Fornost
Staunend betrachteten die Hobbits die hohen Mauern der Stadt, die immer mächtiger und gewaltiger vor ihnen aufragten, je näher sie Fornost kamen und die uneinnehmbar schienen - wie von Riesenhand erschaffen und nicht durch die Kräfte der Menschen, die viele Jahre geopfert hatten.
Noch bevor die Gruppe das Tor erreichte, tat es sich auf und ein Trupp Reiter auf prächtigen Pferden kam heraus und jagte auf Hobbits und Mensch zu.
Arvenor lachte und breitete die Arme aus, während die Hobbits sich vorsichtig enger zusammenstellten, denn das wilde Gebaren der Menschen erschreckte sie. Die Pferde wieherte und bäumten sich auf und der Schnee wirbelte umher und Waffen und Zaumzeug klirrten, bis ein scharfer Befehl gerufen wurde und es urplötzlich still war. Nur das aufgeregte Schauben der Pferde war noch zu vernehmen.
Ein Reiter in einem dunklen, aber sehr vornehmen Gewand sprang behände von seinem Pferd und ging auf Arvenor zu, um den Dúnadan zu begrüßen.
Die beiden Männer tauschten eine herzliche Umarmung und die Hobbits vernahmen Arvenors Stimme, die in einer Sprache redete, die sie nicht verstehen konnten. Der andere Mann nickte und dann wandte er sich an die Halblinge.
Er war Arvenor sehr ähnlich und so vermuteten die Hobbits, dass die beiden Menschen miteinander verwandt sein mussten. Der Mann musterte die Hobbits mit sehr viel Neugier und auch Erstaunen im Blick, wie es auch die anderen Menschen taten, denn sie alle hatten noch nie einen Halbling vor sich stehen sehen - nur in ihren Erzählungen war manchmal von dem Kleinen Volk die Rede, das friedlich und zurückgezogen lebte und allem Unbill aus dem Wege zu gehen vermochte. Und hier nun standen zwanzig Halblinge in dicken Gewändern, manch einer mit einer Waffe behangen, erschöpft, aber mit nicht wenig Stolz in den dunklen Augen und erwiderten die Musterung.
Der Mann verneigte sich vor den Hobbits und sagte: "Seid uns willkommen, Leute vom Kleinen Volk! Meine Name ist Ervanor, der Bruder Arvenors und Herold des Königs Arvedui. Man hat mich ausgeschickt, euch zu begrüßen und für euer Wohl zu sorgen, und so kommt denn und seid Gäste in unserer Stadt."
Datho, der aufgrund seines früheren Amtes als Bürgermeister ganz selbstverständlich das Wort für die Gruppe führte, trat vor und verneigte sich ebenfalls, denn er wollte nicht weniger höflich sein, als der Mensch und erwiderte: "Wir danken Euch, Herr Ervanor und werden mit Freuden Gäste in Fornost sein."
Ervanor nickte und dann gab er seinen Männern einen Wink und ehe sich die Hobbits versahen, saß ein jeder bei einem Menschen auf dem Pferde und wurde flugs zur Stadt hinein getragen.
Arvenor ergriff Freder und setzte ihn vor sich auf sein Ross. "Lasst Euch überraschen, Freder, denn eine Stadt wie Fornost werdet Ihr nicht noch einmal sehen", sagte er und gab seinem Pferd mit einem kurzen Ruf den Befehl, den anderen in die Stadt zu folgen.
So hielt Freder gespannt die Augen offen, obwohl er sich eigentlich nur noch nach einem weichen Bett sehnte und stellte fest, das Arvenor nicht zuviel versprochen hatte.
Die Menschen hatten das Kunststück vollbracht, Fornost zugleich eine Festung und einen Ort der Schönheit werden zu lassen, an dem man vergessen konnte, dass in Arnor Unheil lauerte und das Böse umging. Die breite und hohe Stadtmauer war von außen unscheinbar und ganz auf ihre Aufgabe ausgerichtet, im Inneren jedoch befanden sich kunstvoll verzierte Wehrgänge und kleine Wachhäuser, die Tag und Nacht besetzt waren. Fünf hohe Türme waren auf die Mauer gebaut und dort hielten scharfe Augen Ausschau in die Richtungen, aus denen Feinde kommen konnten, denn die Bewohner der Stadt ließen in ihrer Wachsamkeit nie nach.
Das Tor aus einem seltsam hellen Eisen alleine war es wert länger betrachtet zu werden, denn auf ihm fanden sich, eingeritzt und mit Silber ausgelegt, viele Szenen aus der Vergangenheit der Dúnedain und Freder erinnerte sich an Arvenors Erzählung wenige Tage zuvor in der Gaststube in Michelbinge und er begriff, wie sehr die Dúnedain mit vergangenen Zeiten verhaftet waren, denn sie begleiteten sie auf Schritt und Tritt, sowohl in ihrer Kunst als auch in ihren Gedanken.
Es gab eine große Straße vom Tor direkt zum Sitz des Königs und von dieser Straße gingen breite gepflasterte Wege ab, an denen die Häuser der Menschen standen. Alle Wege waren vom Schnee befreit und geschäftig eilten die Menschen hin und her und nur wenige warfen einen Blick auf die Reiter - die, die es taten, sahen mit Verwunderung die kleinen Gestalten in den Sätteln vor den Männern der königlichen Leibgarde.
Freder bemerkte zunächst erstaunt, dass alle Gebäude aus Stein waren, nicht ein einziges Holzhaus war darunter, so wie er es erwartet hatte und die Gebäude waren sehr schlicht, aber dennoch von einer eigentümlichen Schönheit. Ihre Dächer leuchteten in der Wintersonne an einigen Stellen, in denen der Schnee herabgerutscht war, in einem tiefen Braun, denn sie waren mit gebrannten Tonpfannen gedeckt.
Freder betrachtete diese großen Gebäude sehr nachdenklich, während er mit Arvenor die Hauptstraße entlang ritt. Der Dúnadan bemerkte den Blick des Hobbits und sagte: "Ihr sehnt Euch nach Euren Höhlen zurück."
Freder nickte. "Wisst Ihr, es ... es ist prachtvoll und überwältigend, aber es ist auch kalt und so fremdartig. Alles aus Stein, wenn es wenigstens etwas Holz gäbe."
Arvenor seufzte. "Holz ist ein kostbares Gut in dieser Gegend, Herr Hobbit, und so dürfen wir es nur für die Dächer als Balken verwenden, wenn wir im Winter nicht erfrieren wollen und Bäcker und Schmiede und alle anderen, die es benötigen, ihrer Arbeit nachgehen sollen.
Aber vielleicht versöhnt Euch der Anblick unserer großen Gärten ein wenig, an denen wir gleich vorbeikommen werden."
"Gärten?" Freder war überrascht. Wie konnte es inmitten von Stein Gärten geben?
Fornost war groß, aber nicht so reich an Menschen, wie seine Größe vermuten ließ, denn die Dúnedain wurden nicht zahlreicher, sondern ihre Zahl verminderte sich mit jedem Krieg, den sie zu führen hatten, denn das Übel aus Angmar wurde nicht geringer.
So konnten die Menschen ihre Stadt verändern, damit sie ihnen in jeder Beziehung gut diente.
Gärten waren angelegt worden, die sowohl schön anzusehen, als auch von Nutzen waren, den zahlreiche Heilkräuter wuchsen in den warmen Monaten darin, Blumen und auch zahlreiches Gemüse und Obstbäume. Kleine Wäldchen lieferten das dringend benötigte Holz und jedes Jahr wurden Schösslinge gepflanzt für die Bäume, die man abholzen musste.
Es gab sogar Felder, die man auf mühevoll angelegten Terrassen bestellte und deren Ertrag für den Winter in großen Kornkammern lagerte und so kam es, dass die Bewohner Fornosts auch im Falle einer Belagerung keinen Hunger und keine Not leiden mussten.
Für die Pferde und anderen Tiere waren im Sommer saftige Weiden da und Felder mit Gras lieferten Heu als Futter für den Winter.
Das Wasser kam aus dem Gebirge und es war klar, kalt und erfrischend und versiegte niemals.
Freder bestaunte Gärten, Wäldchen und Felder, die mit einem Male die Hauptstraße säumten, auch wenn sie kahl waren und mit Schnee bedeckt und sein Herz wurde um einiges leichter, denn das was er sah, war ihm vertraut.
Die Hauptstraße führte stetig eine leichte Anhöhe hinauf und schließlich endete sie auf einem breiten Hügel, der die Stadt überragte und auf dem sich die Halle des Königs befand. Sie war langgezogen und hoch und aus hellen Steinen erbaut, die mit kunstvollen Mustern behauen waren. Eine breite Treppe an der schmalen Westseite führte hinein und die Reiter hielten davor.
Nur Arvenor und sein Bruder begleiteten die Hobbits durch einen langen Gang hinauf zum Thronsaal. Die Hobbits sahen eine große Tür vor sich, aus einem seltsam dunklen Holz gefertigt und mit zwei Flügeln, die nach Innen aufschwangen, als sich die Gruppe ihr näherte. Feine Goldschmiedearbeiten zierten die Tür und das Geschmeide glänzte auf dem beinahe schwarzen Holz umso prächtiger. Besonders Lero nahm der Anblick des geschmiedeten Goldes gefangen. Sein geübtes Auge konnte die Kunstfertigkeit, die hinter der Arbeit steckte, genau ermessen und sie versetzte den jungen Hobbit in Erstaunen. Wenn er nur ein Jahr bei dem Schmied lernen könnte, der dies vollbracht hatte, das waren seine Gedanken, als er mit den anderen durch die Tür schritt und verstohlen streckte er die Hand aus und streichelte im Vorübergehen das kühle Geschmeide.
Die Halle, die sich vor den staunenden Halblingen nun auftat, war wahrhaftig eines Königs würdig. Zehn schlanke steinerne Säulen verliefen zu beiden Seiten der Halle und stützten ein hohes Dach, breite Fenster erlaubten den Blick nach draußen und über die gesamte Stadt hinweg, bis an die Ausläufer des Gebirges und in die Ebene hinein. Das Licht der kalten Wintersonne leuchtete hell auf den weißen Steinen, aus denen der Thronsaal König Arveduis erbaut worden war und so schien es den Hobbits, als gingen sie durch ein Lichtermeer auf den Thron zu, der alles beherrschend an der Stirnseite der Halle stand.
Zehn Stufen führten auf den erhöhten Sitz aus hellem Stein, der mit weichen Kissen ausgelegt war und den ebenso wie die Tür feine Goldschmiedearbeiten schmückten.
Auf dem Thron saß ein Mann in langen dunklen Gewändern, die seine schlanke Gestalt bedeckten und die silbern schimmerten, wann immer er sich bewegte.
König Arvedui war kein junger Mann mehr, aber wie alle Dúnedain hatte er ein langes Leben und die Zeit hatte es gut mit ihm gemeint. Kein Grau war in seinen dunkelbraunen Haaren, die bis auf die Schultern fielen und sein Haupt war von einem silbernen Diadem gekrönt. Dunkelblaue Augen funkelten in einem bartlosen ebenmäßigen Gesicht. Ein goldener Ring steckte an seinem Finger, der ein Wappen in Form zweier Schlangen und eines Kranzes goldener Blumen zeigte.
Neben dem Thron befand sich ein Stuhl aus Gold und Silber mit feinen Decken behangen für die Herrin Fornosts, die dort saß. Frau Fíriel war von strenger Schönheit. Ihr schmales Gesicht war blass, aber ihre Züge waren Ausdruck eines eisernen Willens. Sie trug ein einfaches rotes Gewand und als einzigen Schmuck ließ sie ihre langen schwarzen Haare ungezähmt auf den Boden wallen. Ihre grauen Augen ruhten mit Interesse und Wohlwollen auf den Hobbits und ein feines Lächeln umspielte den Mund der Tochter König Ondohers von Gondor.
Und so kam es, dass zwanzig des Kleinen Volkes den Thronsaal König Arveduis von Arthedain durchwanderten und sie staunten über die Pracht, mit der sich die Menschen umgaben - aber sie fühlten keinen Neid noch Begehren, denn ihr einfaches Leben schien ihnen erstrebenswerter.
Als sie vor dem erhöhten Sitz hielten, knieten Arvenor und Ervanor nieder und die Hobbits taten es ihnen nach.
"Seid mir willkommen, mein Heermeister", sagte der König, und seine Stimme klang freundlich. Arvenor hob den Blick und König Arvedui nickte mit dem Kopf. Die Dúnedain kamen der Aufforderung nach und wenig später standen auch die Hobbits wieder.
Arvedui lächelte. "Auch ihr seid mir mehr als willkommen, Abgesandte des Kleinen Volkes, das sich erinnert hat an die Schwüre seiner Altvorderen, auch wenn ihr nicht so zahlreich seid, wie ich gehofft habe. Aber allein eure Anwesenheit zeigt uns bedrängten Menschen, dass wir immer noch Verbündete haben, seien sie auch noch so ungewöhnlich. Und in Zeiten wie diesen ist jede Hand, die eine Waffe zu führen vermag wichtig."
Arvenor trat vor. Da gab es etwas, was ihm auf dem Herzen lag und als der König von Waffen sprach, bat er darum, das Wort ergreifen zu dürfen.
"Wir haben auf unserem Weg die Spuren eines großen Heeres gesehen, mein Fürst. Es ist nach Westen gezogen. Nur der Feind kann es gewesen sein. Aber ich verstehe sein Handeln nicht!"
König Arvedui nickte. "Ich weiß von diesem Heer, mein Freund. Vorgestern erhielt ich Kunde von den Elben aus Bruchtal - sie haben ihren schnellsten Boten geschickt", Arvedui deutete auf eine kleine Nische in einer der Säulen und dort saß ein schöner Falke, "und sie warnten uns vor der Streitmacht. Aber das ist nicht die einzige Nachricht aus Imladris. Vor den Grenzen der Elben steht ebenfalls ein Heer und wenn der Feind es auch nicht wagt, das Gebiet zu betreten, so ist er doch willens und in der Lage, jeden daran zu hindern, Imladris zu verlassen! Was das andere Heer betrifft ..." Der König verstummte.
Arvenor sah seinen Fürsten an und die tiefe Sorge in den blauen Augen seines Herrn erschreckte ihn. Der Dúnadan brauchte nicht lange nachzudenken, um zu verstehen, was das feindliche Heer nach Westen zog. Auch dort waren Verbündete der Menschen Arthedains - die Elben Lindons, und nun würden sie den Krieg in ihre eigenen Lande getragen bekommen. Weder von Imladris noch von Lindon konnte man nun also Hilfe erwarten!
"Haben die Elben etwas über Ihn zu sagen?" fragte Arvenor zögernd.
König Arvedui lachte bitter. "Glaubt mir, Freund Arvenor. Er wird es sich nicht nehmen lassen, an der Spitze einer weiteren Streitmacht vor unserem Tor zu erscheinen und uns herauszufordern, denn nun wird dem Herrn von Amgmar das möglich sein, was ihm all die Jahrhunderte zuvor verwehrt blieb: ungehindert nach Fornost zu reiten und uns zum Kampf zu zwingen!"
"Da ist immer noch Gondor, mein Fürst", warf Ervanor ein, obwohl seine Worte wenig überzeugend klangen.
"Ja, da ist immer noch Gondor ..." König Arveduis Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und sie verklang in der großen Halle wie ein Windhauch und bedrückende Stille legte sich über alles, bis sich Frau Fíriel regte und mit sanfter Stimme sprach: "Mein König, vergesst Eure Gäste nicht!"
Der Herr von Fornost lächelte plötzlich und liebevoll sah er seine Gemahlin an. "So soll es sein", sagte er. "Auch wenn Sorgen uns drücken und die Zukunft ungewiss ist, darf man seinen Gästen die eigene Bürde nicht auferlegen."
Zu den Hobbits sagte er: "Ich war unhöflich und bitte euch, mir zu verzeihen. Ervanor wird euch in eure Quartiere geleiten und für euer Wohl sorgen. Geht jetzt und findet die verdiente Ruhe."
Als die Hobbits aus der Halle des Königs traten, warteten wiederum die Pferde und Reiter auf sie und wieder wurden sie hochgehoben, um auf hohen Pferderücken zu sitzen, aber diesmal war es schon weniger erschreckend. Und so mancher Hobbit begann im Stillen die Vorzüge eines Pferdes zu preisen, denn nicht wenigen taten nach dem langen Marsch die Füße weh.
"Es wird Zeit, dass wir uns zur Ruhe begeben, wie der König es uns vorgeschlagen hat", ließ Arvenor sich vernehmen. "Der Weg war beschwerlich und wir werden unsere Kräfte wieder brauchen, noch ehe es dreimal Morgen geworden ist, wenn mich nicht alles täuscht."
Die Hobbits nickten. Sie schlossen sich dem Vorschlag des Menschen nur zu gerne an, denn die meisten fühlten sich unendlich müde und auch ihr Gemüt war schwer, denn allmählich begannen sie zu erfassen, was es hieß, Anteil an den Geschicken der Menschen zu haben.
