Kapitel 5
Der Feind

Die in schmucklose, graue Gewänder und einen weiten Kapuzenmantel gehüllte schlanke Gestalt verharrte einen Moment reglos auf einer flachen Anhöhe der Großen Ebene, die im Nordosten Arnors von den letzten Ausläufern des Nebelgebirges begrenzt wurde.
Vor ihren Augen breitete sich ein Heerlager aus, wie es gewaltiger nicht sein konnte. Unzählige Zelte boten wilden Kriegern Unterschlupf und genauso unzählige Wagen, die mit Proviant und Waffen aller Art bestückt waren, zeugten von der gewaltigen Macht, die das Heer aufzubringen fähig war.

Der karge Boden der Ebene war aufgewühlt von aberhundert Füßen und den eisenbeschlagenen Rädern schwerer Karren und den Hufen starker Pferde, deren schrilles Wiehern von Zeit zu Zeit vom Wind über das Lager getragen wurde.
Verwüstet war das einstmals mit einer eigenen Schönheit gesegnete Land und wie ein dunkler Hauch lag feiner Nebel tief über der Ebene, der nie ganz verschwand und den Blick trübte und der das Atmen schwer machte. Aber die Orks, Warge und Menschen wurden es nicht gewahr, ja es berauschte sie sogar und sie wurden mit jedem Tag kampfeslüsterner und ungeduldiger.

Der einsame Reisende sah gleichgültig über das geschäftige Treiben hinweg, das sich vor seinen Augen in der Dämmerung eines frühen Abends abspielte. Er hatte in seinem langen Leben ganz andere Heere gesehen, prächtigere und gleichzeitig noch viel grausamere, die Tod und Verwüstung mit sich gebracht hatten.

Es schien Ewigkeiten her zu sein, aber er vermeinte noch immer den Klang der Schlachten zu vernehmen, das Kriegsgeschrei und das ohrenbetäubende Zusammentreffen gewaltiger Heere. Solche Kampfkraft gab es nicht mehr in Mittelerde - aber es würde sie wieder geben, wenn Er erst einmal zu neuer Macht gekommen war ... Denn Er würde alle Reiche - gehörten sie Menschen, Elben oder Zwergen - überrennen und seine dunkle Herrschaft errichten auf den gebrochenen Körpern seiner Feinde.
Der Fremde setzte sich in Bewegung und schritt zielstrebig mitten in das Heerlager hinein, das von keiner Wache umstellt war, denn dies war nicht nötig - niemand würde sich hineinwagen in den Haufen rauer Gesellen, die an Feuern hockten oder herumgingen, in groben Worten einander etwas zuriefen und die Waffen schärften.
Der Fremde jedoch tat es und er hatte ein bestimmtes Ziel vor Augen: die Festung von Carn Dûm, die hoch oben die Ebene und das Gebirge beherrschte, an dessen letzte Ausläufer sie sich schmiegte und aus dessen Steinen sie erbaut war. Jahrhunderte hatte sie überdauert; dem Wetter und der Zeit getrotzt und war mit ihrem Herren immer gewaltiger und entsetzlicher geworden.

In ganz Arnor wurde nur flüsternd vom Reich im Nordosten gesprochen und auch im Süden war der Name Angmar nicht unbekannt - Eisenheim, von den Elben so genannt in weiser Voraussicht.
Wehrhafte dunkle Mauern sprachen eine deutliche Sprache und waren Warnung genug für jeden, der nicht einen guten Grund hatte, die Feste aufzusuchen.
Ein eisernes Tor, beschlagen mit Mithril und verstärkt durch Magie und verziert mit Runen, deren Bedeutung sich niemanden als nur dem Herrn der Festung selbst erschloss, versperrte den Weg.

Ein hoher Turm, verwittert und rau, ragte über allem auf. Kein lebendes Wesen hatte je seine Spitze betreten, denn er war allein dem Herrn von Angmar vorbehalten und der König stieg jeden Abend nach Einbruch der Dunkelheit hinauf und schaute in die Ferne und niemand wusste, was er sah.
Nach Westen blickte er, in das letzte Reich der Dúnedain Arnors und Begehren kam in sein Herz. Es dürstete ihn nach ihrem Blut, denn er hasste sie, die Erben der Númenorer, weil sie ihm so lange standgehalten hatten.
Nach Süden schaute er, nach Gondor, dem zweiten großen Reich der Menschen, die sich und ihren Ahnen ein würdiges Denkmal gesetzt hatten mit Minas Arnor, der prächtigen Stadt mit den hellen Mauern, deren Tore er eines Tages zum Einsturz bringen würde und damit wäre das Ende gekommen für die Erben Elendils und Isildurs.
Auch nach Südosten zog es seine Augen hin - dort, im Düsterwald, war Er, der Herr und Meister und Er streckte seine unsichtbaren Klauen aus nach seinem gehorsamen Diener und sein brennendes Auge erinnerte den König immer aufs Neue daran, wem seine Seele gehörte bis in alle Ewigkeit. Aber nur er wusste darum - nur er und die, die dem Einen Ring ebenso erlegen waren wie er ...

Der Fremde zog den Mantel ein wenig enger um seinen verborgenen Körper und begann zu verblassen wie die Strahlen des Mondes, wenn eine Wolke sich vor sein Angesicht schiebt. Wie ein fahler Schemen glitt er zwischen den Zelten hindurch, über die sich die Nacht legte.
Die Orks, Warge und Wilden Menschen des Nebelgebirges wurden seiner so erst nach geraumer Zeit gewahr, denn sie spürten mehr als das sie sahen, dass sich etwas unter ihnen befand, was nicht zu ihresgleichen gehörte.
Schließlich meinte einer, eine verhüllte Gestalt vorbeihuschen zu sehen, dann ein zweiter und die Warge fingen an zu knurren und zu winseln, denn sie witterten Tod und Verderben und die Orks fingen an zu streiten und die Menschen spürten Furcht in ihre Herzen kriechen.

Aufregung und Verunsicherung breiteten sich aus, auch wenn keiner genau zu benennen vermochte, was die Ursache war. So geriet das Lager in Aufruhr, während sich der Fremde unbehelligt seinen Weg suchte und keinen einzigen Gedanken an seine Umgebung verschwendete.
Es war ein beschwerlicher Weg hinauf zur Festung. Ein schmaler Pfad wand sich nach oben, eng an den Fels geschmiegt und wer einen Fehltritt tat, der war verloren. Den Fremden störte es nicht - er kannte keine Anstrengung und keine Furcht vor dem Abgrund, der sich zu seiner Linken auftat, finster und tief.
Endlich stand er vor dem ehernen Tor der Festung. Es war geschlossen und öffnete sich nur für wenige Lebewesen, denn kaum jemand wagte einen Schritt hinein in das Herz des Bösen - den Mittelpunkt des Hexenreiches von Angmar.
Der Fremde jedoch wollte genau dies und so hob er die Hand kaum merklich und das Tor begann zu beben, einmal nur, aber es musste in der ganzen Feste zu spüren gewesen sein und nicht lange, da öffnete sich ein Torflügel um wenige Meter und ein Trupp Menschen in langen Kettenhemden und bewaffnet mit Geren und Schwertern trat heraus.

Die großen Menschen waren Abkömmlinge der Dúnedain Rhudaurs und sie besaßen noch immer den Mut ihrer Vorfahren, auch wenn ihre Seelen verdorben waren und sie dem Fürsten von Angmar dienten.
So kannten sie keine Furcht vor dem seltsamen Besucher am Tor, denn ihr Herr war das einzige Wesen, das ehrfurchtgebietend und fürchterlich war, aber sie spürten die Macht, die von dem Fremden ausging und die etwas Vertrautes in sich barg und die sie vorsichtig werden ließ.
Der Fremde wich nicht einen Schritt zurück, als sich die Waffen auf ihn richteten, er beachtete sie nicht, sondern hob an zu sprechen und seine Stimme fuhr den Menschen durch Mark und Bein ...

Der düstere Thronsaal in der Festung von Carn Dûm war kalt und schmucklos und nur durch wenige Fackeln erhellt, deren Licht gedämpft erschien, so als seien sie von einem schwarzen Nebel verhüllt, der ihre Strahlen zu ersticken suchte.
Das Licht war nur für die sterblichen Menschen und ihre armseligen Sinne bestimmt, denn der Fürst dieser unwirtlichen Halle brauchte es nicht und er verabscheute es, so wie er das Licht der Sonne hasste, das seinen Geist zu trüben begann, wenn er sich zu lange ihrem hellen Feuer aussetzte.
Fast lautlos öffnete sich die große Tür der Halle und ein Bediensteter trat ein. Zögernd näherte er sich dem Thron an der Stirnseite des Saales. Leise trat er auf und unterdrückte seinen hastigen Atem, der die Stille stören würde und vielleicht auch seinen Herrn, der da saß - ohne Regung, beinahe wie ein altes Standbild, das vom Ruhm längst vergessener Herrscher zeugte.

Die Kälte der Halle war in der Nähe des finsteren Königs schier unerträglich, sie nahm dem Diener den Atem und ließ Furcht in seine Glieder kriechen. Es war immer so und würde auch niemals anders sein, das wusste der Mensch. Er mochte seinem Herrn dienen solange sein Leben währte, die Furcht blieb auf ewig. Aber daneben gab es auch etwas anderes; etwas, das der Diener nicht zu benennen vermochte. Es zog ihn zu seinem König hin und ließ ihn in absoluter Ergebenheit verharren.
War es die Macht, die sein Herr verkörperte, die die Festung erfüllte und die auch auf die wenigen Bewohner Carn Dûms übergriff und ihnen das Gefühl von Erhabenheit vermittelte? Vielleicht war es auch ein teuflischer Zauber, der alle in seinem Bann gefangen nahm.
Aber was immer es war, es hielt den Bediensteten an seinem Ort und zwang ihn, die Augen zu heben und seinen Herrn zu betrachten, ganz gleich wie viele Schauer ihn dabei überkamen.

Das dunkle Gestein, mit unzähligen Gemmen besetzt, aus dem der Thron des Hexenkönigs von Angmar einstmals bestanden hatte, war schon lange fort. An seiner statt glitzerten nun fahle Gebeine im Licht der Fackeln und Totenschädel mit Augen aus Rubinen umkränzten die hohe Lehne. Der Herr von Angmar saß auf einem Thron aus den Knochen derjenigen, nach deren Vernichtung es ihn seit Jahrhunderten gelüstete - die Dúnedain Arnors!
Oftmals strichen seine dürren Hände in einsamen Stunden über die blanken Gebeinde und er spürte ein Beben in ihnen, so als würde sie seine Berührung quälen und die Seelen der Toten stimmten ein Klagegeheul an, das ihm wie Musik in den Ohren klang.
Der Diener sank auf ein Knie nieder und neigte das Haupt. Aber noch immer sah er vor seinem geistigen Auge die von dunklen Gewändern vollkommen verhüllte Gestalt auf dem Thron. Er war einer glücklichen Fügung dankbar, dass sein Gebieter ihn nicht angeschaut hatte.
"Am ... am Tor ist ein Fremder, der Einlass begehrt, Herr", stieß der Mann hervor, froh, das Zittern seiner Stimme und seinen Gliedern im Zaume zu halten und überhaupt Worte über die Lippen gebracht zu haben, ohne lange zu zögern, wie es häufig der Fall war, denn die Gegenwart seines Fürsten verdunkelte seine Sinne und machte seine Zunge schwer.

Sein schweigsamer und regloser Herr saß auf dem Thron wie versteinert und der Bedienstete machte sich darauf gefasst, lange Zeit in seiner demütigen Haltung zu verharren und zu warten, denn manchmal schien der König von einem Augenblick auf den anderen alles zu vergessen und einer inneren Stimme zu lauschen, die nur er vernehmen konnte.
Aber Aran-dûr, wie sich der Herr von Angmar seit der Zeit nannte, die er über sein nördliches Reich herrschte, beabsichtigte nicht, den zitternden Menschen vor seinem Thron warten zu lassen. Er bewegte sich und das Rascheln seiner schweren Gewänder, so leise es auch war, drang an die Ohren des Mannes.
Der Diener wagte nicht ein zweites Mal den Blick zu erheben; die Worte aus dem Munde seines Herrn waren peinigend genug, aber die Augen, in die er dann sehen würde, in ihrem roten Funkeln, das in der Dunkelheit der Halle umso dämonischer wirkte, zerrten an seiner Seele, als wollten sie sie zerreißen.
Sie waren das Einzige, was alle Sterblichen seit Menschenaltern von ihrem Herrn je zu Gesicht bekamen. Aber keiner fragte danach, warum der König von Angmar sich in alles bedeckende Gewänder hüllte - und keiner wollte es wissen.

Allein die Vorstellung dessen, was grobe Stoffe umschmeichelten und vor den Augen verbargen, ließ die Zaghaften erschauern und die Orks leise reden. Gerüchte machten die Runde und man erzählte sich gar fürchterliche Dinge, aber nichts kam der Wahrheit nahe und Aran-dûr lachte über dieses Gerede, war es doch die beste Tarnung für ihn.
"Es ist gut", hörte der bebende Diener dahingeflüsterte Worte, die klangen wie brechendes Eis. "Führe den Fremden zu mir!"
Der Bedienstete neigte den Kopf noch ein wenig tiefer.
"Sofort, mein Fürst", gab er hastig zur Antwort. Dann erhob er sich so schnell er vermochte und eilte aus der Halle.