Kapitel 12
Ein Abschied

Freder irrte umher wie ein Blinder und sein Herz war kalt wie Eis und schmerzte dennoch, als stünde es in Feuer. Der Hobbit schleppte seinen Bogen mit sich und hätte ihn mehr als einmal fallen gelassen, wenn er über einen Körper stolperte, dem man nur noch mit Mühe ansehen konnte, ob er ein Mensch oder Ork gewesen war.
Wo sollte er hin?
Vielleicht war es besser, einfach stehen zu bleiben und auf den Tod zu warten.

Und so hielt Freder inne und schloss die Augen.
Ein plötzlicher Ruck holte ihn von den Beinen und dann fühlte er sich von starken Armen ergriffen und hochgehoben. Freder schrie und wehrte sich, als er in einem Sattel landete, und dem Menschen, der ihn gepackt hatte, gelang es nur mit Mühe, den Hobbit auf dem Pferd zu halten.
"Kommt zu Euch, Freder!" schrie der Mann nun seinerseits. "Ich bin es. Arvenor!"

Freders Gegenwehr erstarb sofort, als er die Stimme des Dúnadan vernahm. Vor Erleichterung traten ihm Tränen in die Augen.
"Ihr ... ich", stammelte er, aber die Worte wollten nicht über seine Lippen kommen. Arvenor gab seinem Ross die Zügel frei und das Tier sprang vorwärts. Es war noch ein weiter Weg zur rettenden Mauer und die Feinde sammelten sich dort.

Arvenor sah seinen König und die Königin nahe am Tor, aber er hatte keine Möglichkeit, sich zu dem Herrscherpaar durchzuschlagen und ihm Schutz zu sein, denn Arvedui und Fíriel waren ganz allein und wenig später hatte er sie aus den Augen verloren, weil die Feinde ihn bedrängten.

Wütend hieb Arvenor mit dem Schwert nach jedem Wesen, das sich bewegte. Die Orks, die ihm in den Weg kamen, starben reihenweise und die weiter entfernten Feinde stießen ein wütendes Geschrei aus.
Arvenor trieb sein Pferd an, er hatte einen Arm um Freder gelegt, damit der Hobbit nicht aus dem Sattel stürzte, bei dem tollkühnen Ritt. Das Keuchen des Tieres wurde lauter und qualvoller, mit jedem Schritt, den es tat, denn viele Stunden schon war Arvenors treuer Gefährte für seinen Herrn gelaufen. Arvenors Seele schmerzte beim Anblick seines Rosses, er hätte es gerne geschont, aber der Krieg machte vor keiner Kreatur halt – und er war grausam.
Die Orks begriffen schnell, dass sie dem Menschen nichts anhaben konnten, wenn er auf seinem Pferd saß und so konzentrierten sie ihren Angriffe auf das schutzlose Tier, hieben mit ihren Schwerten und stachen mit ihren Speeren auf es ein, so dass es aus vielen Wunden blutete – aber es lief weiter ... bis sich ein kurzer Pfeil mit einem schwarz gefiederten Schaft mit ungeahnter Wucht in seine Brust bohrte und seinen Lauf stopte.

Das Pferd bäumte sich mit einem schrillen Schmerzensschrei auf und sank dann auf die Hinterhand.
Arvenor ließ Freder los, als sein Ross zusammenbrach. Der Hobbit wurde davon geschleudert und blieb benommen liegen. Die Orks und Wilden Menschen beachteten die kleine Gestalt nicht; sie wollten den großen Krieger, der schon wieder auf den Beinen war und mit erhobenem Schwert wartete.
Mit wütendem Geschrei rannten sie los und drangen auf Arvenor ein. Die ersten Feinde erschlug der Dúnadan mit einer verächtlichen Leichtigkeit, aber dann musste er sich verbissen seiner Haut erwehren. Der gnadenlose Kampf währte lange ...

Schließlich stand niemand mehr – nur eine kleine Gestalt kauerte auf dem Boden, die sich zitternd die Arme um den Leib geschlungen hatte. Freder sah alles um sich herum und er sah doch nichts und lange Zeit rührte er sich nicht. Aber dann drang ein Laut an sein Ohr und gegen seinen Willen erhob sich der Hobbit und taumelte auf das Geräusch zu.
Freder blinzelte sich heftig die Tränen aus den Augen, die brannten und bissen und seine Sicht trübten. Er sah auf Arvenors gebrochenen Körper nieder, der über und über mit Wunden bedeckt war, aus denen rotes Blut auf den zerstampften Boden sickerte. Er lag inmitten eines Haufens gefallener Feinde, die er niedergestreckt hatte, bevor seine Verletzungen ihn danieder zwangen.
Freder ließ sich neben dem Dúnadan auf die Knie fallen. Zaghaft legte der Hobbit dem Menschen eine Hand auf die Brust, die sich nur noch ganz leicht hob und senkte – und schwer ging der Atem des Mannes.
Arvenor öffnete die Augen. Schmerz stand darin, der ein wenig verschwand, als der Mensch den Hobbit erblickte. Er versuchte zu lächeln und zu sprechen, aber Freder konnte die gehauchten Worte nicht verstehen. Hilflos beugte er sich vor und hielt sein Ohr an den Mund des Sterbenden.

"Guter Kampf ... mein Freund ...", vermochte er zu vernehmen und plötzlich richtete sich Arvenor auf und packte Freder. Seine meergrauen Augen bohrten sich in die des Hobbits. "Der König! Arvedui ... Was ist ... mit ihm?"
Freder wusste es nicht. Er hatte Arvedui und Frau Fíriel – genauso wie Arvenor – nur flüchtig gesehen.
Wer konnte in diesem Chaos von Blut und Tod und Geschrei überhaupt noch etwas wissen? Es war entsetzlich und lähmend für den Hobbit. In seinem ganzen bisherigen Leben war Freder niemals der Gewalt begegnet, die von den Großen Leuten ihresgleichen und anderen angetan wurde. Er hatte noch nie in die Gesichter mordlüsternder Orks gesehen, die selbst dann noch ihre Waffen schwangen, wenn sie zu Tode verwundet waren. Es verwirrte ihn und machte ihm Angst und mit einem Mal war eine Leere in ihm, die sich langsam mit Schwärze füllte.

Freder wollte den Kopf schütteln, aber ein Blick in Arvenors Augen ließ ihn plötzlich wissen, was er antworten musste.
"Der König ist in Sicherheit", brachte er hervor. "Ich sah ihn kämpfen und viele Feinde erschlagen auf seinem Weg nach ... Westen und die Königin war bei ihm ..."
Arvenors Griff um Freders Arme lockerte sich. Der Mensch lächelte.

"Ich danke Euch, Herr Hobbit", flüsterte er, "für alles ... Eure Treue und Euren Mut ... und Eure Tapferkeit. Flieht von ... diesem Ort des ... Grauens. Fornost ist ... verloren, aber der ... König lebt ..." Arvenor verstummte und langsam schlossen sich seine Augen.
Freder saß da und sah den Menschen an, dessen Atem versiegte und der die Schwelle des Todes überschritt. Tränen liefen über Freders schmutziges Gesicht, als er mit einem Mal ganz allein war. Die anderen Hobbits waren tot, irgendwo lagen ihre kleinen Körper zwischen Menschen und Orks und Wölfen – allesamt würden sie ein Festmahl für die Krähen sein, die ihre Kreise hoch über dem Schlachtfeld zogen und geduldig warteten, bis sich niemand mehr regen würde.
Freder schluchzte leise.

Auch Lero war tot. Der fröhliche und unbeschwerte Lero, der über sich selbst hinausgewachsen war und den Hobbits alle Ehre gemacht hatte. Nur wozu? Sie alle hatten sich für etwas geopfert, was sie im Grunde ihres Herzens nicht zu begreifen vermochten, denn die Welt der Menschen mit all ihren Ereignissen war nicht die Welt der Hobbits. Sie waren lediglich einer Verpflichtung ihrer Väter nachgekommen und nun hatten sie sich das Auenland redlich erworben – mit ihrem Blut.
Freder erhob sich langsam und schleppend. Um ihn herum ging der Kampf weiter, aber es berührte ihn nicht mehr. Der letzte, den er gekannt hatte, war gegangen, er war allein unter Fremden und Feinden, verloren und hilflos.
Verstohlen und fast wie mit einem eigenen Willen bewegte sich Freders Hand zu der Brosche an seinem Mantel. Das Metall war warm, wie immer wenn Freder es berührt hatte, aber diesmal brachte es keine Bilder hervor, keine Visionen einer uralten Vergangenheit, die ebenso grausam gewesen war, wie die Gegenwart. Nein, Freder spürte mit einem Mal nicht nur die Wärme in seiner Hand, sondern auch in seinem Herzen und die Verzweiflung fiel von ihm ab. Ruhe überkam den Hobbit und neue Kraft. Er würde kämpfen bis zum letzten Atemzug, mochte es auch nicht sein Kampf sein. Es war ein Kampf für alle freien Völker Mittelerdes, das begriff Freder plötzlich und wenn er selbst auch noch so klein und unbedeutend war, er verstand seinen Bogen zu führen. Er brauchte nur noch das geeignete Ziel ...