch vor 10 Jahren, als wir an den Trollhöhen das Nest von Ghulen ausräucherten. Die Zeiten sind ein für allemal vorbei. Ich bin für eine Stadt verantwortlich, nicht mehr nur für mich." Anthanas sprach ehrlich und offen, was ihm Aragorn hoch anrechnete. "Ihr wisst, welches Risiko Ihr eingehen müsstet, um mir zu helfen. Um uns alle zu helfen."
"Ich werde zu den Zwergen gehen", bot Aragorn nach kurzer Überlegung seinem alten Weggefährten an. Auf der Basis all dessen, was er gehört hatte, konnte er es guten Gewissens tun. "Gebt mir einige Männer, aber nicht so viele, dass es wie eine Bedrohung aussehen könnte. Und ja, ich weiß, welchem Risiko ich mich aussetze.""
Stille trat ein. Aragorn las in den Gesichtern wie in offenen Büchern. Legolas schien bereit, von der Stuhlkante aufzuspringen und zu handeln. Anthanas wirkte zur selben Zeit besorgt und erleichtert. Alan starrte auf ihre Hände und wich seinem Blick aus. Sie schien nicht zu billigen, was er zu tun gedachte. Roviel brach die Zeit der Wortlosigkeit zuerst.
"Es wäre eine Ehre, wenn ich Euch begleiten dürfte", sagte er grimmig, doch Aragorn winkte ab.
"Ich danke Euch für das Angebot, mein Freund, aber diese Feste braucht die besten Männer. Es könnte zu jeder Zeit wieder zum Angriff kommen und ich möchte nichts riskieren."
Roviel stutzte, deutete dann aber nach einem Blickwechsel mit Anthanas eine leichte Verbeugung an. Er hatte verstanden.
"Ich nehme an, Ihr werdet uns ebenfalls hier lassen, nicht wahr?", wollte Alann wissen und sah wieder auf. Sie schien seltsam unsicher, doch was Aragorn als Erstes auffiel, war, dass sie von sich und Legolas als "uns" gesprochen hatte. "Wenn die Zwerge spitze Ohren sehen, dürfte uns wohl mehr als eine Axt entgegenfliegen."
"Legolas?" Aragorn blickte zu seinem Freund, der lediglich nickte.
Anthanas erhob sich, als Zeichen, dass die Unterredung beendet war.
"Ich danke Euch Aragorn, für diesen mutigen Schritt, und Euch anderen dafür, dass Ihr mir hier zur Seite stehen wollt. Ich schlage vor, dass Eure reise zu den Höhlen der zwerge erst morgen früh beginnt. Ihr hattet eine lange Reise und es nützt nichts, wenn Ihr nicht im Vollbesitz Eurer Kräfte seid. Also, genießt unsere bescheidene Gastfreundschaft und versucht unsere Wein, ein guter Tropfen." Er lächelte und auf einmal meinet Aragorn in diesem würdigen Herrn den rauflustigen, dem Alkohol nie abgeneigten Kampfesbruder wiederzuerkennen. "Wir haben hier oben oft ein scharfes Lüftchen, aber es gibt im Berg eine heißen Quelle, die es uns erlaubt, auf einem der Hänge darüber einige Reben stehen zu lassen." Er schritt zur Tür, die Roviel für ihn öffnete und ging hinaus. Die drei Reisenden folgten ihm wieder in die Halle hinaus, die sich in der Zeit ihres Gespräches merklich gefüllt hatte. Ärmlich gekleidete Bauern saßen auf den Bänken und taten sich an den Nahrungsmitteln gütlich. Sie hatten teilweise ihre Habe bei sich, die überall auf dem Boden verteilt lag. Tiere liefen umher, klein Ziegen und einige Hühner.
Aragorn lachte leise, als er Legolas entgeisterten Gesichtsaudruck sah. Die Elben hätten niemals einen Raum mit Tieren geteilt, es sei denn, sie waren sauber und in ihren Augen edel. Anscheinend um sich abzulenken, begann der Elb ein Gespräch mit Roviel, das sich um Bogen und deren Bespannung drehte. Die beiden gingen hinaus, ebenso Anthanas, der müde wirkte, sichtlich gealtert in der Zeit, in der Aragorn und er sich nicht gesehen hatten.
Alann stand stumm neben ihm und besah sich das Chaos, sichtlich erschüttert.
"Die armen Menschen", sagte sie leise. "Es muss furchtbar sein, seinen Besitz zurückzulassen, alles, was man sich ein Leben lang aufgebaut hat. Manchmal glaube ich, es ist gut, nichts zu haben außer sein Leben und die Kleidung, die man am Körper trägt. Was man nicht besitzt, kann man nicht vermissen."
"Ihr seid erstaunlich einfühlsam für eine skrupellose Verbrecherin", scherzte Aragorn, um sie aufzuheitern. Alann lachte ihn an.
"Also, offen gesagt, ich bin nie eine gute Diebin gewesen. Mit Drag, meinem Komplizen aus der Stadt, habe ich in jener Nacht zum ersten Mal zusammengearbeitet. Gut, dass er mich derart ausgenutzt hat, als ich eine Schwäche zeigte. Sonst wäre ich wahrscheinlich noch so geworden wie er." Sie schnitt eine Grimasse.
"Mitgefühl und Erbarmen sind keine Schwächen", belehrte sie Aragorn und kam sich ein Stück weit vor wie Elrond, der stets mahnte und über allem schwebte wie die Weisheit in Person. Wurde er langsam langweilig? Zum Glück schien sie ihm seine Lektion nicht übel zu nehmen und so beschloss er, das Thema zu wechseln. "Wie geht es dem Mädchen?"
"Sie schläft. Morgen werde ich ihr wohl erklären müssen, was mit ihren Eltern geschehen ist. Die Mutter tot, der Vater verschleppt. Das ist nichts, worauf ich mich freue."
"Ihr wisst, dass Ihr noch immer gehen könnt, wenn Ihr es wünscht. Hier bekommt Ihr ein Pferd und ich denke, das Anthanas sich auch anders erkenntlich zeigen würde. Es ist nicht nötig, dass Ihr Eich weiterhin in Gefahr begebt, Alann." Eine Reihe von Emotionen spiegelte sich in ihrer Miene. Erstaunen, ein flüchtiger Hauch von Ärger, Nachdenklichkeit. Dann lächelte sie wieder.
"Ich weiß, dass Ihr Euch Sorgen um mich macht. Aber ich glaube, dass ich hier besser aufgehoben bin als auf dem Rücken eines Pferdes in den Bergen. In jeder Hinsicht."
Sie musste nicht ausführen, was sie dachte. In mancherlei Hinsicht war sie für ihn leicht zu durchschauen. Fürsorglichkeit schien einer ihrer stärksten, wenn auch vernachlässigten Charakterzüge zu sein. Er hatte dies in der Art erkannt, in der sie sich um Legolas während seiner Verwundung und die kleine Alis gekümmert hatte. Sie war ebenso eine gute Kämpferin wie ein guter Mensch und ihr Potential durfte nicht verkümmern an der Engstirnigkeit der Welt. Er nahm sich fest vor, ihr nach dem Ende ihrer Aufgabe den Rat zu geben, nach Bruchtal zu gehen. Dort, in Elronds Haus, das sich auf einen Halbelben gründete, würde sie ihre verleugnete Identität finden und ihre Fähigkeiten konnten erblühen. Noch war es zu früh für diesen Vorschlag. Zunächst musste sie sich mit dem Leben jenseits ihres kleinen Erfahrungshorizontes auseinandersetzen. Und vor allem mit Elben, die nicht immer freundlich und sorglos waren, sondern oftmals kalt und gleichgültig. Legolas war ein guter Lehrmeister für das, was sie in Bruchtal und in der Welt erwarten würde. Und da sie sich von ihm nicht einschüchtern ließ, war er guter Hoffnung, dass sie seinen Vorschlag annehmen würde.
"Nun gut", sagte Aragorn. "Lasst uns heute Abend noch ein paar Mal die Klinge kreuzen. Ich will nicht schwarzsehen, aber es könnte Euch schon bald nützlich sein."
***
Die Dämmerung kroch über die Berge, als Aragorn den Vorhof der Bergstadt betrat. Dort herrschte trotz der frühen Stunde bereits geschäftiges Treiben. Pferde wurden gesattelt und Waffen von der Schmiede herübergetragen. Fünf Männer hatten Anthanas bereitgestellt, der selbstverständlich auch erschienen war, um die Vorbereitungen zu überwachen. Der Stadtvorsteher lief herum, erteilte Befehle an alle und jeden und konnte nicht verhehlen, dass er sich große Sorgen machte. Der alte Mann wirkte übernächtig und die Last seiner Jahre wurde in der dieser Morgenstunde von der bleichen Sonne gnadenlos ausgeleuchtet.
Legolas und Alann standen ein wenig abseits der Aufregung und schwiegen sich wie üblich an. Aragorn trat zu ihnen.
"Wenn ich oder die anderen Männer innerhalb von zwei Tagen nicht zurückkommen oder eine Nachricht senden, überlasse ich es Eurem Ermessen, wie Ihr reagiert. Sprecht Euch mit Anthanas ab. Mehr kann ich Euch nicht raten." Er lächelte Alann an, die aussah, als würde sie jeden Moment anfangen, ihn von seinem Auftrag abbringen zu wollen. Dann winkte er Legolas. Die beiden Männer gingen eine paar Schritte über den Hof, bis sich Aragorn sicher war, dass Alanns scharfe Ohren ihr Gespräch nicht mitanhören konnten. "Ich denke nicht, dass ich Dir viel sagen muss, mein Freund."
Legolas blickte nachdenklich über die Zinnen der Mauern und nickte langsam.
"Ich habe in dieser Nacht in den Wind gelauscht und das Klirren von Waffen und das Atmen vieler Lebewesen gehört. Noch verhalten sie sich still. Aber das muss nicht so bleiben."
Ein Ruf von der Zinne unterbrach sie. Ein Späher deutete hinaus ins Umland. Anthanas rief herauf.
"Was gibt es, Mann?"
"Eine große Gruppe nähert sich uns." Und dann, nach kurzer Pause. "Es sind Bauern."
"Öffnet das Tor!" Zwei Soldaten beeilten sich, dem Befehl nachzukommen und es dauerte nicht lange, bis eine lange Schlange von müden Menschen durch die Tor hereinkam. Es waren Männer, die auf kleinen Karren ihre Besitztümer hinter sich her zogen und Frauen, die ihre schreienden Kinder auf dem Arm trugen. Einige Gesichter waren schmutzig und verschmiert, andere mit Wunden bedeckt. Man sah ihnen an, dass diese Menschen gekämpft hatten. Ein Mann, ein blonder Hüne, der den rechten Arm in einer Schlinge trug, löst sich aus der Gruppe und ging auf Anthanas zu.
"Herr!", sagte er, mühsam beherrscht. "Ihr müsst etwas tun. Sie haben fünfzehn Kinder und acht Männer verschleppt und es wäre noch viel mehr geworden, wenn wir nicht vorbereitet gewesen wären." Er ballte seine funktionsfähige Faust und starrte grimmig ins Leere. "Wir sollten uns endlich wehren und die Höhle der Mistkerle ausräuchern."
Anthanas wirkte ebenso blass wie die Bauern, die von helfenden Händen ins Innere der Stadt weitergeleitet wurden.
"Ihr seid erst einmal in Sicherheit", beschwor er den verständlicherweise wütenden Mann. "Aber wir dürfen nicht überstürzen, sonst machen wir vielleicht einen tödlichen Fehler. Ein Freund von mir reitet noch heute zu den Zwergen, um sich ein Bild zu machen."
"Was soll es denn für ein Bild sein?", schimpfte der Bauern und stapfte davon. "Diese verdammten Mörder!"
Anthanas sank ein Stück in sich zusammen und blickte zu Aragorn.
"Jetzt seht Ihr, wie kurz wir vor einer Katastrophe stehen", murmelte er und zog sich dann nachdenklich zurück.
Aragorn schwieg, während er den Zug der Menschen beobachtete, die an ihm vorbeilief. Dann nahm er seine unterbrochene Unterhaltung mit Legolas wieder auf.
"Ich weiß nicht, ob man hier auf Dich hören wird, wenn es hart auf hart kommt. Aber Du bist hier wahrscheinlich der Vernünftigste und kannst diese Leute am ehesten vor sich selbst beschützen. Und da wir gerade beim Beschützen sind." Er wies auf Alann, die gerade abgelenkt war und sich mit einem der Pferdeknechte unterhielt. "Sie hat im Kampf große Fortschritte gemacht und weiß sich auch sonst recht gut zu helfen. Aber hab trotzdem ein Auge auf sie. Es würde mich freuen, wenn Ihr Euch einmal nicht streiten, sondern zusammenarbeiten würdet."
"Elben fangen selten einen Streit an", wies Legolas den Vorwurf von sich und wirkte prinzlich und arrogant wie nie. Aragorn lächelte in sich hinein. "Es ist nicht meine Schuld, wenn sie ständig eine Auseinandersetzung beginnt."
"In die Du natürlich mit vollem Herzen einsteigst. Rede Dich doch nicht immer mit Deiner angeblichen Überlegenheit heraus!" Obwohl Aragorn seine Worte mit Bedacht wählte und in freundlichem Tonfall formulierte, musste er das, was ihm seit Beginn ihrer Reise auf dem Herzen lag, endlich aussprechen. "Wenn Du in Dich hineinsiehst, wirst Du erkennen, dass sie nicht mehr dieselbe ist. Sie hat sich mit ihren Handlungen Deinen Respekt und Deine Freundschaft verdient. Also tu mir den Gefallen und vergiss Eure schlechten Start." Nach dieser Standpauke, wie er sie seinem Freund noch nie gehalten hatte, grinste Aragorn plötzlich. Ja, er klang wirklich wie Elrond. "Verbohrte Elfen."
Legolas sagte gar nichts, weshalb der Waldläufer das Gespräch als beendet ansah und zu seinem Pferd ging. Er überprüfte seine Ausrüstung. Außer einem Schwert und etwas Verpflegung nahm er nichts mit. Bei dem Gedanken, dass sein wahres Schwert, die zerbrochene Klinge Narsil, in Bruchtal lag und auf ihn wartet, damit er es zusammen mit seiner Vergangenheit und Zukunft ergriff, zog sich etwas in seinem Magen zusammen. Er schwang sich in den Sattel und klopfte seinem Pferd aufmunternd auf den Hals. Legolas trat zu ihm und nickte ihm wortlos zu. Es war schwer zu sagen, ob der Elb wütend oder nachdenklich war, denn sein ebenmäßiges Gesicht verriet nichts. Alann eilte ebenfalls herbei und trug wie stets das Herz auf der Zunge.
"Ich wünschte, die ganze Sache wäre schon vorbei und Ihr wieder bei uns. Passt auf Euch auf."
"Es wird nichts geschehen!", versprach er optimistisch. Dann ließ er sein Pferd antraben und ritt mit den Männern aus dem Hof.
***
Sie folgten dem Pfad, der um die Stadt herumführte und passierten dabei auch die hohe Westmauer. Aus alter Gewohnheit betrachtet Aragorn das Bauwerk und suchte es auf mögliche Schwachstellen ab, doch er fand keinen Fehl daran. Die Mauer war hoch und auf Felsen gebaut, für Leitern nicht zu erreichen. Gute Kletterer mochten eine Chance haben, doch sie durften nicht allzu schwer bewaffnet sein. Falls es einen Angriff geben würde, dann würde sich dieser auf das Tor konzentrieren.
Er blickte zu den Männern, die ihn begleiteten. Es waren fünf gestandene Krieger, die nicht begeistert davon waren, zu verhandeln. Er hoffte, dass sie sich gut genug unter Kontrolle hatten, falls es zu einer Auseinandersetzung kam. Zwerge waren nicht unbedingt Meister der Diplomatie und lösten Probleme gern auch einmal vorschnell mit der Waffe. Dennoch war Aragorn selten einem Zwerg begegnet, der ohne Sinn grausam war. Mächtige Krieger, sture Bergleute und groß im Feiern, das waren sie.
Sie folgten der Strasse Richtung Nordosten, ritten breit gefächert, um möglichst viel der Gegend im Auge behalten zu können. Einer der Männer ritt sogar einige hundert Meter vor ihnen, um eine mögliche Falle aufspüren zu können. Die Geräusche, die Legolas in der Nacht wahrgenommen hatte, waren in dieser Gegend nicht wahrzunehmen, was Aragorns Gefühl, dass sich ein Angriff wahrscheinlich auf die Stadt beschränken würde, bestätigte. Seine größte Hoffnung war, die Zwerge davon überzeugen zu können, den Menschen in ihrem Kampf beizustehen. Doch die Chancen dafür standen sicher nicht gut. Wenn die Zwerge mitbekommen hatten, was den Dorfbewohnern geschehen war, würden sie Fremden gegenüber extrem misstrauisch sein.
Ihr Führer Velen riet irgendwann, den ausgetretenen Weg zu verlassen, der einen Umweg darstellte, da er zu dem Dorf führte, aus dem die Flüchtlinge vom Morgen stammten. Sie orientierten sich weiter nach Norden und ritten auf weniger breiten, steinbedeckten Pfaden. Eine Herausforderung für die Pferde, doch diese meisterten die Anforderung ohne Probleme. Eine flache Senke öffnete sich im Tal, durch die ein kleiner Fluss führte. An dessen Rändern blühten einige genügsame Pflanzen und schenkten der grauen Umgebung ein wenig Leben.
"Die beiden Dörfer hier im Tal liegen an diesem Fluss", erklärte Velen, ein freundlicher, junger Mann, der sicher bei den Frauen der Stadt sehr beliebt war. "Bergstadt hat eine eigene Wasserversorgung durch eine Quelle. - Ihr müsst Euch wundern, dass man einem kargen Ort wie diesen leben kann."
Aragorn nickte dem Mann zu.
"Ich weiß nicht, wie viel Ihr vom Land kennt, aber die Ered Luin sind wirklich äußerst unfreundlich."
"Ered Luin? Ist das der Name, den Ihr unseren Blauen Bergen gebt?" Interessiert beugte sich Velen in seinem Sattel vor. "Das wusste ich nicht. Vielleicht sollte ich wirklich mehr reisen, um so etwas zu erfahren."
"Wenn es Euer Wunsch ist, ich rate Euch nicht davon ab", versicherte ihm Aragorn. "Aber all meinen Reisen haben mich noch nicht erfahren lassen, warum diese Berge blau sein sollen."
"Oh, dafür müsstet Ihr im Frühjahr herkommen. Wenn der Winter mit seinen meterhohen Schneewehen vorbei ist - Ihr wisst ja sicher, wie nahe die Eisbuchten im Norden sind - dann ist im Frühling die Luft so klar, dass man von manchem Gipfel bis zum Meer sehen kann." Velen sprach mit einer Leidenschaft, die erahnen ließ, wie sehr er seiner Heimat verbunden war. Aragorn musste dabei wieder einmal an Bruchtal denken, an all die Freundschaft, die ihn dort erwartet. An Arwen. "Deshalb nennt man dies die blauen Berge."
In freundschaftlicher, wenn auch gedämpfter Unterhaltung brachten sie den Weg hinter sich. Gegen Mittag wurde der Fels höher und schartiger, und vor ihrem Auge türmte sich das Gebirge in seiner ganzen Majestät auf. Sie hatten den Rand des Tales erreicht. Velen gab den anderen Reiter ein Zeichen. Sie rückten näher zusammen, so gut es auf dem schmalen Weg ging. Irgendwann machte der Pfad eine scharfe Kurve und sie erreichten unvermittelt eine hohe Steinmauer, die einen Höhleneingang in sich barg. Die Glätte der Felswand und die feine Verarbeitung des Einganges sprachen eine deutliche Sprache. Sie hatten den Unterschlupf der Zwerge erreicht.
"Wir müssen hineingehen", beschloss Aragorn. "Bindet die Pferde hier an und lasst alle nicht benötigten Waffen zurück.
Einer der Männer protestierte.
"Warum seid Ihr Euch so sicher, dass diese Tiere nicht über uns herfallen?"
"Solche Reden will ich nicht hören", fuhr Aragorn ihn scharf an. "Wir sind hier, um den Frieden zu wahren. Wenn Ihr Euren Gegenüber als Tier abtut, dann sehe ich nicht viel Hoffnung für ein Gespräch. Ändert Eure Einstellung oder bleibt zurück. Es liegt an Euch."
Die Schultern des Andern sanken herunter und er murmelte etwas Unverständliches. Seine Begleiter tauschten teils verwirrte, teils verärgerte Blicke. Aragorn wusste, dass es für sie nicht einfach sein konnte, sich einem völlig Fremden unterzuordnen, aber es war nötig, dass sie sich dieser Notwendigkeit fügten.
Zwei Fackeln wurden entzündet, die Pferde an einer Felsnase angebunden. Dann, ohne dass ein weiteres Wort fallen musste, machten sie sich auf den Weg. Der Stollen, die sie betraten, war stockdunkel und sehr niedrig. Die größeren Männer mussten die Köpfe einziehen und die beengende Atmosphäre entfaltete sofort ihre Wirkung. Jeder Stein, der von einem Fuß versehentlich angestoßen wurde, polterte geräuschvoll davon und das Echo des Geräusches klang von den Wänden dumpf wieder. Aragorn hielt trotz seiner eigenen Mahnungen die Hand immer am Schwertgriff.
Immer tiefer schraubte sich der Tunnel in das Innere der Berge. Feuchte Kälte drang durch Aragorns alten Mantel und er konnte im Schein der Fackeln beobachten, wie sein Atem in der Luft kondensierte. Die Haare in seinem Nacken stellten sich auf und da er sich bisher immer auf seine Instinkte hatte verlassen können, wusste er, dass bald etwas geschehen würde. Tatsächlich hörte er ein leises Geräusch wie das Scharren von Metall über Stein. Es hörte sich so an, als ob ein Kettenhemd an der Höhlenwand entlang schleifte. Doch dann trat wieder Stille ein und er meinte schon, sich getäuscht zu haben.
Sie erreichten eine Kreuzung und Aragorn entschied sich, den geraden Weg zu wählen, da dieser steil nach untern führte. Die Fackeln wurden kurz in die anderen Gänge gehalten, doch dort war nicht zu sehen. Sie waren erst einige Schritte gegangen, als sich auf einmal, völlig unerwartet, eine kleine, bullige Gestalt in ihren Weg schob. Es war ein Zwerg, der einen hohen Helm auf dem breiten Schädel trug, unter dem kunstvoll geflochtene Zöpfe und ein buschiger Bart hervorquollen. Sein Kettenhemd schimmerte silbrig, ebenso wie die Axt, die er spielerisch in eine Handfläche klopfte, eine Geste, die Prügel und Schlimmeres versprach. Fast im selben Moment, in dem Aragorn seiner gewahr wurde, ertönte hinter ihnen laute Geräusch und als die Männer zu deren Quelle herumfuhren, fanden sie sich von mehr als einem Dutzend Zwergen eingekreist.
Der Krieger direkt vor ihnen lachte scheppernd.
"Ich bin Rego, Dracos Sohn. Und nun ratet, was ich mit den Menschen zu tun pflege, die unaufgefordert mein Reich betreten."
Jaaa, das ist doch ein Ende! Mehr Spannung! *g* Und es kommt noch besser, versprochen! Bleibt dran und reviewt bitte fleißig!! Eure Demetra
