Teil 12 - Wendemarke

Aragorn trat hinaus in den Morgen und blickte über die Feste Minas Tirith, deren hohe Türme die Schönheit des neuen Tages brachen wie ein Kristall. Ein Gefühl tiefer Freude belebte seinen Schritt ebenso wie das Schlagen des Herzens in seiner Brust.

Arwen, seine schöne Königin, ruhte noch in ihrem gemeinsamen Gemach und er wollte sie nicht wecken. Dies war sein Moment, in dem alles, was sein früheres Leben gewesen war, mündete. Von nun an begann die neue Zeit.

Ein Anflug der alten Angst machte sich in ihm breit. Er war nur ein Mensch, voller Fehlern und Leidenschaften. Würde es ihm gelingen, seine Aufgabe zu erfüllen, konnte er nun, da Frieden war, für das Blühen des Landes zu sorgen, das er Sein nennen konnte? Doch der Baum in der Mitte des Hofes, den er mit seinen Händen gepflanzt hatte, wuchs und rankte sich mit kräftigen, neuen Trieben in den Himmel hinein, so als gäbe es kein Halten mehr. Für die Menschen dieser Stadt und des ganzen Landes, die nun ihre Waffen niederlegen konnten, um sich wieder dem Bestellen ihrer Äcker zuzuwenden.

Er ging hinab, verließ den Palast und eilte einige Treppen hinunter zu dem Platz, an den er soeben gedacht hatte. Noch einmal wollte er sich überzeugen, dass er nicht geträumt hatte. Und seine Hoffnung wurde nicht getäuscht. Lord Elrond saß am Brunnen und betrachtete versonnen den jungen, starken Baum.

Bei ihm saß Alann. Aragorn ging lächelnd auf sie zu.

"Vorgestern wurdet Ihr bei der Ankunft vermisst. Ihr habt die Festlichkeiten verpasst!"

Alann erhob sich von ihrem Platz und verneigte sich leicht. Ihr rostrotes Haar war zu beiden Seiten geflochten und an ihrem Hinterkopf aufgesteckt und fand sich auch in der Farbe ihrer Robe wieder. Aragorn staunte, wie liebreizend und edel sie aussah, denn obwohl er ihre wahre Schönheit schon während ihrer gemeinsamen Reise gesehen hatte, hätte er es nie für möglich gehalten, dass sie diese nun so offen zur Schau stellte. Vieles von den Elben musste auf sie abgefärbt haben. So war der Rubin doch zum Diamanten geworden und damit weniger greifbar für jene, die sie schon vorher gekannt hatten.

"Ich bedauere, dass ich Euch nicht früher meine Aufwartung machte. Tatsächlich traf ich mit einiger Verspätung ein. Aber aus den hintersten Reihen konnte ich alles erfolgen. Ich wünsche Euch Glück und die Kraft, Euch Eurem Schicksal zu stellen."

Aragorn betrachtete sie ernst, lauschte ihren Worten und wunderte sich auch, wie erwachsen sie geworden war, wie stolz und vernünftig. Doch er konnte es nicht lassen, sie damit aufzuziehen.

"Noch vor zwei Jahren hättet Ihr mich auf ein Bier eingeladen und dann im Hof zur Übung die Klinge mit mir gekreuzt. Ich warte noch darauf!"

Sie blickte ihn verdutzt an, dann fing sie an zu lachen und für einen Moment brach das übermütige Mädchen in ihr hervor. Aragorn sah, mit welcher Zufriedenheit Elrond die junge Frau betrachtete und freute sich für sie.

"Ich fechte nun nur noch mit Worten", beschied sie ihm. "Ich bin froh, dass ich nicht mehr kämpfen muss. Die Zeiten sprechen für meinen Entschluss."

Elrond erhob sich und Aragorn wandte sich ihm ehrerbietungsvoll zu.

"Ich ziehe mich zu einer Beratung mit Herrin Galadriel zurück", kündete der Elbenfürst an und verließ den Hof in ruhiger Würde. Alann blickte ihm mit einer leisen Trauer hinterher, die Aragorn sofort bemerkt.

"Die Stunde ist bald gekommen, nicht wahr?" Er legte ihr brüderlich eine Hand auf die Schulter. "Ich kann es selbst nicht fassen, dass sich die Zeit der Elben derart schnell neigt. Manchmal wünschte ich, ich hätte noch mein ganzes Leben Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Auch wenn er stets an meiner Seite war."

"Es ist fürwahr erschreckend." Alann neigte den Kopf, damit er ihren Blick nicht sah. "Meine Mutter wird mit ihm zu den Anfurten ziehen. Ich weiß, dass man sich gut um sie kümmern wird, aber mein Herz zweifelt, ob ich nicht mit ihr ziehen sollte."

Aragorn war um eine klare Antwort verlegen.

"Was Euch dort drüben erwartet, weiß ich nicht. Hier ist es Arbeit und Mühsal, diese Welt wieder aufzubauen und von den letzten dunklen Flecken zu reinigen. Wie ich Euch kenne, würde Euch Letzteres sicher reizen. Ihr seid eine Frau mit großem Herzen und klarem Verstand. Wir könnten Euch brauchen. Aber ich will Euch nicht bedrängen."

"Das tut Ihr nicht, mein Freund", seufzte sie leise.

"Habt Ihr mit Legolas gesprochen?", wollte Aragorn wissen und schloss aus den schnell wechselnden Ausdrücken ihres Gesichts, dass er mit diesem Thema sprichwörtlich in ein Hornissennest gestochen hatte. "Er machte sich schon gestern sehr rar. Aber vielleicht findet Ihr ihn."

Alann lächelte flüchtig.

"Wenn ich ihn suchen würde, dann könnte ich ihn wohl finden. Aber das möchte ich nicht. Es ist besser so." Ihre grünen Augen verdunkelten sich um eine Nuance.

"Was ist geschehen zwischen Euch?" Aragorn gab seiner Neugierde nach. "Er schien so froh, Euch in Bruchtal wiederzufinden und ich meine, auch Ihr wäret glücklich gewesen."

"Seither ist viel Zeit vergangen, Herr, und wir beide haben uns gewandelt. Unsere Wege, seine und meine, treffen sich, doch sie laufen nicht zusammen. Ihr werdet es verstehen. Heuet Abend wird Lord Elrond eine Eröffnung zu machen haben. Sie wird alles erklären."

"Und wenn ich Euch meinen königlichen Befehl geben, Euch diese schon jetzt zu offenbaren?" Aragorn runzelte gespielt streng die Brauen und entlockte Alann ein weiteres Lächeln.

"Die Rechte der Menschen gelten nicht für mich", gab sie hochmütig zurück, aber mit einem Funkeln in ihren Augen. "Aber aus Freundschaft sage ich es Euch. Elrond plant, mir seine Bibliothek zu überlassen, wenn ich mich entscheide, hier zu bleiben. Als Hüterin über die alten Schriften werde ich meine Gabe zum Nutzen dieses Landes einsetzen."

"Warum diese Entscheidung?"

"Wenn die Elben diese Welt verlassen, dann verlassen sie auch die alten Sagen und Deutungen. Ein völliger Neubeginn steht ihnen bevor und sie lassen alles zurück, das sie bisher belastete. Eine neuerliche Bürde wir mir aufgetragen und vielleicht bin ich auch deswegen unschlüssig, wie ich mich entscheiden soll."

Aus den Augenwinkeln sah Aragorn, wie Arwen die große Treppe hinunterschritt, leichter als der Wind und so sehr er es auch bedauerte, wurde damit sein Gespräch mit der ehemaligen Diebin unterbrochen. Doch Alann schien es nicht auszumachen. Im Gegenteil, mit erstaunlicher Hast verneigte sie sich vor ihm und seiner Königin und eilte davon, wie von bösen Dämonen verfolgt. Vielleicht waren es ihre eigenen Gedanken, die sie trieben. Aragorn wusste, dass er den Abend gespannt erwarten würde. Doch als er zu Arwen sah, die auf der letzten Stufe verharrte wie in unwirklich fernes Wesen, ging er zu ihr und beging in ihren Armen den Zauber dieses Morgens.

***

In der großen Halle hatten sich außer den Elben und der Gemeinschaft des Ringes niemand versammelt. Es war später Abend, der freundliche Tag war einer windumtosten Dunkelheit gewichen, die über die Ebenen der Menschwelt hinwegfegte. Es würde einen Sturm geben, das spürte Aragorn in seinen Knochen.

Er saß auf seinem Thron, der sich fest und unerbittlich in seinem Rücken befand und ihn seiner Aufgabe gemahnte. Arwen saß neben ihm und schwieg, die Hände im Schoß verkrampft. Sie war an diesem Tag außerordentlich ruhig gewesen, doch es benötigte zwischen ihnen keine Worte, dass Aragorn erkannte, dass sie sich innerlich auf den Abschied von ihrem Vater vorbereitete.

Die Elben standen in kleinen Gruppen zusammen. Legolas lehnte allein, ein Stück entfernt von den anderen, an einer Säule, lässig einen Fuß daran gestützt, die Arme verschränkt. Obwohl er ein Bild der Selbstsicherheit bot, konnte Aragorn einen winzigen Riss in der Fassade seines alten Freundes erkennen - Legolas Augen suchten ständig den Raum ab, so als suchten sie etwas oder jemanden.

Das Objekt seiner Aufmerksamkeit betrat schließlich in Begleitung von Elrond und Galadriel den Raum, klein neben den Elben, doch nicht weniger schön und erhaben. Galadriel war wie der Winter, kühl und strahlend, Elrond wie ein Stein, ruhig und wie stets in Grau gekleidet. Alann, die wie eine züngelnde, lebendige Flamme zwischen ihnen schritt, wirkte unglücklich, doch sie verbarg ihre Gefühle ebenso gut wie Legolas, der bei ihrem Anblick einen Schritt zurück in den Schatten trat.

Noch immer war sich Aragorn nicht im Klaren darüber, was diese beiden, die offensichtlich das Schicksal zusammengeführt hatte, nun wieder trennte. Aber er würde es noch herausbekommen, denn Beharrlichkeit gehörte zu seinen stärksten Tugenden.

Die drei Elben, die als Letzte eingetreten waren und hinter denen die Wachen die Tür schlossen, verharrten in die Mitte der Halle und obwohl Aragorn wusste, was geschehen würde, griff die seltsame Stimmung sofort auf ihn über. Etwas Bedeutsames stand unmittelbar bevor und er war sich sicher, dass Alann ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.

Elrond erhob seine volltönende Stimme, die die steinerne Halle bis in den letzten Winkel auszufüllen schien. Alle Gespräche verstummten und für einen Moment legte sich auch der pfeifende Wind außerhalb der trutzigen Mauern.

"Es ist soweit. Der Abschied von diesen Gestaden steht meinem Volk bevor. Alles, was uns für Äonen am Leben erhielt und das wir ehrten, lassen wir zurück. Dennoch geben wir nichts auf, sondern legen unsere wertvollsten Schätze in neue Hände." Sein Blick kreuzte sich kurz mit dem Aragorns. Dieser verstand diesen Satz als endgültige Absolution für seine Verbindung mit Arwen. Es mochte einem außenstehenden Betrachter vielleicht als seltsam erscheinen, doch bis zu diesem Moment hatte er nicht gewusst, wie Elrond darüber empfand, dass ihm seine einzige Tochter genommen wurde. Aragorn Spannung nahm etwas ab. Er ließ sich in seinem Thron ein wenig zurückfallen und fühlte, wie sich Arwens weiße Hand in die seine stahl, als ihr Vater weitersprach: "Oftmals offenbarten sich den Elben Mächte, die den Sterblichen nicht zur Verfügung stehen. Wir machten uns zu ihrem Sprachrohr, um dem ganzen Land Frieden und Wohlstand zu bringen. Diese Aufgabe müssen wir - muss ich - nun abgeben, um unserer Bestimmung folgen zu können. Eine lange Zeit schon fürchtete ich, dass wir damit ein Teil aus dem Herzen Mittelerdes reißen und eine blutende Wunde hinterlassen würden." Elrond blickte ernst in die Runde, fixierte die Anwesenden, die ihm ihrerseits voller Anspannung entgegenblickten. Dann seufzte er leise und wandte sich zu Alann, die wie auf eine geheime Verabredung hin einen Schritt vortrat. "Doch meine Angst wurde besänftigt. - Stellt Euch vor, mein Kind."

Alann verneigte sich anmutig vor den Anwesenden. Aragorn beobachtet, wie sich Gandalfs Augen weiteten, als er sie betrachtete und dann ein Leuchten in die Augen des Zauberers einzog, das sich den ganzen Abend nicht mehr löschen lassen würde. Was wusste Gandalf?

"Mein Name lautet Aerlinn Iavais, doch bei den Menschen kennt man mich unter dem Namen Alann. Als Halbelbin war ich unter den Waldelben, von denen ich stamme, nicht sehr angesehen und deshalb suchte ich meinen Platz in der Welt der Menschen. Zwei Jahre, bevor die Gemeinschaft des Ringes aufbrach, hatte ich einen verhängnisvollen Unfall." Ihre Augen suchten in der Halle nach einem bestimmten Punkt, doch Legolas Blick, den sie hatte auffangen wollen, war abgewandt. Sie schien daraufhin ein Stück in sich zusammenzufallen, doch dann sprach sie in selbstbewusstem Ton weiter. "Ich möchte Ihnen die Einzelheiten ersparten. Ein magischer Gegenstand rettete mein Leben und seine Kräfte gingen in mich über, als er endgültig zerstört wurde. Seitdem ist es mir möglich, Dinge vorherzusehen, die geschehen werden. Lord Elrond, der diese Gabe ebenfalls besitzt und schon seit langer Zeit schult, nahm mich mit großer Freundlichkeit auf und wurde mein Lehrmeister. Ihm verdanke ich es, dass ich mir über meine Fähigkeiten nun im Klaren bin."

"Sie ist mir ebenbürtig", warf Elrond ein und löste ein erstauntes Gemurmel aus. "Und deshalb, und weil sie es ablehnte, mit zu den Grauen Anfurten zu ziehen, übergebe ich Ihr meine gesammelten Schriften. Als meine Nachfolgerin wird sie die Geschicke Mittelerdes in die Hände nehmen. Sie ist ein Kind der neuen Zeit und ich setzte mein ganzes Vertrauen in sie."

Eine Woge der Sprachlosigkeit breitete sich unter den Zeugen dieser Eröffnung aus. Die Elben begann, aufgeregt miteinander zu flüstern. Keiner schien es so recht glauben zu können, dass Elrond einer sterblichen, und noch dazu sehr jungen Frau eine derartige Verantwortung zu überlassen. Die Hobbits warfen sich verwirrte Blicke zu. Sie kannten Elronds Macht, da sie selbst eine längere Zeit in Bruchtal verbracht hatten und konnten sich wahrscheinlich schlecht vorstellen, wie überhaupt irgendein lebendes Wesen des Platz des Elbenherrschers einnehmen konnte. Gimli grummelte irgendetwas in seinen Bart, das sich verdächtig nach " - schon wieder eine Elbenzauberin-" anhörte. Nur Gandalf und Legolas schwiegen, der eine offenkundig zufrieden, der andere eigensinnig.

Alann sah unbehaglich drein, doch Galadriel berührte ihre Hand für einen flüchtigen Moment und das ließ neuen Mut in sie hineinfließen. Sie hob stolz das Kinn und sprach:

"Mir ist durchaus bewusst, welche Aufgabe mich erwartet. Manche mögen nun denken, ich sei zu unerfahren oder zu leichtfertig - zu menschlich -, um sie zu übernehmen. Doch ich weiß eines: In dem Moment, in dem ich damals begriff, dass ich sterben würde, da flehte ich in Gedanken darum, gerettet zu werden, um jeden Preis. Und es geschah so. Es wäre sehr vermessen, wenn ich nun dieses Wunder verleugnen und mich von meiner Gabe abwenden würde. Ich bekam sie als Unterpfand für meine Rettung. Den Rest meines mir auf diese Weise geschenkten Lebens werde ich nun dem Dienst an den Schriften und ihrer Deutung widmen. Ich werde in Einsamkeit verweilen und nichts sonst meine Aufmerksamkeit schenken."

Aragorn stieß seinen lange angehaltenen Atem aus und barg für einen Moment das Gesicht in den Händen. Nun war es heraus. Plötzlich verstand er, was sie trieb, was sie dazu brachte, Legolas zurückzuweisen.

Jedes ihrer Worte war klar verständlich, doch noch viel mehr hatte ihr Gesicht gesprochen, von der Qual ihrer Entscheidung, der sie letztendlich ihr Selbst unterjochte. Sie hatte sich für das entschieden, für das sie bestimmt worden war - und nicht für das, was sie hätte sein können. Der Gedanken war Aragorn so vertraut wie das Geräusch seines eigenen Atems. Er hatte sich ebenso entschieden wie sie, doch ob sie so glücklich damit werden würde wie er, konnte er nicht versprechen.

Die Elben schienen überzeugt von Alanns Rede, denn einige erwiesen ihre Referenz und drängten sich um sie, um das Gespräch zu suchen. Der offizielle Teil schien beendet. Eine Tür klappte. Aragorn seufzte, als er in die Richtung des Geräusches blickte und den offenen Ausgang zum Hof erblickte. Legolas war gegangen.

"Ich beneide sie nicht um ihre Aufgabe", sagte Arwen nachdenklich und folgte seinem Blick. "Sich zwischen Bestimmung und Wünschen zu entscheiden hat noch nie jemanden glücklich gemacht. Ich bin froh, dass ich die Gabe nicht von meinem Vater ererbt habe. Sonst wäre mir etwas Ähnliches widerfahren wie Alann."

Aragorn lächelte ihr liebevoll zu und ihm stockte fast der Atem bei der Vorstellung, die ihre Worte in ihm erzeugten.

"Es ist ein ebenso wunderbar für uns wie furchtbar für sie", erklärte er nachdenklich und blickte zu Alann herüber. Die Art, wie sie tapfer auf alle Fragen der sie Umgebenden antwortete und doch so wirkte, als wollte sie ebenso fliehen wie Legolas, rührte ihn. Entschlossen erhob er sich und drängte sich zu ihr durch die Versammlung. Er hatte noch etwas zu klären.

***

"Ich bin nicht sicher, ob dies eine gute Idee ist, König Elessar!" Alann lief neben Aragorn, aber auch nur, weil er eine Hand in ihre Rücken gelegt hatte und sie unnachgiebig vor sich her schob. Ganz konform mit seinem Gefühl braute sich um sie herum ein Unwetter zusammen und noch waren die Böen trocken, die sie umwehten. Sie folgten Legolas, der über den Balkon des Versammlungssaales verschwunden war und Aragorn würde nicht eher ruhen, bis er den Elben und Alann gezwungen hatte, miteinander zu reden. Zwar war Alanns Entscheidung vernünftig und das Beste für alle anderen. Doch nicht für sie selbst. Sie war stets eine Person gewesen, die ihrem Herzen folgte. Das konnte sich nicht geändert haben, auch wenn sie sich so sehr gewandelt hatte. "Streicher!", fauchte Alann und machte sich mit einem Ruck los. Die steife Elbenmaske zerbröselte zu Staub und ließ eine verärgerte junge Frau zurück. "Ich bin kein Kind mehr. Ich kann allein gehen. Und ich werde keinen Schritt mehr tun."

Störrisch verschränkte sie die Arme und schien ihre Ankündigung tatsächlich wahr machen zu wollen. Aragorn verdrehte die Augen zum wolkenumflorten Himmel.

"Kaum bin ich König, da muss ich mich nicht etwa mit Hungersnöten und Agrarreformen beschäftigen, sondern mit zwei Elben, die denselben Holzkopf haben. Warum wurde ich so vom Schicksal gestraft?"

"Ihr wurdet gestraft?" Alann ging auf seine Provokation ein, ihre Nerven schienen blank zu liegen. Wie ein quengeliges, übermüdetes Kind stampfte sie mit dem Fuß auf. "Macht Euch nicht lächerlich! Ihr wolltet dies alles, einen Palast, eine hübsche Königin und eine Stall voll Kinder! Und was bekomme ich? Ich lasse mich von meinen sinnlosen Schuldgefühlen einem hochnäsigen Prinzen gegenüber dazu treiben, Euch auf Eurer Reise zu begleiten und ende als seelisches Wrack!" Sie schwieg verdutzt und starrte ihn an, als habe er diese tiefsten Gefühle aus ihr herausbrechen lassen. Danach sammelte sie sich einen kleinen Moment, sprach schließlich langsam und bedächtig. "Ich habe jede Nacht seit jenen Tagen in Bruchtal überlegt. Es hat mich fast verrückt gemacht, festzustellen, dass ich meinen eigenen Gefühlen trotzen muss, um -. Um das zu tun, was mir mein Gewissen und mein Anstandsgefühl sagen."

"Du hast den Anstand bisher auch immer recht gut ausgegrenzt. Warum nicht hier?"

"Legolas!" Aragorn verkniff sich einen deftigen Fluch und löste seine Hand vom Schwertgriff, als der Elb unversehens aus einem Gebüsch auftauchte und wie ein von der Nacht geschaffener Rachegeist von ihnen aufragte. "Verdammt, könntest Du mit diesen dramatischen Auftritten aufhören? Dies ist kein Abenteuerroman!" Dann erinnerte er sich, worum es eigentlich ging und hob abwehrend die Hände. "In Ordnung, da Du nun hier bist, ist mein Teil des Abends beendet."

Und so schnell er konnte, zog er sich zurück. Den verdutzten Ausdruck zweier Gesichter bekam er gerade noch mit, als er um eine Ecke bog und sich dort erst einmal gegen die Mauer lehnte. Indiskretion hasste er normalerweise, doch es war nicht auszuschließen, dass sich die beiden Streithähne wieder in endlosen Debatten verfingen. Er lugte vorsichtig um die Ecke und stellte fest, dass er alles überschauen, aber nicht selbst gesehen werden konnte.

Legolas und Alann standen sich gegenüber wie zwei, die sich nichts mehr zu sagen hatten. Sie starrte angestrengt auf seine Mantelspange und er ihren Scheitel.

"Ich wollte schon früher mit Dir reden", sagte Alann irgendwann und wischte sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, die der Wind hineingetragen hatte. Sie sprach so leise, das Aragorn sie kaum verstehen konnte, aber das war auch gut so. Von Sekunde zu Sekunde fühlte er sich schuldiger, überhaupt in seinem Versteck auszuharren. Doch er musste auch wissen, dass Alann sich nicht unglücklich machte, obwohl ihn der Verdacht befiel, dass es zu spät sein könnte.

"Ich hatte Dein Schweigen als Antwort akzeptiert, und dies hier bedeutet wohl dasselbe. Aber es macht alles nur schwieriger." Legolas klang absolut gefasst.

Alann lachte leise und bedrückt.

"Ich wollte mich zumindest erklären, aber ich finde keine Worte, die mehr sagen könnten, als ich es bereits in diesem Saal getan habe. Hier kann ich nicht auf meine Ehre verzichten, denn ich habe so etwas wie einen Pakt mit dem Tod geschlossen, aus dem ich nicht entkommen kann. Und ich habe einen Pakt, aus dem ich nicht fliehen will, mit den Menschen, die diese Welt von nun an regieren werden."

Legolas antwortete nicht mehr, doch die Sanftheit, mit der er Alann an sich zog, so als wisse er, dass es das letzte Mal sein würde, sprach Bände.

Aragorn zog den Kopf zurück. Er hatte genug gesehen. Der Schmerz, der aus jeder Geste, jedem Satz der Liebenden sprach, traf ihn zutiefst, da ihn mit beiden eine aufrichtige Freundschaft verband. Wieder einmal haderte er mit den wirren Fäden des Schicksals, denn er sorgte sich viel mehr um seine Freunde als um sich selbst. Wie ungerecht das Leben sein konnte, wie erschreckend leicht ihn doch einem solchen Ereignis dazu bringen konnte, die Freude über den Sieg des Guten zu vergessen und zu zürnen!

Er wandte sich zum Gehen und fand sich Auge in Auge mit Gandalf wieder. Dies war nicht sein aufmerksamster Abend, stellte Aragorn fest, als er zurückprallte. Die Augen des Magiers funkelten im selben geheimen Feuer, das sich bereit in der Halle in ihnen entzündet hatte. In seinem weißen Gewand, das in einem seltsamen Licht leuchtete, schien der alte Mann sämtliche grimmige Unbill des Wetters verdrängen zu wollen, als er Aragorn mit einem Lächeln und einer Geste anbot, mit ihm zu gehen. Dieser fügte sich ohne Zögern.

Sie schritten eine Weile still nebeneinander, lauschten dem Donnergrollen und verfolgten den Lauf der ersten Blitze über den fernen Gebirgskämmen. Dann sprach Gandalf und es war, als hörte Aragorn die Erde selbst reden, als habe der Weise nie etwas Wahreres gesagt. In dieser Nacht, vor seiner letzten Reise auf den schaumigen Wellen der Anfurten, ließ Gandalf noch einmal die Macht und das Wissen sprechen, die ihm verliehen worden waren. Er mochte müde sein und bereit, Mittelerde zu verlassen, doch er liebte sie. Ergriffen und getröstet hörte Aragorn zu und die Worte formten erst langsam einen klaren Sinn in seinem Kopf, so wie zähflüssiger Honig.

"Jede Geschichte hat einmal ein Ende. Und dieses ist gleichzeitig der Anfang für etwas Neues. Dass ich gehe, bedeutet nur, dass nach mir diejenigen folgen, die es noch besser zu verstehen wissen, dem Guten zu dienen. Was heute Gram und Zweifel ist, wird morgen Gewissheit sein. Hab keine Angst um die Schmerzen, die Du oder deine Freuden heute empfinden. Sie werden gelindert werden, wenn Ihr alle nur den Glauben daran nicht verliert, dass Ihr neue Regeln schaffen könnt, bessere Regeln, die die der alten Generation übertreffen. Was Euch heute Euer Gewissen befiehlt, dass ist nach Ende dieser Nacht fortgeweht vom scharfen Wind aus der Steppe. Es gibt keine alte Magie mehr, keine Elben, keine tatterigen Zauberer, die Euch etwas befehlen. Solange Eure Herzen im selben Takt schlagen und durch Ehrlichkeit und Intuition nicht aus dem Takt geraten, dann könnt Ihr tun, was Ihr wollt. Es ist jetzt Eure Erde. Gestaltet sie mutig und frei. Verantworten müsst Ihr Euch nur vor Euch selbst."

Dann verschwand Gandalf in der Dunkelheit, wie ein weißer Stern, der als Komet für einen Moment über den Nachthimmel zog und dann verlosch. Aragorn blickte ihm nach. Er lächelte. Denn er hatte verstanden. Und die anderen würden es ihm gleich tun."



Ende





Dies war das Ende! Zu verworren? Ich hoffe es nicht und ebenso, dass diese Geschichte Euch gefallen hat. Wir sehen (lesen) uns wieder, keine Frage. Bis dahin!

Es grüßt Euch

Eure Demetra