Durch die Wildnis
Die Gruppe der zwanzig Hobbits unter der Führung Arvenors wanderte die ganze Nacht hindurch unter einem sternenklaren Himmel, der die Hobbits in Ehrfurcht innehalten ließ, wann immer sie die funkelnden Juwelen über sich betrachteten und auch den Menschen zu einem sehnsüchtigen Blick ans Firmament verleiteten.
Das reine Licht, das vom Himmel strahlte, erweckte viele Gefühle bei den wandernden Hobbits und ein jeder wurde hin und hergerissen zwischen zwischen der Freude, die Schönheit Mittelerdes zu sehen und Wehmut, wenn die Gedanken den Weg zurücktrieben, der nun still hinter ihnen lag.
Plötzlich stimmte Datho ein altbekanntes Wanderlied an und es dauerte nicht lange, da gesellten sich andere Stimmen zu seiner und die alte Weise erklang in der kalten Nacht.
Arvenor lauschte und dann lächelte er und ließ die Hobbits singen, solange ihnen der Sinn danach stand.
Als der Morgen graute machte die Gruppe Halt und Arvenor beschloß, für einige Stunden Rast einzulegen. Die Hobbits hielten sich wacker, aber er wollte sie nicht überfordern, denn das würde niemandem etwas nützen und das Kleine Volk hatte schwerer mit den Widrigkeiten des Weges zu kämpfen, als er.
Glücklicherweise konnte er der Spur folgen, die er selbst wenige Tage zuvor im Schnee hinterlassen hatte und so gab es so etwas wie einen schmalen Weg, den sein Pferd durch die weiße Pracht gebahnt hatte und der den Hobbits das Gehen erleichterte.
Wenn die Witterung es zuließ und kein weiterer Schnee fiel, dann würden sie gut vorankommen und Fornost in vier Tagen erreichen.
Arvenor hatte sich von Michelbinge aus nach Nordosten gewandt und strebte nun auf den Baranduin zu. War der Frost auch unerbittlich und grausam, so hatte er auch etwas Gutes, denn der Fluß war zugefroren und konnte überquert werden, wo auch immer man es wollte.
Meilen wurden den Wandernden durch diesen Umstand erpart, lag die einzige Brücke über den Baranduin doch weit im Süden und die Sarnfurt war noch weiter entfernt und eine Fähre - wie in späteren Zeiten - gab es nicht.
Und so wanderten Mensch und Hobbits bei Tag und bei Nacht und die Sonne leuchtete über ihnen und des Nachts die Sterne und Arvenor erzählte Geschichten für die staunenden Halblinge über große Taten aus vergangenen Zeiten.
Hügeliges Land tat sich vor ihnen auf, als sie den Baranduin überquert hatten, das im Sommer von Gräsern und wilden Blumen bewachsen war. Hier und da zeigte sich ein knorriger Baum, zumeist gedrungen und mit kurzen Ästen dem Wind trotzend, der häufig von Osten her über die Wetterberge wehte.
Nur wenig gab es in dem kargen Landstrich zu sehen, durch den die Nord-Süd-Straße führte und auf die Arvenor die Gruppe nun leitete, und noch viel weniger war jetzt zu erblicken, wo der Schnee sich über alles gelegt hatte und nur wenige Spuren kleiner Tiere darauf zu sehen waren und die große Spur, der sie folgten, und tiefe Stille herrschte.
Auch die Hobbits wurden immer schweigsamer. Sie sangen schon lange nicht mehr und sprachen wenig. Oftmals blickte sich einer von ihnen um und warf einen sehnsüchtigen Blick zurück, denn je weiter ihre Füße sie trugen, desto ferner lag das Auenland und desto verlorener fühlten sie sich. Das Land, das sie betreten hatten, war so ganz anders als das liebliche Auenland, das auch im Winter niemals so unwirtlich war, wie dieses hügelige und trostlose Fleckchen Erde, welches selbst im Sommer kaum weniger karg und hart war.
Aber keiner murrte oder klagte, denn die Verpflichtung dem Menschen gegenüber, der sie führte, wog schwerer als alles Heimweh und Ungemach.
So schwiegen sie und wanderten und nichts geschah.
Am dritten Tag aber tat sich vor den verwunderten Augen der Hobbits ein Anblick auf, dessen Bedeutung für sie zunächst im Dunkeln lag.
Eine breite Spur kreuzte ihren Weg, in der aller Schnee verschwunden war und die braune, karge Erde zum Vorschein kam und sie war zertreten von unzähligen Füßen und Hufen und aufgerissen von eisenbeschlagenen Wagenreifen.
Arvenor ließ die Gruppe halten und betrachtete besorgt die Zeichen, die ihm nur zu deutlich erzählten, dass ein Heer sich nach Westen aufgemacht hatte. Doch woher kam es und wo wollte es hin? Und zu wem gehörte es?
Arvenor schirmte die Augen gegen das Licht der tiefstehenden Nachmittagssonne ab und blickte nach Westen. In weiter Ferne konnte er die Spur noch immer sehen, sie war schnurgerade und das gleiche Bild offenbarte sich ihm, wenn er nach Osten schaute.
Vor vielleicht zwei Tagen war eine Streitmacht hier entlanggekommen und als Arvenor sich auf ein Knie niederließ und die unterschiedlichen Spuren sorgsam in Augenschein nahm, sah er nicht nur die Abdrücke von vielen menschlichen Füßen in Stiefeln, sondern auch die tief in den Boden gegrabenen Spuren von klauenbewehrten Orkzehen und dazwischen dann und wann den Umriss einer mächtigen Wolfstatze.
Verwirrt richtete sich Arvenor wieder auf.
Ein solches Heer konnte nur aus Angmar kommen! Doch warum zog es gen Westen? Fornost lag im Norden und nur dies sollte das Ziel des Feindes sein.
Arvenor wusste keine Antwort auf seine Fragen und sein Herz verdunkelte sich vor Sorgen. Der Feind hatte irgendeine List im Sinn und ganz gleich ob er nun nach Westen zog oder schnurstracks nach Norden - er hatte sein Heer in Bewegung gesetzt und holte zum Schlag aus.
Und niemand war da, der den Dúnedain des Nordens zu Hilfe zu eilen vermochte!
Arvenor wandte sich an die Hobbits.
"Wir müssen uns sputen, meine Freunde, denn der Feind ist gekommen, und vermag ich auch nicht zu sagen welche Gedanken ihn umtreiben, so ist doch klar, dass er bald vor den Toren Fornosts stehen wird."
Also nahmen die Gefährten ihren Weg wieder auf und als sie die Spur kreuzten, spürte jeder einzelne von ihnen die Grausamkeit und die finsteren Kräfte, die dem Heer auf dem Fuße folgten.
Die schneebedeckten Höhen in weiter Ferne wiesen ihnen den Weg und dort lag das Ziel der kleinen Gruppe, die wohl viel Aufsehen erregt hätte in normalen Zeiten, wenn sich auf der Nord-Süd-Straße allerlei Volk getummelt hatte - aber dies waren keine normalen Zeiten mehr und so warf nur ab und an eine Krähe ihren scharfen Blick auf die sonderbare Gesellschaft, die sich durch den Schnee kämpfte, und den Vogel kümmerten die Geschicke des Menschen und der Hobbits nicht.
Von Norden und Osten durch die Nördlichen Höhen geschützt, lag Fornost eng an diese Berge geschmiegt. Nach Süden und Westen hin öffnete sich das Land und bei klarem Wetter konnte man die Emyn Uial sehen, die Berge des Abendrots. Und zuweilen vermeinte ein Scharfäugiger die Sonne auf dem Wasser des Nenuial blitzen zu sehen - des Sees des Zwielichts - an dessen Ufer einst die wahre Hauptstadt des Königreiches Arnor gelegen hatte. Mit Wehmut dachten die Menschen nun an die alten Zeiten zurück, die niemals wiederkommen würden und mit Sorgen blickten sie in die Zukunft.
Fornost war nun die Hauptstadt und sie war nur ein Abglanz der Pracht, die Annúminas einstmals hatte erstrahlen lassen. Fornost war nach dem Verfall der alten Stadt von den Dúnedain zum Königssitz erhoben worden und in den Jahrhunderten der Bedrohung durch das Hexenreich Angmar immer mehr zu einer Festung geworden und als die Reiche Rhudaur und Cardolan fielen wurde es die Haupstadt des Letzten Königreiches.
So kam es, dass die Hobbits auf starke hohe Mauern aus hellgrauem Stein blickten, als sie Fornost in der Dämmerung des neuen Tages das erste Mal sahen.
Arvenor führte sie von Süden her auf die Stadt zu, denn nur dort gab es ein gewaltiges Tor und noch nie hatte ein Feind die Schwelle der Stadt übertreten. Freunde - und Verbündete - jedoch waren jederzeit willkommen. Schon in der Ferne vernahmen die Hobbits den Ruf eines Horns, der sich zweimal wiederholte und der weit über die Ebene getrieben wurde. Fremd klang der Laut in ihren Ohren, aber Arvenor lächelte und beschleunigte seine Schritte und sein Pferd wieherte wie zur Antwort.
"Kommt, meine Freunde!" sagte er. "Wir werden erwartet."
