Der Kampf beginnt
Der nächste Morgen begann mit einem winzigen Lichtschimmer im Südosten, der sich durch eine dichte, weißgraue Wolkendecke drängte, um für wenige Minuten das düstere Zwielicht der Dämmerung zu erhellen.
Das ferne Licht jedoch verblasste so schnell, wie es erschienen war, und der Tag versprach dunkel und wenig ermutigend zu werden.
Die Bewohner Fornosts waren schon lange wach – wenn sie überhaupt geschlafen hatten, angesichts des Heeres draußen auf der Ebene, das die ganze Nacht hindurch nicht zur Ruhe gekommen war. Immer wieder waren die rauen Stimmen der Orks zu hören gewesen, die sich unterhielten und miteinander stritten, das Schärfen von Waffen war zu vernehmen gewesen und das Knarren von großen Rädern, wenn Proviantwagen unter vielen Mühen durch den Schnee an ihre Plätze gezogen worden waren. Es dauerte sehr lange, bis das Heerlager aufgeschlagen worden war und dann hatten unzählige Feuer die Nacht erhellt, in deren Schein Gestalten saßen oder umherhuschten – wachsam beäugt von den Männern auf den Türmen Fornosts.
Auch König Arvedui hatte die Nacht wach verbracht; auf seinem Thron in seiner Halle, die nur durch wenige Fakeln erleuchtet gewesen war. Sinnend hatte er dort Stunde um Stunde gesessen und sich gewünscht, einen Blick in die Zukunft tun zu können – die Zukunft der Dúnedain des Nordens.
Aber er war kein weiser Mann und auch kein Seher und so musste er sich wie alle Menschen damit begnügen, zu warten und dem Schrecken ins Auge zu sehen, der vor den Toren der Stadt lauerte.
Ein wenig Trost brachte die Tatsache, dass das Heer des Feindes zu überblicken war und nicht nur seine bloße Zahl ihm auch den Sieg bringen würde, denn die Dúnedain waren gewaltige Kämpfer in der Not, und einer von ihnen wog zahlreiche Orks auf.
Alles war vorbereitet ...
Noch bevor der Morgen graute, trat Frau Fíriel in den Thronsaal, der kalt war, weil kein Feuer ihn die Nacht über erwärmt hatte. Sie sah im Schein der kleinen Laterne, die sie mit sich trug, heruntergebrannte Fackeln an den mächtigen hellen Säulen, die das Dach der Königshalle stützten. Mit schnellen Schritten trat sie auf den Thron zu und fand dort ihren Gemahl.
König Arvedui hatte den Kopf gesenkt und wie er dort saß, einen dicken Fellmantel um die Schultern geschlungen und gebeugt, da fühlte die Königin tiefes Mitleid – und tiefe Liebe. Einst war ihre Heirat die Besiegelung eines Zweckbündnisses gewesen, das Arnor und Gondor enger miteinander verbinden sollte und als ihr Vater, König Ondoher, und ihre Brüder in der Schlacht mit den Wagenfahrern gefallen waren, da war sie der Trumpf gewesen, den Arvedui hatte ausspielen wollen. Aber die Edlen von Gondor hatten anders entschieden.
Dies war nun lange her und in all den Jahren, die Fíriel die Königin an Arveduis Seite gewesen war, hatte sich zwischen dem Königspaar Zuneigung und Liebe entwickelt und Frau Fíriel war dankbar dafür.
So trat sie leise zu ihrem Gemahl, um den Mantel um seine Schultern zu richten.
König Arvedui hatte ihr Kommen längst bemerkt und als sie ihn nun sanft berührte, da schaute er auf und lächelte.
"Wie immer sorgt Ihr Euch um mich, meine Gebieterin. Und wie immer nehme ich es als selbstverständlich hin. Viel zu wenige Male habe ich Euch gesagt, dass ich Euch liebe und jetzt mag es vielleicht das letzte Mal sein", begann er.
"Sprecht nicht so, Herr", erwiederte Frau Fíriel. "Noch ist Hoffnung und die Dúnedain haben in all den Jahren nicht verlernt, zu kämpfen!"
Arvedui sah seine Frau liebevoll an. Sie war stark an Geist und Körper und mutig wie ein Krieger und dennoch sanft und verständnisvoll. Arvedui würde alles tun, um sie zu beschützen.
Schweigend sah sich das Königspaar lange Zeit an und erst als der kurze Lichtschein aus dem Südosten den Aufgang der Sonne verkündete, rührte sich der König.
"Haltet Euch bereit, meine Gemahlin!" sagte König Arvedui schließlich leise zu Frau Fíriel, als er sich langsam erhob, um die Halle zu verlassen und die Königin nickte stumm. Sie würde vorbereitet sein, was auch immer geschah und eine böse Vorahnung ließ ihr Herz schwer werden.
Der König begab sich auf einen kleinen Turm, der sich an seinen Thronsaal schmiegte und der ein gernbestiegener Ort war, erlaubte er doch einen weiten Blick über die Stadt und das Land. Sommers wie Winters hatte sich Arvedui daran erfreut, nun aber sah er finster und besorgt auf die Ebene vor der Stadt, die im Zwielicht des frühen Morgens lag. Er sah viele Feuer, an denen sich unzählige Gestalten tummelten, er sah Wagen und auch Pferde, die von denen geritten wurden, die einst freie Menschen aus Rhudaur gewesen waren, ehe der Schatten von Angmar auf sie gefallen war. Arvedui schmerzte das Wissen, dass auch Abkömmlinge der Dúnedain unter ihnen waren; dem Feind schon lange erlegen und seine willigen Diener.
Arveduis Augen schweiften umher.
Er hielt Ausschau nach dem Gegner, vor dem sie alle zitterten! Aber so scharf seine Augen auch waren, er sah nirgends das ungewöhnliche schwarze Ross, das alle Pferde überragte, die Arvedui jemals gekannt hatte, und seinen Reiter.
Der Herr von Angmar war verschwunden.
Nachdenklich und besorgt blickte der König weiter.
Nahe am Tor hatte sich eine Reiterschar gesammelt, die stumm auf das wartete, was kommen würde. Arvenor führte sie an und der König wusste, dass die Dúnedain ihrem Heermeister mit Begeisterung folgen würden.
Arvenor selbst jedoch empfand keinen Eifer, seine Mannen aus dem Tor herauszuführen und gegen die Feinde reiten zu lassen. Aber genau das würde er tun. Es war dem König und ihm nicht leicht gefallen, so zu entscheiden, aber nach reiflicher Überlegung waren sie beide zu dem Schluss gekommen, dass es klüger wäre, den Feind nicht bis an die Mauern der Stadt gelangen zu lassen, sondern ihn auf der Ebene aufzureiben und so viel Schaden unter ihm anzurichten, wie möglich war. Angesichts der Größe des gegnerischen Heeres, das weit weniger Krieger zählte, als die Dúnedain erwartet und befürchtet hatten, schien diese Strategie gerechtfertigt. Und noch etwas sprach für sie – die absolute Unvorsichtigkeit des Feindes!
Weder Orks noch Menschen waren wachsam; im Gegenteil, sie waren mit sich selbst und dem Heerlager beschäftigt und nur dann und wann warf einer einen gelangweilten Blick auf die nahe Stadt, deren Bewohner sich ruhig verhielten; ja selbst die Wächter auf der Mauer waren nicht zu sehen.
Am späten Morgen begann es zu schneien und die Wolken hingen tief und drohend vom Himmel, von Verteidigern und Feinden gleichermaßen verwünscht, denn die weiße Pracht war für alle von Nachteil.
Die Dúnedain jedoch ließen sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen – ihre Pferde waren stark und geschickt und auch wenn der Schnee ihnen bis zu den Knien reichte, liefen sie schnell, denn sie waren gezüchtet für schwere Aufgaben.
Arvenor sah sich um. Er blickte in die ernsten Gesichter seiner Männer, die reglos auf ihren Pferden saßen und die ihn anschauten. Einige nickten ihm zu und er fühlte, dass sie alle bereit waren und deshalb gab er den Wachen am Tor ein Zeichen. Die beiden Flügel öffneten sich langsam und lautlos und gaben den Blick auf die Ebene frei. Jetzt kam Leben in die Dúnedain und ihre Rösser, die kaum zu halten waren. Sie schnaubten und warteten aufgeregt darauf, die Zügel freizubekommen und auch ihre Reiter ergriffen ihre Waffen fester.
Arvenor stieß einen Schrei aus und dann drängte er an der Spitze seiner Mannen aus dem Tor heraus. Die Pferde sprangen mit Macht vorwärts, wurden schneller und schneller und der Schnee stob auf und bedeckte Mensch und Tier. Die Reiter jagten auf den Feind zu und überrannten zahlreiche unachtsame Orks und Menschen und dann rasten sie immer weiter hinein in das Lager und der Kriegsruf der Dúnedain war weithin zu vernehmen.
Es dauerte nicht wenig Zeit, bis sich das Heer von Angmar zu sammeln begann und zum Gegenangriff überging. Aber da waren die Dúnedain schon wieder aus seinen Reihen heraus und ließen viele erschlagen zurück.
Der große Reitertrupp formierte sich neu und warf sich den Horden der Orks und Wilden Menschen entgegen, die, einem stummen Befehl folgend, nun auf die Stadt und das Tor zustrebten.
Der Kampf wogte lange hin und her, aber dann kam der Ansturm des Feindes mit einem Male zum Erliegen und schließlich stoppte er ganz. Die Dúnedain gingen mit noch einmal so viel Mut und Kraft in den Kampf und wurden dafür belohnt.
Denn jetzt ließen sich die grausig anzuschauenden Orks, die Wilden Menschen und auch die Warge und andere Kreaturen gar zurückdrängen und vom Wege zum Tor vertreiben.
Es schien fast so, als seien die Krieger des Feindes zaghaft geworden und sie gaben sich Blößen, die die Dúnedain auszunutzen wussten. Und so kam es, dass sie dem Heer aus Angmar nachsetzten, das sich zu zerstreuen begann. Kleine Trupps eilten hierhin und dorthin und zogen die Krieger Fornosts mit sich.
König Arvedui beobachtete von dem Turm seines Palastes aus den Kampf, der diesen Namen eigentlich nicht verdiente und mit Freude sah er, wie erfolgreich seine Mannen dem Feind zusetzten und dann rief er seinen Herold zu sich und verlangte sein Pferd. Er wollte nicht untätig bleiben, während seine Krieger kämpften.
So ritt er auf seinem Rappen hinaus, stolz und mit blitzenden Augen und sein braunes Haar wehte im Wind und begleitet wurde er von den Dúnedain, die sich noch in der Stadt aufgehalten hatten. Nur wenige blieben als Wächter des Tores zurück, das sich hinter dem König wieder schloss. Sie konnten das Tor halten, denn die starken Mauern der Stadt waren gewaltig und unbezwingbar mit den Kräften Sterblicher.
Auch die Hobbits hatten sich dem Fürsten angeschlossen; sie bildeten die Nachhut und waren wahrhaftig das seltsamste Gefolge, das ein König der Menschen jemals besessen hatte.
Arvedui sah die Hobbits mit Wohlwollen, denn er wusste ihre Geste zu schätzen, waren sie doch nun nicht mehr verpflichtet sich ihm und seinen Kriegern gleichzustellen und auf das Schlachtfeld hinauszugehen.
Denn so wie es aussah, waren die geringen Kräfte der Hobbits nicht vonnöten, um Fornost zu halten. Im Stillen war Arvedui über diese Fügung glücklich, denn ihm hatte es ebensowenig behagt wie seinem Heermeister Arvenor und auch vielen anderen Dúnedain, das Kleine Volk in das Schicksal der Menschen hineinzuzwingen und sie dem sicheren Verderben auszusetzen. Aber Verzweiflung schuf seltsame Verbündete und die Dúnedain des Nordens waren verzweifelt gewesen und hatten sich alter Bündnisse erinnert, um dem Untergang zu entgehen
Dieses Los schien ihnen – und auch den Hobbits – nun erspart zu bleiben, denn der Feind zog sich immer weiter zurück.
