Kapitel 11
Eine List

Aran-dûr sah zufrieden, wie sich die Tore Fornosts ein zweites Mal öffneten und eine weitere Schar Reiter ausspuckten. Seine scharfen Augen erblickten ein großes schwarzes Ross an der Spitze der vielen Pferde, mit einem braunhaarigen Reiter, der stolz sein Haupt erhoben hatte und ein zügiges Tempo vorgab.
Arvedui!

Aran-dûrs schmale Lippen verzogen sich zu einem verzerrten Lächeln, als er den König Arthedains betrachtete. Wie eh und je waren die Dúnedain von sich eingenommen und wie schon immer begingen die Menschen in ihrer Siegesgewissheit einen entscheidenden Fehler.
Aran-dûr sprach nur ein Wort der Macht und das Verhängnis nahm seinen Lauf.

Arvenor bemerkte den seltsamen Nebel, der sich mitten auf dem Schlachtfeld zu bilden begann, zuerst und mit Verwunderung sah er, wie sich der weiße Schleier in bizarren Formen wand und waberte und das Auge verwirrte. Aus Verwunderung wurde Entsetzten, als der Dúnadan erkannte, was aus dem Nebel in das düstere Licht des Nachmittags trat.
Ein großes, schwarzes Pferd war es, mit einem Reiter in dunklen Gewändern und dann kamen unzählige Orks und Wilde Menschen; immer mehr wurden es und um sie herum erzitterte die Luft. Eine ganze Streitmacht mit Katapulten und einer Ramme schien aus dem Nichts zu kommen und als der Nebel schließlich verschwand, da sahen sich die Dúnedain der Hauptmacht des Feindes gegenüber.
Arvenor stieß einen Schrei der Enttäuschung aus.

Sie waren genarrt worden! Das Heer von Angmar hatte sich nicht in seiner vollen Stärke vor den Toren Fornosts gezeigt, sondern war vor den Augen aller verborgen gewesen und die Dúnedain hatten sich blenden lassen vom Schein und finsterer Magie und nun wurde ihre Ungestümheit ihnen zum Verhängnis. Während sie Jagd gemacht hatten auf kleine Gruppen, die sie vom Tor fort gelockt hatten, war der wirkliche Feind heimlich und leise gekommen und nun stand er da und konnte triumphieren!
Arvenor sah sich um. Seine Leute hatten sich zerstreut und auch der Trupp des Königs war auseinandergefallen. Sie mussten sich sammeln und zum Tor zurückkehren, und sie mussten versuchen wieder in die Stadt zu gelangen. Nur dort konnten sie sich vielleicht halten.
Vielleicht ...
Mit Schrecken sahen die Dúnedain die zahlreichen Krieger, die plötzlich erschienen waren und die sich auf sie stürzten mit Geschrei, das den Ohren weh tat. Sie wurden umringt, auseinander getrieben und verfolgt und der Feind war unerbittlich.

Das Blatt hatte sich in einem einzigen Augenblick gewendet!
Die Hobbits um Arvedui und seine Mannen fanden sich unversehens inmitten eines Kampfes wieder und nun erfuhren sie, was es hieß, ein Schwert zu führen und seinem Gegner in die Augen zu sehen. Noch niemals war dies von ihnen verlangt worden und der Kampf war ihnen fremd und so nahm es nicht Wunder, dass nicht einmal die Hälfte von ihnen den ersten Ansturm der Feinde überlebte – und die anderen Hobbits wurden mitgerissen, so dass sie schließlich getrennt waren vom Trupp des Königs, der auf seinen Pferden schneller und beweglicher war. Aber das schützte die Dúnedain nicht vor dem Verderben – nur kam es langsamer über sie, die sich zu wehren verstanden und lange Zeit viele Feinde erschlugen.
Die Krieger aus Angmar jedoch waren so zahlreich wie die Schneeflocken, die über das Schlachtfeld tanzten.
Bald war der König von Arthedain allein unter seinen Feinden. Er wehrte sich tapfer und geschickt, aber sein Schwert und sein Schild konnten nicht überall sein.

Arvedui wurde von einer Streitaxt getroffen, die ein Ork mit Geschick und sehr viel Kraft geworfen hatte. Das breite Blatt bohrte sich in die Rüstung des Königs – aber nicht umsonst waren die Schmiede Fornosts berühmt wegen ihrer Arbeiten, denn der prächtige Brustpanzer mit den feinen Ornamenten hielt stand. Die Wucht der Waffe jedoch warf den König aus dem Sattel und ließ ihn schwer zu Boden stürzen und sein Ross tänzelte erschrocken davon.
Arvedui war kein junger Mann mehr und der Sturz nahm ihm den Atem. Langsam und schwerfällig richtete er sich auf und sah sich plötzlich inmitten einer Horde von Feinden. Grobe Gesichter grinsten ihn an und die Orks kamen nun langsam auf ihn zu; sie waren sich ihres Opfers sicher und liebten es, mit den Ängsten der Menschen zu spielen, bevor sie sie erschlugen.
Arvedui zog sein Schwert. Sieben Gegner standen gegen ihn, und seine Getreuen waren auseinander getrieben worden, so dass er ganz allein war. Grimmig sah er jedem Feind ins Gesicht und dann stürzten sie sich auf ihn und er konnte nur noch auf sein Schwert, seine Rüstung und seine Kampfkunst vertrauen.

Und so erschlug er sie alle, bis auf einen – ein gewaltiger Ork war dieser Feind, größer als alle, denen Arvedui sich jemals gegenüber gesehen hatte. Er trug einen schweren ovalen Schild aus lederbespanntem Holz und ein langes Schwert.
Eine hässliche Fratze starrte Arvedui an und er sah in gelbe Augen, die mordlüstern funkelten. Aber der Ork war anders als seine Gefährten, er zögerte und griff nicht blindlings an und umschlich den König, immer nach einer Schwäche des Menschen Ausschau haltend.
Arvedui ließ in seiner Wachsamkeit nicht nach, aber mit der Zeit ermüdete es ihn, jede Bewegung des Orks zu verfolgen, denn der Kampf war nicht spurlos an ihm vorübergegangen, und einen winzigen Augenblick war der Dúnadan unachtsam.

Der Ork sprang plötzlich vorwärts und sein Schild traf den König und warf ihn zurück. Arvedui stolperte rückwärts, der zertrampelte und blutbefleckte Schnee war ein tückischer Boden und der König strauchelte und nur mit Mühe konnte er sich auf den Beinen halten. Der große Ork setzte nach und bedeckte Arvedui mit Schlägen. Der König wehrte viele ab, aber so mancher kraftvolle Hieb traf seine Rüstung und erschütterte seine Glieder, so dass Schmerz seinen Körper durchzuckte. Er musste mehr und mehr zurückweichen. Und als der Ork überraschend seinen Schild warf, wurde Arvedui zu Fall gebracht ...

Freder und Lero fanden sich inmitten von Feinden und Verbündeten und sie wurden einmal hierhin und einmal dorthin getrieben, denn sie mussten sich in der Menge der Kämpfenden immerzu bewegen, um nicht zu Fall zu kommen und von unzähligen Füßen zertrampelt zu werden.
Verzweifelt versuchte Freder seinen Bogen einzusetzen, aber es war sinnlos in diesem Durcheinander von Menschen und Orks, die schreiend aufeinander einhieben und sich gegenseitig die Leiber aufschlitzten. Mit wachsendem Entsetzen watete Freder durch blutigen Schnee, duckte sich vor Schwertern und wich fallenden Körpern aus. Er blieb dicht bei Lero, dem man eine Zwergenstreitaxt gegeben hatte und der damit vortrefflich umzugehen verstand. Seine Kräfte als Schmied kamen ihm auf dem Schlachtfeld sehr gelegen und sie waren es auch, die die beiden Hobbits vor Schaden bewahrten, denn wann immer ein Feind sich auf sie stürzen wollte, war Leros Axt zur Stelle und hieb tiefe Wunden.

Als das Getümmel sich etwas lichtete, schrie Lero Freder zu: "Komm! Wir müssen weg von hier! Zurück zum Tor!"
Freder nickte und schon lief Lero los, so schnell er es vermochte. Freder folgte ihm und im Laufen sah er sich um. Hinter ihnen kämpften Menschen und Orks noch immer verbissen und gnadenlos und überall gab es weitere Scharmützel, die Freder mit Grauen erfüllten. Es hastete hinter Lero her, den Blick starr auf den Rücken seines Freundes gerichtet, weil er nicht sehen wollte, über was er so häufig stolperte, weil er das Geschrei nicht ertragen konnte, das ringsum herrschte ...
Lero war in diesem Augenblick der einzige Halt in Freders Leben, und Freder war unendlich dankbar, dass Lero zu wissen schien, was zu tun war. So war Freder auch völlig überrascht, als sein Freund plötzlich nach links ausscherte und den geraden Weg zum Stadttor verließ. Lero warf die kurze Axt einfach davon, nur um im Laufen ein langes Schwert zu erhaschen, das blutbefleckt im Schnee lag und dann rannte er, so schnell ihn seine Beine trugen.

"Lero, was ...!" rief Freder aufgeregt und dann sah er, was Lero schon vor ihm erblickt hatte: den König von Arthedain, der von einem riesigen Ork bedrängt wurde und stolperte und in den Schnee daniederfiel.
Lero wurde noch einmal schneller, erreichte sein Ziel und mit einem Schrei warf er sich nach vorn und der Ork hatte keine Zeit mehr, sich auf das kleine Wesen einzustellen, das mit Macht auf ihn zustrebte. Der Ork hatte sein Schwert erhoben, um den König zu töten und nun fuhr ihm selbst eine Klinge in den Leib, durchbohrte ihn und ließ seinen Atem stocken.
Mit Augen, die Schmerz und auch Verwunderung ausdrückten, brach er in die Knie, aber er fiel nicht ganz; seine Hand mit dem Schwert – noch zum Hieb erhoben – kam herab und traf ein anderes Ziel ...

Dann sank sein Körper zu Boden und er lag still neben dem kleinen Geschöpf, das ihn besiegt hatte.
"Lero!"
Freders Schrei gellte über das Schlachtfeld. Er war stehengeblieben, weil ihn seine Beine keinen Meter weit mehr tragen wollten. Mit schreckensgeweiteten Augen starrte er auf den Körper seines besten Freundes, den eine hässliche Wunde bedeckte, aus der das Blut sickerte. Lero war in dem Moment gestorben, als das Schwert ihn berührt hatte.
"Nein ...", flüsterte Freder und die Lähmung verließ seine Glieder und dann wandte er sich ab und lief davon.

König Arvedui erhob sich langsam. Mit traurigen Augen sah er dem Hobbit nach. Sein Herz war schwer und Schuld lastete auf seiner Seele. Kein Recht und sei es auch noch so alt, durfte solches Leid hervorbringen. Aber nun war es zu spät, zu bedauern, dass die Halblinge in den Kampf der Menschen hineingezogen worden waren. Und es war nur ein schwacher Trost zu wissen, dass nicht nur die Halblinge dem Untergang geweiht waren.
Arvedui brauchte sich nur umzusehen, um zu erkennen, dass die Schlacht um Fornost verloren war. Der Feind zeigte seine Stärke unerbittlich. Aber er sollte nicht völlig triumphieren!
Arvedui fasste einen Entschluss und als sein treues Ross, das geflohen war, wieder zu ihm zurückkehrte, schwang sich der König in den Sattel und jagte auf die Stadt zu. Die Wachen des Tores erblickten ihn und ihre Pfeile streckten jeden Feind nieder, der in die Nähe ihres Gebieters kam und so konnte Arvedui unbehelligt in die Stadt reiten, deren einer Torfügel hastig geöffnet worden war, und mit Erleichterung hörte er das eiserne Tor sich wieder schließen.

Ohne Halt trieb er sein Pferd an, bis er vor die Halle gelangte, die seinen Thronsaal beherbergte.
Als er ihn betrat, erwartete Frau Fíriel ihn bereits. Sie trug ein schlichtes Reitgewand und einen langen, dicken Mantel, dazu einen schweren Beutel aus Stoff, der einen kostbaren Inhalt hatte: zwei Palantíri.
Der eine stammte aus Annúminas, das lange vergangen war und der andere Stein war derjenige, der vor Jahrhunderten von der Wetterspitze nach Fornost gebracht worden war; im letzten Moment dem Zugriff des Hexenkönigs entzogen. Auch diesmal würde es wieder so sein. Der Feind durfte seine Hand nicht auf diese Kleinode legen!

"Ich bin bereit, mein Herr, wie Ihr es befohlen habt", sagte die Königin leise und Arvedui trat zu ihr, nahm sie in den Arm und küsste sie.
"So müssen wir nun gehen und Fornost verlassen. Wehe uns! Nur wenige werden diesen Tag überleben und die Dúnedain des Nordens werden zerstreut werden in alle Himmelsrichtungen und vergessen. Wehe uns!"
Mit diesen Worten schritten König und Königin aus der Halle und sie blickten sich nicht um. Arvedui nahm Fíriel auf sein Pferd, lenkte das Tier zu den Stallungen am Tor und ließ ein Ross satteln. Schweigend sahen die Dúnedain am Tor das Herrscherpaar kommen.

Ervanor, der den Befehl über die Verteidiger des Tores hatte, trat schließlich hervor. Tief neigte er sein Haupt und wartete.
König Arvedui sprach lange Zeit nicht und als die Worte endlich über seine Lippen kamen, waren sie leise und mit Trauer erfüllt.
"Mein treuer Freund", sagte Arvedui. "Nun ist das Ende gekommen. Ihr habt mir gut gedient, wie alle Dúnedain und nun entlasse ich Euch und sie aus meinen Diensten. Fornost ist verloren. Gebt den Befehl zum Rückzug. Ein jeder soll sich in Sicherheit bringen."

Ervanor schaute auf. "Mein Dienst ist noch nicht vorbei, auch wenn Ihr mich entlassen habt, mein Fürst. Ich werde nicht weichen, und die Stadt bis zum letzten Atemzug verteidigen. Der Feind muss bluten, ehe er seinen Triumph feiern kann. Ihr, mein König, reitet mit Frau Fíriel davon, so schnell die Pferde zu laufen vermögen. Wenn wir bleiben und Fornost halten, so lange wir es vermögen, wird der Feind nicht auf Euch achten."
Zustimmendes Gemurmel erhob sich unter den anwesenden Kriegern und Arvedui sah, dass sie alle sich schon lange entschieden hatten. Und so nahm er Abschied von seinen Getreuen, von denen er niemanden jemals wiedersehen sollte.
Arvedui schlug den Weg nach Norden ein, sein Ziel waren die Lossoth, die Schneemenschen, die im ewigen Winter lebten. Dort würden seine Gemahlin, er und die Palantíri sicher sein und vielleicht meinte es das Schicksal gnädig und die Erben Elendils aus Arnor würden nicht vollkommen ausgelöscht ...