Kapitel 6
Ein Wiedersehen

Es dauerte geraume Zeit, bis der Diener wieder erschien und in seiner Begleitung befand sich der merkwürdige Fremde, der mit Nachdruck Einlass begehrt hatte und der nun vor den Herrn der Festung geführt wurde.
Der Bedienstete schritt zögernd voran und lauschte auf das Rascheln schwerer Kleidung, das ihm folgte und ihn überlief ein kalter Schauer. Der Fremde schlich dahin wie eine Katze, obwohl seine Bewegungen seltsam anmuteten - fast so, als habe er lange daniedergelegen und als müssten seine Muskeln und Sehnen erst wieder zu Kräften kommen. Verstohlen warf der Diener einen Blick zurück. Seine Augen nahmen den dunklen Schatten hinter ihm in der Düsternis der Halle kaum wahr und auch wenn er den Fremden deutlich gesehen hätte, wäre sein Antlitz ihm verborgen geblieben, denn der graue Kapuzenmantel überschattete es vortrefflich; so wie seine langen und weiten Ärmel auch die Hände des Fremden bedeckten.
Wer mag das sein?, dachte der Bedienstete bei sich und ein wenig Neugier schlich sich in sein Herz - es war lange Jahre her, dass sich ein Besucher nach Carn Dûm gewagt hatte.

Sein Herr schien diesen Ankömmling mit ein wenig Ungeduld erwartet zu haben, denn als der Diener sich diesmal vor dem Thron auf ein Knie niederließ, funkelten ihn aus der Dunkelheit Augen aus rotem Feuer an, mit einem Ausdruck, den der Diener noch nie in ihnen gesehen hatte und zwangen ihn in ihren Bann.
Der Fremde blieb stehen, er regte sich nicht und wartete. Nur wenig Demut zeigte seine Haltung, wie der Bedienstete mit Verwunderung bemerkte. Fast war es dem Mann, als spüre er unbekannte Kräfte in der Halle, die gegeneinander prallten, sich ausloteten und die sich dann wieder trennten und wie ein eisiger Hauch die Fackeln flackern ließen.
"Geh, und warte!" vernahm der Diener plötzlich die Stimme seines Herrn und er sprang förmlich auf, um dem Befehl nachzukommen und der Gegenwart seines Gebieters und des Fremden zu entrinnen. Er hastete zur Tür und atmete erst wieder auf, als sich die Türflügel hinter ihm geschlossen hatten und er seinen üblichen Platz in dem langen Flur vor dem Thronsaal einnahm, damit er jeder Zeit zur Stelle war.

Der König und der Fremde sahen sich an und die Zeit schien stillzustehen - bis der Fremde sich regte. Langsam neigte er sein Haupt mit Widerwillen, aber er musste anerkennen, dass der Herr von Angmar ihn in allem überragte.
Waren sie vor unzähligen Jahren noch gleichgestellt gewesen, so traten die Unterschiede nun immer deutlicher hervor. Der Fremde war kein Narr und so akzeptierte er diese Tatsache und beugte sich - so wie er es schon einmal getan hatte, als er dem Ruf folgte, der ihn hierher geführt hatte.

"Seid mir gegrüßt nach all der Zeit in der Verdammnis, ... mein Fürst", begann der Fremde und dann wartete er auf ein Wort des Herrn von Angmar oder auf eine winzige Regung der Gestalt auf dem beinernen Thron, die ihn mit rotglühenden Augen musterte.
"Auch du sei mir gegrüßt, ... Khamúl", antwortete Aran-dûr schließlich, während sein Blick über die verborgene Gestalt seines Schicksalsgefährten glitt - suchend und abschätzend.
Aran-dûr gefiel nicht, was er sah, denn er blickte auf seine Zukunft. Khamúls Bewegungen wirkten fahrig und schleppend, so als sei er nicht mehr Herr über seine Glieder und seine Stimme war fast weniger als ein raues Flüstern, so als striche ein lauer Wind durch Herbstlaub.

Aran-dûrs scharfe Augen sahen durch den schweren Mantel und die grauen Gewänder hindurch und ihn überkroch ein Schauer. Khamúls Gestalt war wie aus dichtem Nebel geformt. Sie flackerte und schien zerfließen zu wollen, nur um im letzten Moment wieder eine diffuse Substanz anzunehmen, die einen menschlichen Körper auf fast groteske Weise nachbildete. Auch seine Augen waren rot, aber es war nur ein schwacher Schein, der flackerte wie Khamúls Körper. Das einzig unveränderliche an ihm war der goldene Ring mit dem Saphir, den er an der linken Hand trug.
Das war es, was sie alle einmal sein würden, sie, die der Macht des Einen Ringes unterworfen waren: ein Nichts, anderen zum Schrecken und sich selbst zur Qual - Nazgûl, Úlairi ... Ringgeister!
Auch Aran-dûr war schon seit unzähligen Jahren gezwungen seine Gestalt zu verbergen, aber er war noch nicht ganz geschwunden - nur war sein Körper ein Anblick, der jeden Sterblichen in Grauen stürzen würde. Schwerer wog allerdings, dass Aran-dûr sich vor den Augen der Wissenden schützen musste, sie würden sofort erkennen, wer und vor allem was er war. Aber die Zeit der Enthüllung war noch nicht gekommen. So erschien der Herr von Angmar für alle in einem groben, dunklen und langen Gewand, das alle Glieder bedeckte, und in einem Mantel, dessen Kapuze so groß war, dass niemand ohne Aran-dûrs Willen in sein Gesicht sehen konnte.

Khamúl erlaubte er es jedoch, indem er langsam die schwere Kapuze von seinem Haupt streifte.
"Mein Herr." Jetzt verneigte sich Khamúl tief. "Ich habe Euren Ruf vernommen in den Tiefen meines Grabes und bin an das Licht zurückgekehrt, obwohl es mir wehtut und mich blendet. Nicht umsonst werdet Ihr mich geweckt haben."
Aran-dûr nickte wortlos.
Nach der Großen Schlacht, nach der bitteren Niederlage, die mit dem "Schwinden" ihres Gebieters und dem Verlust des Einen endete, war die Dunkelheit über die Nazgûl hereingebrochen - eine Dunkelheit, die anders war, als die erdrückende Gegenwart Saurons, die sie kannten und die einen ewig ruhenden Pol in ihrer gehetzten Existenz dargestellt hatte. Und dann war da plötzlich nichts mehr gewesen als ein unerträglicher Schmerz, der durch ihre Körper gerast war und der ihre Sinne verwirrt hatte und sie waren auseinandergestoben wie Wolkenfetzen in einem Sturm ...

Wohin wusste niemand zu sagen und viele wähnten die Úlairi vernichtet, so wie sie Sauron vernichtet hofften. Aber dem war nicht so, auch wenn Jahrhunderte verstrichen, bis der erste der Úlairi wieder erwachte, noch immer mit einem mächtigen Ring an der Hand ... und mit einem Willen, der nicht nur durch den Einen bestimmt wurde, auch wenn alles letztlich auf ihn hinauslief.
Aran-dûr konnte die Zeit nicht benennen, die es gedauert hatte, bis sein Bewusstein für Gegenwart und Vergangenheit zurückgekehrt war und er begriffen hatte, das er noch lebte - und dass Er ebenfalls noch existierte ... Er und die Quelle seiner Macht.
"Wir werden stärker und die alten Zeiten werden wiederkehren." Stolz und Zuversicht sprachen aus Aran-dûrs Worten. "Mein Reich ist nur ein glanzloses Abbild dessen, was kommen wird."
"Ja", flüsterte Khamúl und schien sich verstohlen umzusehen, so als hätten die starken Mauern der Festung Ohren um zu hören was gesprochen wurde. "Weil Er stärker wird und wir mit Ihm ... Wir werden Ihm den Weg bereiten."

Aran-dûr erwiderte nichts darauf. Er brauchte keine Worte, und Khamúl erwartete keine Antwort. Denn was er sagte, entsprach der Wahrheit. Saurons Macht war gewaltig von Anbeginn und sie würde ins Unermessliche wachsen, wenn erst einmal der Eine wiedergefunden war. Irgendwann musste das geschehen, mochten die "Weisen" von damals auch behauptet haben, der Ring sei auf immer verloren. Hätten sie Weitsicht besessen, dann wäre der Eine niemals von Isildur davongetragen worden aus dem Land der Schatten. Aber schon immer waren es die Menschen gewesen, die in ihrer Selbstherrlichkeit das Unglück heraufbeschworen hatten und die sich nicht abbringen ließen, die Pfade der Verdammnis zu beschreiten.
Der Ring war ein Teil des Dunklen Herrschers und solange Sauron existierte, würde auch der Ring Bestand haben und Sauron war, solange es den Einen gab ..., und wer sollte Sauron von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und ihn vernichten?
Diejenigen, die es vielleicht gekonnt hätten, waren lange zu Staub geworden oder hatten Mittelerde für immer verlassen. Weder Mensch noch Elb oder Zwerg oder ein anderes Geschöpf konnte Sauron in diesem Zeitalter die Stirn bieten. Und der Dunkle Herrscher wusste dies. Deshalb ließ er sich Zeit, blieb verborgen und unerkannt und lachte über die Arglosigkeit der Welt. Nur eins fehlte ihm noch für seinen endgültigen Triumph: der Eine Ring.
Die entscheidende Frage für Wesen wie Aran-dûr war nicht, ob der Ring gefunden wurde, sondern wann - und von wem.

Mehr als einmal hatte Aran-dûr in ferner Vergangenheit Gedanken gewälzt, die um den Besitz des Einen Ringes kreisten. Er war unendlich begehrenswert und Aran-dûr spürte auch jetzt den Drang nach dem kostbarsten, was er sich vorstellen konnte. Aber dieses Begehren trug auch Abscheu in sich, denn Aran-dûr wusste, dass er ein Sklave des Ringes geworden war - vielleicht mehr noch als ein Diener Saurons!
Der Ring war nichts für ihn oder für irgendwen sonst, er gehörte nur einem Herrn und dieser würde sein Kleinod nicht wieder "verlieren", wenn er es erst einmal aufs Neue in den Händen hielt.
Würde Aran-dûr des Ringes tatsächlich habhaft werden, dann wäre sein erster Weg dorthin wo sein Gebieter weilte - der Ring würde ihn zwingen, ob er wollte oder nicht, weil er zu seinem Besitzer zurückzukehren trachtete, dessen war sich Aran-dûr sicher.
Der Ring war so tückisch und grausam wie sein Herr!

Aran-dûr verbannte beide aus seinen Gedanken so gut es eben möglich war und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Gegenwärtige.
"Du hast recht, Khamúl. Mein Ruf war nicht grundlos, denn ich brauche dich. Lange habe ich euch Brüder gesucht und meinen Geist schweifen lassen, bis ich alle fand. Aber nur du, Khamúl, konntest mich hören und lange musste ich mein ganzes Trachten darin setzen. Deine Macht kehrt wieder, während sie noch ruhen müssen.
Ich kämpfe seit Jahrhunderten gegen die Reiche der Dúnedain in Arnor. Zwei konnte ich unterwerfen in aufreibenden Schlachten und beinahe wäre mir auch ein Palantír in die Hände gefallen. Könige und Edle starben durch meine Klinge und für Menschen und Elben bin ich Bote des Verderbens und des Todes.
Das Heer vor den Toren Carn Dûms ist ein beredetes Zeugnis meiner Macht und meiner Absichten, Khamúl. Bald schon wird es ausziehen und das letzte Königreich der Menschen in Arnor überrennen und die Erben Isildurs werden vergehen und die Erinnerung an sie ausgelöscht!"

"Das Schöne Volk weiß um Euer Streben." Khamúl spuckte die Worte förmlich aus. "Ich sah ihre Kundschafter an Euren Grenzen, immer wachsamen Auges. Sie werden sich gegen Euch stellen. Seien sie verdammt!"
Aran-dûr lächelte.
"Nein, diesmal werden die Elben meine Pläne nicht durchkreuzen, wie sie es getan haben, seit ich Krieg gegen die Dúnedain des Nordens und ihre Reiche führe. Denn sie werden mit sich selbst beschäftigt sein.
Höre, Khamúl! Der größte Teil meiner Streitmacht wird deinem Befehl unterstellt sein. Aber dein Ziel ist nicht Fornost, die Hauptstadt Arthedains. Du wirst gen Lindon und Imladris ziehen. Bedränge die Grenzen und richte Schaden an, wo du nur kannst ... Und die Elben werden sich an deine Fersen heften. Fornost wird so nicht mit ihrer Hilfe rechnen können. Ich werde den Winter beschwören und seinen eisigen Griff verstärken. Der Schnee wird unseren Heeren folgen und Arnor mit einem weißen Leichentuch bedecken.

Es wird nicht noch einmal geschehen, dass Elbenhände mir den Sieg entreißen!"
Oft genug war es so gekommen und Aran-dûr dachte mit wachsendem Zorn an die Unsterblichen, die dem schwächer und kraftloser werdenden Geschlecht der Dúnedain immer wieder zu Hilfe gekommen waren; so als wollten sie das Letzte Bündnis bei jedem Mal aufs Neue schließen.
"Und was ist mit Gondor?" fragte Khamúl lauernd.
Aran-dûr schnaubte verächtlich.

"Vergiss Gondor! König Arvedui von Arthedain war so unklug, den Thron im Süden für sich zu beanspruchen, als König Ondoher und seine Söhne vor drei Jahrzehnten im Kampf auf der Dagorlad fielen. Statt seiner wählten die Hohen Herren Gondors einen der ihren von königlichem Geblüt namens Earnil zum Herrscher. Gondor hat nunmehr wenig Interesse am Schicksal des Nördlichen Königreichs - zumal die Wagenfahrer noch immer eine ernste Bedrohung sind, der sich der Süden erwehren muss. Nein, Khamúl, Fornost und damit Arthedain wird längst mein sein, wenn Hilfe aus Gondor nahen sollte."
Khamúl neigte das Haupt. "So wird es geschehen, Herr", erwiderte er mit seiner wispernden Stimme, die eine boshafte Genugtuung ausdrückte, denn auch er hasste die Dúnedain, die Nachkommen der Númenórer.
"In zwei Tagen wird das Heer bereit sein, Khamúl. Schone niemanden!"

Der König von Angmar erhob sich von seinem Thron. Seine Hände, über die sich totenbleiche Haut spannte, durch die man Adern mit schwarzem Blut pulsieren sah, und Knochen, griffen nach der Kapuze und einen Augenblick später war Aran-dûr wieder ebenso verhüllt wie sein Schicksalsgefährte.
Der König vollführte eine knappe Geste und die Türflügel der Halle öffneten sich mit einem leisen Knarren. Der Diener, der vor dem Thronsaal seines Herrn in dem düsteren Flur gewartet hatte, trat auf Aran-dûrs stummen Befehl hin ein.
Das Gefühl, das ihn immer beschlich, wenn sein Herr sich in seiner Gegenwart befand, war dieses Mal besonders stark und überlagerte alle anderen Emotionen und er musste den Drang, vor den beiden verhüllten Gestalten zu fliehen, zurückhalten. War nicht ein Fürst, in dessen Nähe man erzittern musste, genug? Nun hatte Kälte zu Kälte gefunden und der Diener kämpfte sein aufkeimendes Entsetzen nieder. Kniend wartete der Mann auf die Worte seines Gebieters.
"Lass alle Hauptleute und Heerführer zusammenrufen, um Mitternacht in die Große Halle unter der Festung", sagte Aran-dûr. "Ich werde zu ihnen sprechen. Und dann möge der letzte Feldzug gegen Arthedain beginnen ..."