Eine mutige Entscheidung
Aran-dûr trieb sein Heer an. Seine bloße Anwesenheit ließ die eigenen Truppen und die Feinde mit Entsetzen reagieren und so mancher tapfere Krieger wandte sich ab und floh vor dem verhüllten Wesen auf dem schwarzen Ross.
Diejenigen, die sich dem Reiter stellten, bezahlten ihren Mut mit dem Leben, denn Aran-dûr kannte keine Gnade und verstand sein langes Schwert zu führen. Mit jedem Hieb löschte er ein Leben aus, aber es kümmerte ihn nicht. Die Dúnedain des Nordens waren endgültig dem Untergang geweiht und genau das war es, was Aran-dûr immer angestrebt hatte – ein Feind weniger, der den Dunklen Herrscher zu hindern versuchen würde, die Macht über Mittelerde zu erringen.
Wenn Fornost erst in Aran-dûrs Hand war, dann würde er die Stadt schleifen lassen, so dass kein Stein mehr auf dem anderen blieb und niemand sollte es je wagen, an diesem verfluchten Ort etwas Neues aufzubauen. Nicht lange und Gras wurde zu wuchern beginnen, über Steine und über bleiche Gebeine.
Dies war Aran-dûrs Ziel und nichts und niemand würde ihn davon noch abbringen können.
Er rief einen scharfen Befehl und ließ sein Pferd nach vorne jagen. Die Mauern der Stadt waren nah und der Widerstand wurde immer schwächer. Die Horden der Orks rannten gegen die Festung an und auch die Wilden Menschen schlossen sich ihnen an.
Und in all dem Toben und Sterben stand Freder. Er war so klein und unauffällig in seinem braunen, dicken Wintermantel, dass man ihn schlichtweg übersah und wer doch einen kurzen Blick auf den Hobbit mit dem tränenverschmierten Gesicht warf, der zuckte nur müde die Schultern oder fand es nicht wert, sich mit dem seltsamen kleinen Wesen zu befassen.
So kam es, dass Freder unbehelligt blieb vom Feind und denjenigen, an deren Seite er kämpfte.
Freder sah sich um. Er war durch den Strom der Kämpfenden mitgerissen worden und fand sich nun unversehens in der Nähe des Stadttores, das von einer Handvoll Männer mit Entschlossenheit verteidigt wurde.
Pfeile und heißes Pech kamen auf die Angreifer nieder, aber jeder Ork, der fiel, wurde von zwei neuen ersetzt, so groß war ihre Zahl und so wenig bedeutete der einzelne. Die Orks waren in Raserei verfallen und die Wilden Menschen unter ihnen wurden von Mordlust und Gier angetrieben, denn sie sahen die Schätze der Stadt, die ihnen versprochen worden waren.
Und über allem lag Aran-dûrs böse Macht, die die Kämpfer aus Angmar unerbittlich vorantrieb und die die Verteidiger Fornosts schwächte und Furcht unter sie trug.
Freder wich einem fallenden Ork aus, der mit gespaltenem Schädel in den schmutzigen Schnee stürzte und dann einem Menschen und plötzlich war um ihn herum kein lebendes Wesen mehr auf den Beinen.
Die Mauer der Stadt befand sich zu Freders Linker vielleicht fünfzig Schritte entfernt. Sie war rußgeschwärzt, dort wo Brandgeschosse sie getroffen hatten, und an einigen Stellen stark beschädigt – aber sie hielt stand.
Das war auch dem Feind bewusst geworden, denn er konzentrierte seinen Ansturm nun einzig auf das große Tor, das zweihundert Schritte weit von Freder entfernt war. Dort sah der Hobbit Orks und Menschen, die sich gebärdeten wie von Sinnen. Freder vernahm ein dumpfes Pochen, als die Angreifer versuchten, das Tor einzurennen. Aber es gelang ihnen nicht. Wütendes Geschrei erhob sich, das mit einem Male jäh verstummte.
Freder sah ein großes Pferd heranpreschen, dessen vermummter Reiter das Tier vor dem Tor hart zügelte. Der Hobbit war zwischen Neugier und Angst hin und her gerissen, denn hier nun sah er den Herrn von Angmar, vor dem alle erzitterten und auch Freder spürte die unheilvolle Macht, die von der hochgewachsenen Gestalt auf dem schwarzen Pferd ausging. Aber er konnte seine Augen nicht abwenden und fast wünschte er sich, einen Blick unter die weite Kapuze zu erhaschen, die das Gesicht des Feindes bedeckte.
Die Orks und Wilden Menschen wichen vor ihrem Gebieter zurück. Geduckt wie geprügelte Hunde warteten sie demütig darauf, was ihr Herr tun würde.
Aran-dûr beachtete sie nicht. Sie waren nur Mittel zum Zweck und sie hatten ihn vortrefflich erfüllt – bis zu diesem Moment. Nun war es an ihm selbst, das Ende herbeizuführen!
Der König von Angmar ergriff das lange Schwert an seiner Seite und zog es aus der schmucklosen und unscheinbaren Scheide und dann begann er einen Zauber zu weben. Worte kamen über seine bleichen Lippen, gesprochen in einer Sprache, die nur die Kundigen zu verstehen vermochten; aber solche gab es nur unter den Elben, und nur wenige Menschen konnten ihren Sinn erfassen – keiner von ihnen war nun hier und so lauschten alle anderen, Feinde und Verteidiger, mit Entsetzen der grausamen Sprache von Mordor.
Freder sah den Herrn von Angmar das Schwert ziehen und selbst er vernahm die seltsamen Worten, die, obwohl sie geflüstert wurden, bis an seine Ohren drangen, und mit einem Mal wusste er genau, dass Fornosts Tor fallen würde, denn eine urgewaltige Kraft ballte sich zusammen, die Freder erschauern ließ. Jemand musste den Feind aufhalten.
Aber wer sollte es tun?
Wer konnte es überhaupt tun?
Freder legte mit zitternden Händen seinen Bogen an und spannte ihn unter Aufbietung all seiner Kräfte. Der Pfeil auf der Sehne zitterte im Rhythmus seiner klammen Hände und Freder war sich nicht sicher, ob er sein Ziel jemals treffen würde. Alles in ihm sträubte sich dagegen, den Pfeil fliegen zu lassen, er hatte eine ungebändigte Angst vor dem Wesen auf dem schwarzen Pferd, das allem Anschein nach ein Mensch war, wenn auch verborgen unter einem schweren Kapuzenmantel. Aber die Kälte, die von ihm ausging, hatte nichts Menschliches mehr an sich.
Freder schloss die Augen und stellte sich seinen Feind vor, sah den Pfeil davon schnellen und sein Ziel treffen. Der Hobbit atmete tief durch und ließ die Sehne fahren. Mit einem Zischen schoss der kurze Pfeil voran ...
