Teil 9 - Das Relikt

Legolas Körper setzte sich in Bewegung, ehe sich sein Verstand einschalten konnte. Ein Pfeil wanderte von seinem Köcher auf die Sehne seines Bogens und schnellte los, durchdrang die Kehle des Elben, der in eindeutiger Absicht über Alann kniete. Ein verwunderter Ausdruck trat in die Augen des Durchbohrten, einem wild aussehenden Riesen, der vorher damit beschäftigt gewesen war, seinem Opfer die Kleidung vom Körper zu reißen. Innerhalb von Sekunden wurden seine Augen glasig und er fiel zur Seite. Das alles schien sich in Legolas Wahrnehmung so lange hinzuziehen wie ein ganzer Tag. Erst als er sah, wie Alann sich schützend unter einen Tisch in Deckung rollte, kehrte er in den normalen Ablauf der Wirklichkeit zurück.

Er wusste, dass er so hatte reagieren können, da er Aragorn an seiner Seite hatte, dem er vollkommen vertraute. Auch jetzt stand Estel, wie ihn die Elben nannten, sofort an seiner Seite und kämpfte mit jener selbstvergessenden Wildheit, die den Menschen eigen war. Es ging alles sehr schnell. Unter den Pfeilen der beiden Krieger, die ihm und Aragorn nachgefolgt waren, und unter dessen flinker Klinge fielen die sechs Dunkelelben lautlos wie Laub im Wind. Sie hatten ihren Überraschungsvorteil genutzt.

Die Stille nach dem heftigen Kampf war fast so machtvoll wie der Lärm selbst. Legolas ließ seinen Bogen sinken und blickte um sich, als sähe er den Raum zu ersten Mal. Es musste eine Art Wachstube sein, bestückt mit Stühlen und Tischen, einigen Regalen mit verschiedenen Gebrauchsgegenständen. Es gab eine Ecke, in der Waffen gelagert wurden, Äxte, Schwerter und Bögen in verschienenen Ausführungen. Wenn ihre Zahl mit der Zahl ihrer Besitzer übereinstimmte - und vorausgesetzt, dass es noch ähnliche Räume wie diesen gab - dann bedeuteten sie nichts Gutes.

Das, worauf er zuerst geachtet hatte, war ihm in diesem Moment jedoch wichtiger als jedwede Bedrohung. Alann hockte unter dem Tisch, mit einer Hand ihr zerrissenes Hemd krampfhaft zusammenhaltend, das Gesicht von Schock und den Spuren von Schlägen gezeichnet. Sie schien nicht zu verstehen, was geschehen war und wich zunächst ängstlich zurück, als er zu ihr ging und sich neben den Tisch kniete. Wortlos zog er seinen Mantel aus, wie er es schon einmal getan hatte und hielt ihn ihr hin. Zögerlich griff sie schließlich danach und hüllte sich ein.

"Es ist alles in Ordnung", hörte er sich sanft sagen. "Ich bin hier."

Sie blickte auf und ein kurzes Lächeln zuckte um ihre aufgeplatzten Lippen.

"Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich einmal darüber freuen würde", murmelte sie spröde und ließ es zu, dass er ihr unter dem Tisch hervor und auf die Beine half. In der Berührung spürte er ihr Zittern, doch kaum stand sie, kehrte sie in ihre normale Haltung zurück. Gerade, ein wenig spöttisch und herausfordernd. Alann schien sich selbst nicht erlauben zu wollen, sich in dieser gefährlichen Situation mit ihrer Schwäche zu befassen.

Aragorn meldete sich zu Wort und er klang so erleichtert, wie man in seiner Situation sein konnte.

"Wir waren besorgt", sagte er schlicht, während er an eines der Regale trat und zwei Seile entnahm. "Lasst uns sehen, dass wir hier herauskommen. Alann, sucht Euch ein Schwert heraus, wenn Ihr meint, es führen zu können."

Sie tat es ohne Widerworte, fast schlafwandlerisch fand sie eine leichte Klinge, die sie an ihrem Gürtel befestigte. Dann verließ sie den Raum, ohne auch nur einmal zurückzusehen. Legolas starrte in ihren Nacken und dachte über ihre Worte nach, die sie vor und in der Schlacht zu Bergstadt zu ihm gesprochen hatte. Wie sehr sie es hasste zu kämpfen. Dass sie lange Zeit keine Waffe mehr anfassen wollte. Es stimmte Aragorn zu, dass Alann eine gute Kriegerin werden konnte, doch das war seiner Meinung nicht der Sinn, der ihr Leben bestimmen sollte. Im selben Maß, wie sie andere zerstören könnte, würden diese jenes mädchenhafte, gutherzige Wesen zerstören, von dem er nicht wusste, ob er es beschützen oder in die nächste Schlucht werfen sollte.

Im Gang wurden sie schon erwartet. Die Menschen in den Käfigen, unter denen Legolas auch ein paar Zwerge erkennen konnte, reagierten hoffnungsvoll. Arme streckten sich ihnen bittend entgegen. Aragorn trat zu einer Käfigtür, hob sein Schwert und ließ es auf das Schloss niedersausen. Doch anstatt dass das Schloss wie erwartet aufsprang, erklang ein helles Klirren und als Aragorn sein Schwert zurückzog, war eine große Scharte darin zu erkennen.

Ein Mann im Käfig lachte bitter auf; es war derselbe, der den Jungen davon abgehalten hatte, sie zu verraten.

"Das habe wir auch schon versucht. Steine liegen hier schließlich genug rum. Ohne Schlüssel könnt Ihr es vergessen! Die Zwerge sagen, dass es eine unzerstörbare Legierung ist."

Aragorn schwieg für einen Moment, scheinbar in seinen Planungen aus der Bahn geworfen. Er hob seine Waffe ein weiteres Mal, doch Alann hielt seinen Arm fest.

"Zuviel Lärm", stellte sie kurzangebunden fest und löste die Zierschnalle, die den eigentlichen Verschluss von Legolas Umhang verdeckte. Die Schnalle in Blattform besaß eine lange Nadel, die Alann nun mit sorgsamer Vorsicht ein wenig verborg und dann in das Schloss steckte. Mit konzentrierter Miene drehte und wendete sie das dünne Stück Metall. Niemand schien es so recht glauben zu wollen, als der Riegel schließlich mit einem leisen Schnappen zurückfuhr. Alann blickte über ihre Schulter zu Legolas und er sah eine Spur Schalk in ihre Augen zurückkehren. "Was etwas mit Gewalt nicht funktioniert, dann sollte man mit Verstand herangehen", bemerkte sie altklug und öffnete die Käfigtür.

Während Legolas und Aragorn den Gefangenen heraushalfen, wiederholte sie ihre Diebeskunst an dem zweiten Schloss. Der Gang füllte sich mit Menschen und Zwergen, die zaghaft in die Freiheit hinaus traten und verunsicherte Blicke tauschten. Doch es war keine Zeit für ein Zögern.

"Im Wachraum sind Waffen. Deckt Euch damit ein und folgt uns möglichst leise!", befahl Aragorn. Die Zwerge waren die ersten, die die Notwendigkeit der Order einsah und der Aufforderung diszipliniert folgten. Sie führten auch gemeinsam mit den Kämpfern aus Bergstadt den Zug der Entführten an, der den Weg durch den Gang zurück in den Hauptstollen fand. Dort herrschte nach wie vor eine seltsame Stille, aber Legolas wusste, dass sie sich nicht darauf verlassen konnten, dass es lange so blieb. Er blickte hinauf durch die Dämmerung der unterirdischen Feste zu dem Stollen, durch den sie gekommen waren und sah, wie ihm einer der dort wartenden Zwerge zuwinkte. Auch sie schienen die Chance zu sehen, die sich ihnen bot. Doch Alann vereitelte die Hoffnung auf eine schnelle Flucht.

"Es sind noch weitere Gefangene in den unteren Tunnel. Ich habe sie gesehen, als ich versuchte zu fliehen."

Aragorn reagierte schnell. Er drückte einem der Menschen die Seile in die Hand.

"Lauft alle so schnell wie möglich zu dem Gang dort oben. Eure Bogenschützen geben Euch Deckung. Schleudert die Taue zu den Zwergen hinauf, so dass Ihr heraufklettern könnt." Einige Bauern warfen ihm skeptische Blicke zu. Obwohl sie wusste, dass die Zwerge nicht ihre Feinde waren, hatten sie ihre alten Vorurteile noch nicht begraben. Doch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. "Ihr könnt ihnen trauen." Er winkte Roviel und die Krieger, die ihn zum Eisfelsen begleitet hatten, sowie einige Gefangenen herbei, die aussahen, als, ob sie mit den Waffen in ihren Händen umgehen konnte. "Ihr kommt mit mir und Legolas nach unten."

Legolas wunderte sich darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit Alann sich zu der Gruppe derer gesellte, die den Weg in die Tiefe nehmen würde. Sie wechselte einen Blick mit Aragorn, der schließlich nach einer kleinen Weile nickte. Legolas verstand, was diesen dazu bewegte, die junge Frau mitzunehmen. Weitere Schlösser könnten warten, die Alanns Geschick bedurften. Andererseits war nicht abzuschätzen, wie schwer sie verletzt war. Ihre Schultern unter seinem Mantel waren gekrümmt, so als ziehe ein Schmerz ihren Körper zusammen, doch er konnte dessen Quelle nicht erkennen. Wohl oder übel musste Legolas zugeben, dass sie gebraucht wurde.

Aragorn gab das Zeichen für die Gefangenen und Legolas machte seinen Bogen schussbereit, genauso wie die anderen Männer, die mit ihm und dem Waldläufer zurückblieben. Das Trappeln der flüchtenden Füße auf den Holzstegen war nicht zu überhören, als die Männer, Kinder und Zwerge die schmalen Stiegen über dem schwarzen Abgrund des Stollens überquerten. Immer höher bewegte sich die Gruppe und Legolas erwartet jeden Moment, dass die Dunkelelben aus allen Gängen auftauchten, doch es war keine Bewegung in der Dunkelheit zu erkennen. Dies trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Etwas musste in den Tiefen vorgehen, dass den Elben wichtiger war als die Flucht ihrer Gefangenen. Vielleicht hatten sie im Schloss des Zauberers gefunden, was sie suchten.

Als die Hälfte der Flüchtlinge den Weg über den Felsgrat und die Seile in den Tunnel der Zwerge gefunden hatte, begaben sich die Zurückgebliebenen auf den Weg, weiter hinab in die Finsternis.

***

"Im untersten der Tunnel haben sie den Durchbruch durch das Fundament des Schlosses geschafft", flüsterte Alann neben Legolas. Er drehte den Kopf zu ihr und betrachtete ihr steinernes Profil, während sie eine weitere Brücken nahmen, noch immer ungestört, ungesehen von den Mächten, die das unterirdische Reich bewachten. "Dort sind noch Arbeiter, die den Durchgang vergrößern. Sie zu befreien wird schwieriger als im oberen Kerker, denn wir werden kaum vermeiden können, dass sie uns bemerken."

"Dann werden wir kämpfen", warf Roviel, der hinter ihnen ging, ungefragt ein. "Es sind vielleicht nicht mehr viele, die uns erwarten. In Bergstadt sind Hunderte von ihnen gefallen, dass ich zu hoffen wage, dass wir ihnen nicht unterlegen sind."

Die Halbelbin warf ihm einen Blick über die Schulter zu.

"Betet lieber um Glück denn um Kampfkraft. Sie haben Sprengfeuer dort unten, ich sah die Fässer in einer Kammer stehen, die sich in der Mitte des besagten Tunnels befindet. Bis dorthin kam ich, als ich hinunterlief, um einen Ausgang zu finden. Allein war es wohl möglich, doch wir sind viele und in den Ohren der Elben machen wir mehr Lärm als eine Herde stampfender Pferde."

"Glaubt Ihr an eine Falle?" Roviel sah sich beunruhigt um, so als habe er diese Möglichkeit noch nie zuvor in Erwägung gezogen. Er schien ein Mann des geraden Weges zu sein, der nichts von Heimtücke verstand. Seine Augenbrauen zogen sich fragend zusammen. "Sagt, wie seid ausgerechnet Ihr entkommen, Alann?"

Es war deutlich zu erkennen, dass er den Gedanken von Verrat und List aufgegriffen hatte und nun die Fakten überprüfte. Legolas konnte sich vorstellen, was er sah. Eine Elbin, die eine Diebin war und in allem einen Vorteil zu finden suchte. Der es unter nicht geklärten Umständen gelungen war, zu der Gruppe zu stoßen und die nun die von ihr Abhängigen führte. Die Kombination dieser Faktoren ließ einen Schluss zu, den Alann sehr wohl erkannte. Ihr Blick wurde so eisig, wie Legolas es selten bei ihr gesehen hatte. Er hatte sich auch gefragt, warum der Feind sie mitgenommen hatte, da sie doch überhaupt nicht in das Schema der Entführten passte. Die Verschleppung hätte auch eine freiwillige Flucht gewesen sein können, vielleicht aus der Vermutung heraus, dass Bergstadt fallen könnte. Und nun war sie zurück, um die Gruppe in die von ihr vorbereitete Falle zu leiten.

"Sie verhörten mich über die Pläne meiner Begleiter. Ich stellte mich ohnmächtig und bis auf einen verließen sie den Raum. Diese konnte ich überwältigen und dann fliehen." Sie wandte sich herausfordernd um. "Glaubt mir oder lasst es."

Roviel hob in einer abwehrenden Geste die Hände.

"Verzeiht, es ist nicht an mir, an Euch zu zweifeln. Dass Ihr in Bergstadt an meiner Seite standet, ist mir Beweis genug für Eure Loyalität!"

Legolas bewunderte den Menschen insgeheim dafür, dass es ihm möglich war, sein Misstrauen derart einfach auszuräumen. Er selbst hatte sehr lange gebraucht um zu erkennen, dass er sich getäuscht hatte, dass ein erster Eindruck von Alann nicht richtig gewesen war. Sich selbst einen Irrtum einzugestehen, war schwieriger gewesen als so manche andere Herausforderung, die er in seinem Leben gemeistert hatte.

Sie errichten die Sohle der Höhle. Hier war das Gestein noch rau und unbehauen, was die Vermutung zuließ, dass die Elben nun, da sie das Schloss erreicht hatten, andere Prioritäten setzten als den Ausbau ihres Unterschlupfes. Ein einziger, hell durch Fackeln beleuchteter Gang bohrte sich in den Berg in Richtung Westen. Aragorn signalisierte absolute Ruhe, stellte zwei Bauern als Wachen am Eingang ab und führte sie dann ohne weitere Pause hinein.

Alann ging nach vorn an seine Seite und ließ Legolas am Ende der Gruppe zurück. Aragorn lächelte ihr kurz zu und das Gesicht der Elbin hellte sich für eine Sekunde auf. Legolas hätte gern gewusst, wie es wäre, wenn sie ihm mit derselben Freundschaft begegnete. Natürlich würde es nie geschehen, aber irgendwann nach der Szene in der Waffenkammer in Bergstadt hatte er begriffen, dass er sich nicht wieder mit ihr streiten wollte. Er wollte nicht mehr, dass sie das Bedürfnis verspürte, in irgendeiner Form mit ihm kämpfen zu müssen.

Sie konnten nach kurzem Marsch in der Biegung des Korridors einer verschlossenen Kammer gewahr werden, die nicht bewacht wurde. Alann zeigte darauf, und ahmte mit den Fingern die Geste von auseinanderfliegenden Bruchstücken nach. Es war die Kammer mit dem explosiven Inhalt. Sie kniete sich vor das Schloss und steckte ihr improvisiertes Einbruchswerkzeug hinein. Mit vor Konzentration schmalen Lippen wackelte und drehte sie die verbogene Brosche. Sie war vollkommen vertieft, da der Mechanismus komplizierter zu sein schien als der an den Käfigtüren.

Plötzlich hörte Legolas das leise Sirren eines Pfeils in der Luft, dann schlug das Geschoss nur Zentimeter von Alanns Gesicht in das Holz der Tür. Sie waren entdeckt. Zwei weibliche Dunkeleben mit kostbar verzierten Bögen nahmen die Gruppe unter Beschuss. Einer von Aragorns Männern ging stöhnend zu Boden, die Finger um den Pfeil geschlossen, der in seinem Bein steckte. Legolas spannte seinen Bogen und sandte mehrere Pfeile aus, ebenso wie die Männer um ihn herum. Dieser Übermacht waren die Angreiferinnen nicht gewachsen. Eine öffnet den Mund, um einen Warnschrei auszustoßen, doch dann bohrte sich ein Pfeil tief in ihre Wange und durchschlug ihren Kopf. Lautlos sackte sie neben ihrer Gefährtin zu Boden.

Alann starte mit großen Augen auf den Pfeil, der sie so knapp verfehlt hatte, dann schüttelte sie den Kopf, um ihren Schrecken zu vertreiben. Keine Sekunde später ertönte ein leises, klickendes Geräusch und sie konnte die Tür nach innen öffnen. Darin befand sich ein halbes Dutzend kniehoher Fässer. Legolas tauschte einen Blick mit Aragorn. Sie dachten, wie so oft, dasselbe. Der Waldläufer wies ein paar Männern an, das Sprengpulver mitzunehmen.

"Wenn wir die Gefangenen befreit haben, sprengen wir diesen Komplex in die Luft", tat Aragorn den anderen kund. Er wies den verwundeten Krieger an, eine Spur des Pulvers bis zum Eingang des Tunnels zu streuen und sich zu den Wachen zu gesellen, ein anderer sollte eine Spur von der Tür aus weiter in den Berg hinein anlegen. So musste eine Schnur entstehen, die dann später, nachdem sie den Tunnel verlassen hatten, gezündet werden konnte.

Sie zogen weiter, doppelt vorsichtig. Bald verschwanden die beiden Leichen der Elbinnen aus ihrem Blickfeld. Stattdessen erklangen die Geräusche von leisen Unterhaltungen in menschlicher und zwergischer Sprache. Die Wände des Stollens wurden immer enger und düsterer und erinnerten daran, dass sie sich in einem Bergwerk befanden. Schließlich öffnete sich vor ihnen ein Abschnitt des Tunnels, der gerade noch so groß war, dass zwei Menschen nebeneinander hindurchpassten. Hier war mit Eile gegraben worden, scharfkantige Felstücke ragten aus der Decke hervor und hin und wieder rieselte dort Staub aus den Ritzen.

Legolas fühlte sich eingesperrt und zog den Kopf ein. Er war einer der größten der Gruppe und fühlte sich unbehaglich. Die Luft war stickig und trug den Geruch von Schweiß und Blut in sich. Die Stimmen wurden lauter und schließlich konnte er im Dämmerlicht des Stollens die Umrisse von Personen erkennen, die an beiden Seiten auf dem Boden saßen. Einige Zwerge stützten sich auf ihre Grabwerkzeugen, ihre Gesichter waren von Falten der Müdigkeit überzogen und wütend. Drei Jungen im Alter von etwa zehn Jahren starrten ihnen mit großen Augen entgegen, so als könnten sie nicht glauben, dass man ihnen zur Hilfe eilte. Die Männer waren weniger tatenlos. Sie sprangen beim Anblick der Krieger auf.

"Den Göttern sei Dank", sagte einer leise. "Wir sitzen jetzt schon seit Stunden hier drin. Die Elben sind alle ins Schloss hinauf gegangen und seither sind nur zwei zurückgekehrt. Was immer sie da tun, es lässt uns allen den Atem stocken." Er hob die Kette an, mit der sie alle verbunden waren. Der jeweils linke Knöchel jedes Mannes steckte in einer mit dem Hauptstrang verketteten Fußschelle. "Habt Ihr einen Schlüssel gefunden?"

"Nein", sagte Aragorn. "Aber wir werden Euch trotzdem helfen!"

Für Alann bedurfte es keiner weiteren Aufforderung, um zu handeln. Nach und nach befreite sie jeden Gefangenen aus seiner misslichen Lage. Währenddessen konzentrierte sich Legolas auf die Stimmung, die die Männer beschrieben hatten. So sehr er sich auch bemühte, er konnte nichts wahrnehmen außer einer beißenden Kälte, die aus dem Gang auf sie zukroch. Etwas sehr Mächtiges, sehr Altes befand sich im Schloss des Zauberers, doch er wusste nicht, was es war. Nichts Elbisches, nichts Menschliches. Alann sah einmal kurz zu ihm hoch und er las aus ihrem Blick, dass sie es auch fühlte. Doch sie schien keine Angst zu haben, im Gegenteil, so etwas wie Aufregung spiegelte sich in ihren bisher wie leblosen Augen.

"Wir sollten die Fässer hier aufstellen", schlug Roviel vor, nachdem alle frei waren. "Sie sind alle dort drin, wenn wir jetzt hier sprengen, dann sind sie für alle Ewigkeit eingeschlossen."

Zustimmend nickten die Männer, doch Aragorn war anderer Meinung.

"Wir können nicht wissen, ob das, was sich in dem Schloss befindet, mächtiger ist als jede Explosion! Falls es eine Waffe ist und sie mit ihrer Hilfe freikommen, dann ist das Tal nie wieder sicher. Nein, wir müssen hinein." Er blickte in die Runde und begegnete zweifelnden und abweisenden Blicken. Legolas verstand die Männer. Sie waren von einfacher Art, hatten in ihrem Leben wahrscheinlich noch nie etwas mit Zauber und Magie zu tun gehabt. Dementsprechend ängstlich waren sie jetzt. Auch die Zwerge wirkten nicht so, als seien sie bereit, sich auf ein Wagnis einzulassen. "Ich nehme es niemandem übel, wenn er sich jetzt zurückziehen will." Aragorns strenger, väterlicher Blick huschte über die Reihen und blieb einen Moment an Alann haften. Diese wich den prüfenden Augen aus und Legolas schüttelte den Kopf über ihren Starrsinn.

Er beobachtete, wie sich sehr schnell zwei Gruppen bildeten und begab sich zu denen, die zu bleiben gedachten. Es waren er selbst, Alann, Roviel Aragorn und drei weitere Männer, die ein Fass Sprengpulver bei sich trugen. Die anderen standen unschlüssig herum, bis sich einer der Zwerge mit einem Knurren abwandte und davonging. Dann folgten sie ihm schließlich.

"Feiglinge!", knurrte Roviel leise.

"Sie fürchten sich aus gutem Grund", entgegnete Aragorn. "Und sie haben viel mitgemacht. - Genug geredet, kommt nun."

***

Sie gingen weiter, eine kleine, rieselnde Spur aus schwarzem Pulver hinterlassend. Vier Fässer hatten sie zurückgelassen, ein weiteres stand am Eingang des Tunnels bei den Wachen und eines, das geöffnet war, trug einer von Roviels Kriegern. Wenn alles gut ging, dann würden sie dieses Letzte im Schloss zurücklassen und mehrere Explosionen zünden.

Der Gang stieg langsam an und endete schließlich abrupt. Eine breite Leiter führte durch ein Loch nach oben. Der Fels hatte sich verändert, in Farbe und Beschaffenheit, war nun so glatt, dass sie erkannten, dass dies die untersten Fundamente des Schlosses sein mussten.

Legolas ging als erster hinauf und spähte, noch auf einer Sprosse stehend, in den Raum, der sich ihnen öffnete. Sie waren im Keller, eine dumpf riechenden Gewölbe mit einer gemauerten Decke, deren hölzerne Sparren teilweise durchgefault und heruntergefallen waren. An einer Wand der Grotte standen übereinandergestapelt Dutzende von Fässern, die vom Alter oder mutwilliger Zerstörung in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Flüssigkeit stand auf dem ausgetretenen Boden, sauer gewordener Wein, der tausend Jahre gestanden hatte und nun langsam im Erdreich versicherte.

Nirgends war jemand zu sehen, weshalb Legolas endgültig hinaufkletterte und dann geduldig wartete, bis alle anderen zu ihm aufgeschlossen waren. Das Pulverfass blieb am Fuß der Leiter stehen. Alann kletterte zuletzt herauf und als sie nach der letzte der Sprossen griff, verzog sich ihr Gesicht vor Schmerz. Legolas beobachtete sie besorgt, doch er schwieg. Als sie wieder Boden unter den Füßen hatte, entdeckte er einen dunklen Fleck, der sich auf dem Rücken ihres grauen Mantels ausbreitete. Ihr Rücken, den er bisher nicht gesehen hatte, musste verletzt sein und die Wunde sich bei der Kletterei geöffnet haben.

"Ihr solltet ebenfalls zurückgehen", sagte er leise und trat neben sie. "Ihr blutet."

Alann schüttelte den Kopf.

"Ich will wissen, für was dies alles geschehen ist", beharrte sie stur. "Es ist nur mein Rücken. Ich kann damit umgehen, wie Ihr Euch sicher denken könnt."

Nach dieser Anspielung auf die Szene am Teich wandte sie sich von ihm ab und folgte Aragorn, der die steinerne Treppe hinaufging, die vom Keller nach oben führte. Ungeachtet aller Warnungen und aller Schmerzen zog sie ihr Schwert und warf einen wütenden Blick zurück zu Legolas. Sie wusste anscheinend nicht zu schätzen, dass er nur das Beste für sie wollte. Möglicherweise aber hatte er ihr bisher nicht den Anlass gegeben, ihm dies auch glauben zu können. Er schloss zu ihr auf und blieb in ihrem Rücken, wie so oft in letzter Zeit. Ihre Begabung, sich in Schwierigkeiten zu bringen, machte dies nur allzu nötig.

Die Wendeltreppe schraubte sich eine schiere Ewigkeit hinauf. Je weiter sie gingen, desto besser wurde die Luft, aber die Schwere der Vorahnung, die Legolas schon im Tunnel befallen hatte, wog mit jedem Schritt mehr. Eine Kraft ballte sich in dem uralten Gebäude zusammen, die ihm Angst machte. Aragorn und Alann schienen ähnlich zu empfinden, denn sie wechselten beunruhigte Blicke. Dass sie allen Grund dazu hatten, bewies ein leichtes Beben, das plötzlich die Treppe erschütterte. Es dauerte nur einige Momente an, doch es genügte, um die Gruppe mit doppelter Geschwindigkeit voraneilen zu lassen. Etwas braute sich über ihren Köpfen zusammen, das selbst die Grundmauern eines riesigen Komplexes ins Wanken bringen konnte.

Am Fuß der Treppe wartete eine breite, offene Tür, durch die sich eine klare Frauenstimme vernehmen ließ, die in beschwörendem Ton eine Art Litanei wiederholte. Legolas konnte nicht jedes Wort verstehen, da der Dialekt der Dunkelelben sehr verschieden von dem der Grau - und Waldelben war. Doch da sie alle gemeinsame Ursprünge besaßen, fiel ihm die ein oder andere Wendung sofort als bekannt auf. Deswegen hatte er kurz vor Alanns Befreiung auch sofort erkennen können, dass sich das Gespräch der Elben in dem Wachraum darum drehte, wie man Alann am besten für ihre Flucht bestrafen konnte. Auch dieses Mal alarmierten ihn die Worte, denn in dem Zauberspruch - die Formel konnte nichts anderes sein - ging es um die Beschwörung von uralten Mächten, deren Namen lang vergessen waren, jedoch nichts von ihrer erschreckenden Wirkung verloren hatten.

Sie verbargen sich hinter den letzten Stufen, kauerten sich auf den kalten Stein. Aragorn und Alann lagen neben Legolas und beobachteten fasziniert, was sich im Inneren des Raumes abspielte, den sie zum Teil einsehen konnten. Die Dunkelelben, etwas fünfzig von ihnen, waren um einen Podest versammelt, auf dem eine hochgewachsene, schöne Frau stand. Sie trug ein wertvolles, glänzendes Kleid in der Farbe von Obsidian und ihre dunklen Augen strahlten eisig. Legolas begriff, dass sie eine Magierin der Elben sein musste, gefährlich und überlegen in ihrer selbstsicheren Art. Doch was seine Aufmerksamkeit wirklich fesselte, war das, was hinter ihr stand. Der mehr als mannshohe Spiegel ruhte auf Füßen aus mattem, grauem Metall, die an Krallen erinnerten. Der Rahmen war mit fast schwarzen Steinen besetzt, die das Licht der Fackeln in dem Raum blutigrot widerspiegelten. Doch nichts an diesem Gegenstand war so phantastisch wie die Spiegelfläche, die eher an einen dunklen Brunnen erinnerte als an eine glatte Fläche. Kein Bild wurde zurückgeworfen, im Gegenteil. Zunächst noch undeutlich, dann aber stärker verdichteten sich die dunkelnden, wirbelnden Schlieren im Spiegel zu einer Legolas unbekannten Landschaft. Der Gesang der Magierin schwoll an und sie hob die Arme beschwörend in die Luft.

Das alte Schloss schüttelte sich erneut, so als wehre es sich gegen die Übernahme durch die dunklen Mächte. Schutt rieselte auf die Lauernden auf der Treppe und dichter Staub machte das Atmen schwierig. Legolas blinzelte und konzentrierte sich wieder auf das Geschehen. Die Landschaft im Spiegel war nun sehr deutlich zu erkennen, eine bewaldete Ebene mit kleinen Flüssen und Auen. Ein Elb trat vor und verbeugte sich tief vor der Magierin, die nun abrupt verstummte. Eine angespannte Stille machte sich breit, als der einzelne Mann vor den Spiegel trat - und hineinging. Legolas vermochte seinen Augen nicht zu trauen, als der Elb aus dem Schloss verschwand und auf der anderen Seite der Spiegelfläche wieder erschien. Er wirkte verwirrt, blinzelte in das Licht einer Sonne, die nur er zu spüren schien und machte dann einige zögernde Schritte weg von dem Angelpunkt zweier miteinander verwobener Welten. Doch nur kurz, dann wiederholte er von den staunenden Augen aller den Vorgang und kehrte mit einem Schritt zurück auf die Seite des Schlosses.

Siegesgeschrei stieg an die Decke der Halle. Die Magierin lächelte, ein bösartiges, wissendes Lächeln. Aragorn stieß seinen lang angehaltenen Atem aus. Alann erzitterte. Und Legolas fühlte, wie sich die Augen der Dunkelelbin auf ihn richteten, obwohl sie ihn nicht sehen konnte. Ihr starrer Blick reichte tief in ihn hinein, umfasste in einem unerbittlichen Griff sein Herz und presste es zusammen. Eine Woge von Panik ergriff ihn gleich einem starken Sturm, der in seiner Brust losbrach. Bilder von einem schwarzen Land erreichten sein Gehirn, eine Vision der Verwüstung, die geschehen würde, wenn sich die Elben endgültig des mächtigen Zauberrelikts bemächtigten. Nur undeutlich hörte er, wie eine Stimme in der Halle zum Angriff rief und neben und hinter ihm hektische Aktivität losbrach. Aragorn und die Krieger stürmten voran, ließen ihn vollkommen paralysiert auf der Treppe sitzen.

"Legolas", rief eine Stimme, die wie durch dicken Stoff zu ihm vordrang. "Wehre Dich!"

Etwas Warmes ergriff sein Gesicht und sein Blick klärte sich. Alann hockte neben ihm, ihre Hand auf seine Wange gelegt. Als sie merkte, dass er in die Wirklichkeit zurückkehrte, lächelte sie kurz und ließ ihn los. Dann rannte sie ohne jegliches Zögern hinaus in die Halle, wo die Menschen den Elben im offenen Kampf gegenüberstanden. Alarmiert musste Legolas, der langsam auf die Beine kam, mitansehen, wie sie die Gruppe umrundete und ungesehen in Richtung des Spiegels schlich. Er konnte es nur vermuten, aber sie hatte vielleicht dieselben Bilder des Schreckens gesehen wie er. Und nun handelte sie.

Er sprang ins Kampfgeschehen und riss sein Schwert heraus. Sein Bogen würde ihm keinen Dienst leisen können, wohl aber diese Waffe, die von den besten Schmieden Düsterwaldes allein für ihn gefertigt worden war. Mit all dem Zorn, den er aufbringen konnte neben der Müdigkeit, die ihn immer noch überflutete, ließ er die Klinge in ihrer tödlichen Sprache für sich reden. Aragorn war ganz in seiner Nähe, und so schloss er zu ihm auf. Rücken an Rücken standen sie wortlos und blickten der Übermacht ins Gesicht.





So, das war es mit Teil 9! Wieder einmal befinden sich unsere Helden in einer ausweglosen Situation. Wollt Ihr mehr???? Dann reviewt mir!!!!!!!!!!

Eure Demetra

P.S. : Für die Fans von Romantik kann ich nur sagen - wartet es ab.hihi...