Story Time

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Es hat wieder zu schneien begonnen, und die dicken, tanzenden Flocken vor dem Fenster machen die Atmosphäre im Gemeinschaftsraum noch heimeliger. Trotzdem ist Remus in dem Moment, in dem er durch das Porträtloch steigt, klar, dass er seinen ruhigen Lesenachmittag vergessen kann.

Sirius lehnt an der Couch und blättert in dem Buch, das Remus auf dem Weg zur Küche auf den Sofatisch gelegt hat. Zu sagen, dass er liest, wäre eine Übertreibung, denn er schlägt die Seiten so schnell um, dass das Papier raschelt. Beim Klappern des zuschwingenden Porträts blickt er auf und runzelt die Stirn.

„Ein Kinderbuch?" fragt er. „Echt jetzt?"

Nur mit Mühe schafft es Remus, einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. Es ist zwei Tage nach Weihnachten, sie sind allein im Gryffindor-Turm, und Sirius geht vor Langeweile fast die Wände hoch. Er bemüht sich tapfer, es sich nicht anmerken zu lassen - ein Versuch, den Remus ihm hoch anrechnet. Aber wenn Sirius Black versucht, seine Langeweile zu verbergen, dann ist das, als würde man versuchen, einen ungarischen Hornschwanz unter einer Tischdecke zu verstecken.

Remus levitiert seinen Kakao auf den Couchtisch. „Das ist kein Kinderbuch", verteidigt er seine Lektüre und will nach dem Buch greifen, aber Sirius zieht es geschmeidig außer Reichweite.

Penguin's Märchenklassiker für Kinder", liest er vom Einband ab.

„Das ist kein Märchen!" sagt Remus mit Nachdruck und verflucht im Stillen den Verleger. „Das ist eine Abenteuergeschichte. Es geht um ein untergegangenes Zwergenreich und einen Drachen, der einen Schatz bewacht und um -"

Sirius bricht in schallendes Gelächter aus. „Oh Mann", sagt er und wirft das Buch auf die Couch. „Diese Muggel checken's einfach nicht, oder?"

Remus schüttelt den Kopf. „Armes, reiches Reinblut-Kind", sagt er spöttisch und lässt sich in die Polster fallen. „Du weißt ja nicht, was du verpasst." Er schlägt das Buch auf. Das Lesezeichen, offenbar aufgeschreckt von Sirius' wildem Geblättere, murmelt unwillig vor sich hin. Remus legt es beiseite. „Hier, hör einfach mal zu." Er blättert zurück zum Anfang des Kapitels und beginnt:

Als Bilbo seine Augen öffnete, fragte er sich, ob er sie wirklich offen hatte, denn es war genauso dunkel, als hätte er sie noch geschlossen gehalten. Niemand war bei ihm. Stellt euch seine Angst vor! Er konnte nichts hören, nichts sehen, und er konnte nichts fühlen außer den Steinen auf dem Boden. Er erhob sich langsam und kroch auf allen vieren umher, bis er die Wand des Stollens berührte. Aber dort konnte er nichts finden: gar nichts, keine Spur von Orks, keine Spur von Zwergen. Sein Kopf schwamm vor Benommenheit, und er hatte keine Ahnung, in welcher Richtung sie gelaufen waren, als er seinen Sturz tat."

„Was soll das eigentlich sein, ein Hobbit?" unterbricht Sirius. Er hat sich mit beiden Händen auf der Couchlehne abgestützt und macht kleine, hüpfende Bewegungen, als versuche er, freischwebend Liegestütze zu machen.

„Zuhören, Mr. Black", tadelt Remus in der besten Imitation Professor McGonagalls, zu der er fähig ist. Sirius prustet und balanciert munter weiter, aber er gehorcht und sagt nichts mehr.

Unwillkürlich muss Remus an seinen Vater denken, der ihm früher oft vorgelesen hat. John Lupin hat die Gabe, mit seiner Stimme ganze Bücher lebendig zu machen. Alles, was Remus kann, ist, die Worte auf dem Papier wiederzugeben. Aber es dauert nicht lange, da hat er zu seiner eigenen Überraschung einen Rhythmus gefunden, und bevor er sich versieht, hat er sich in der Geschichte verloren. Er findet mit Bilbo seine Waffen wieder - und einen dünnen Goldring, der ein Wendepunkt in seinem Leben sein wird. Er folgt dem finsteren Stollen, verirrt sich tiefer und tiefer in den Nebelbergen und stolpert schließlich in eiskaltes, dunkles Wasser, an dem ein heimtückisches Geschöpf mit bleichen Augen haust...

Das helle Klingeln der Uhr auf dem Kaminsims holt ihn unwirsch aus Mittelerde nach Schottland zurück. Stirnrunzelnd blickt er auf.

Sirius hat das Hüpfen aufgegeben und liegt nun rücklings über der Armlehne, so dass seine Füße den Boden berühren und er Remus nur kopfüber ansehen kann. Remus' Nacken tut schon beim Hinsehen weh, aber Sirius scheint keine derartigen Probleme zu haben. Trotz der verqueren Position starrt er Remus aus seinen schwarzen Augen so intensiv an, als wolle er ihn hypnotisieren. „Weiter", sagt er.

Remus grinst. „Doch nicht so dumm, die Muggelmärchen, was?"

„Ich denke, das ist kein Märchen", gibt Sirius süffisant zurück, aber Remus kennt ihn zu gut. Er wittert eine Chance.

„Wenn ich weiterlese, will ich dein hochheiliges Rumtreiber-Ehrenwort, dass du dich nie wieder über meine Bücher lustig machst."

„Quatsch nicht, lies", befiehlt Sirius.

„Ehrenwort?"

„Du spinnst ja."

Remus klappt das Buch zu.

„Okay", ruft Sirius, rollt sich herum und windet sich wie ein Aal, bis er in der Couchecke zu sitzen kommt. „Von mir aus. Ich lache nie wieder über deine blöden Bücher, Ehrenwort und alles. Zufrieden?"

Remus macht sich nicht die Mühe, sein triumphierendes Lächeln zu verbergen, als er das Buch wieder aufschlägt.

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Und dann lacht Sirius doch, über die eigentümliche Sprechweise Gollums und über das "Keinbein"-Rätsel. Remus verzeiht es ihm, denn er lacht genauso. Das Buch ist eine Sonderausgabe, die farbige Illustrationen enthält, deshalb krabbelt Sirius irgendwann über die Couch und hängt sich auf Remus' Schulter, um die Bilder sehen zu können. Es ist nicht gerade bequem, aber Remus lässt ihn gewähren. Immerhin hat Sirius mit dem Rumgezappel aufgehört und hört der Geschichte zu. Da will Remus, der an schmerzende Muskeln und Knochen gewöhnt ist, nicht kleinlich sein.

Der Nachmittag ist längst in den Abend übergegangen, als er das Kratzen in seinem Hals nicht länger ignorieren kann. Seine Kehle fühlt sich an, als sei sie mit Sandpapier ausgekleidet. Man muss längst hören, dass er kurz vorm Stimmverlust ist, trotzdem protestiert Sirius mit einem lauten „Hey!" als er das Buch zuklappt. Remus schüttelt den Kopf. „Mehr geht nicht", sagt er.

„Es hört aber gerade auf, dämlich zu sein", schmollt Sirius.

„Ich kann nicht mehr", sagt Remus halb lachend, halb genervt. „Ehrlich." Der Kakao ist natürlich längst kalt, deshalb steht er auf und geht zu seinem Nachttisch hinüber, um sich ein Glas Wasser einzuschenken.

„Oh, komm schon", bettelt Sirius, mit diesem langgezogenen "Oh" und diesem Augenaufschlag, mit dem er bei James alles durchsetzen kann.

Aber nicht bei Remus.

„Lies doch selber", sagt er, bevor er das Glas an die Lippen setzt. Das Wasser ist angenehm kühl und rinnt wie ein silbriger Strom durch seine Kehle.

Misstrauisch beäugt Sirius das Buch neben sich. Er streckt ein Bein aus, versetzt ihm mit der großen Zehe eine Stubs und zieht den Fuß dann schnell zurück, als fürchte er, dass es zuschnappen könnte. „Nee", sagt er. „Das ist langweilig."

„Tja", sagt Remus gut gelaunt und schenkt sich nach. „Dann hast du jetzt ein Problem."

„Nö", erwidert Sirius grinsend, stippt einen Finger in den kalten Kakao und leckt ihn geräuschvoll ab. „Reiches Reinblut-Kind, schon vergessen? Für alles, was langweilig ist, kann ich jederzeit jemanden bezahlen."

Remus schnappt sich sein Kissen vom Bett und wirft es ihm an den Kopf.

*Fin*